27.12.2024 Privatisierung des Öffentlichen
Nicht zu Unrecht wird bei uns über die Bürokratisierung öffentlicher Vorgänge geklagt. Andernorts werden Präsidenten wie Milei in Argentinien oder Trump in USA gewählt, die einen radikalen Abbau öffentlicher Vorschriften und Funktionen versprechen und auch durchführen. Ist das die Lösung? Oder werden damit öffentliche Interessen privaten unterworfen? Ist dem Gemeinwohl damit auf gerechte Weise gedient? Oder war und ist umgekehrt die Bürokratisierung ein Dienst am Gemeinwohl? Oder sind das die falschen Fragestellungen?
Unnützes und ungerechtes staatliches Handeln gibt es ohne Zweifel, es hat in verschiedenen Ländern aber unterschiedliche Gestalt. In Argentinien war staatliches Handeln massiv von der Korruption sich selbst versorgender staatlicher Akteure bestimmt. In gewissem Sinn war dies kein staatliches Handeln, sondern privater Raub an öffentlichem Eigentum. Solches abzubauen war gewiss ein sinnvolles Anliegen der Wähler von Milei. Daraus folgt aber nicht zwangsläufig, dass der nun folgende ersatzlose Abbau staatlicher Aufgaben ein besserer Dienst am Gemeinwohl wäre. In Deutschland ist eine Bürokratisierung vor allem politischen Ideologien geschuldet, deren Träger es bis in Entscheidungspositionen geschafft haben. Das betrifft zum Beispiel eine Klimakatastrophen- und Nachhaltigkeitsideologie, deren gedanklichen Ansatz man gutheißen mag, deren effektive Ausgestaltung aber zum Stillstand wirtschaftlichen Handelns tendieren kann. Ergänzt wird diese Ideologie oft von denselben politischen Akteuren durch einen antinationalen Zentralismus auf EU-Ebene, der sich als unproduktive Kontrollinstanz in alle Lebensbereiche einmischt, siehe der vorherige Zwischenruf 04.12.24 als Beispiel.
Man könnte das einen Übergriff des Staates ins Private nennen. Aber umgekehrt ist es auch eine Privatisierung des Öffentlichen, weil hier Entscheidungsträger mit partikularen Interessen die öffentlichen Institutionen für ihre Zwecke nutzen und damit die Aufgabe des Gemeinwohls beiseite schieben. Ein deutsches Beispiel: Die gewünschte radikale Elektrifizierung von Gebäudeheizung und Verkehr, ergänzt durch die Elektrifizierung der Kommunikation (Digitalisierung, KI) bis hin zum Geldverkehr erfordert eine absehbar kaum verfügbare Menge an „grüner“ Elektrizität, deren Ursache einer einseitigen Weltanschauung („Dekarbonatisierung“ und „Denuklearisierung“ um jeden Preis!), aber nicht einer ganzheitlich gemeinwohlorientierten Sichtweise entspringt. Dieselben Kräfte betreiben eine Zentralisierung möglichst aller öffentlichen Gesetzgebung bis in lokale Ebenen hinein und den Aufbau einer kontrollierenden und damit aufgeblähten Verwaltung, um ihre grenzübergreifenden Ziele besser durchzusetzen. Diese antinationale und damit undemokratische Ideologie verbindet sich mit den Handelsinteressen von Großkonzernen, denen nationale Grenzen schon lange zu eng sind. Aber weder die „Klimaschützer“ noch die Großkonzerne, die sich beide als Zentralisten und Antinationalisten im Geiste einig sind, sind Hüter eines demokratisch bestimmten Gemeinwohls. Sie privatisieren die demokratischen Institutionen für ihre Zwecke und aktivieren wohlklingende Propaganda, um demokratische Legitimation für ihre Ziele zu bekommen.
In den USA übernehmen erfolgreiche Unternehmer nicht erst seit heute unmittelbar politische Ämter und prägen diese in ihrem Sinn. Auch hierzulande wird diese Tendenz immer salonfähiger. Wirtschaftlich Mächtige und ideologisch mächtig Einseitige gehen Hand in Hand wenn es darum geht, jeden Einzelnen gleichermaßen ihren als allgemeingültig erklärten, aber doch nur partikularen Zielen und Maßnahmen zu unterwerfen. Demokratische Prozesse erscheinen dabei als störend; sie werden am besten dadurch unterlaufen, dass jeder Einzelne möglichst laut als selbstbestimmtes Individuum und höchstens sehr leise als Teil einer Solidargemeinschaft angesprochen wird. Vereinzelung tut immer gut – aus Sicht der Herrschenden. Institutionen der öffentlichen Daseinsvorsorge (Bildung, Gesundheit, Verkehr, Kommunikation) werden in diesem Sinne aus einer öffentlichen Verantwortung genommen und entweder direkt privatisiert oder – im Fall der Bildung – von einem verbindlichen Bildungskanon zunehmend „befreit“, da entsprechende Vorschriften ja die individuelle Freiheit von Lehrern und Schülern (!) einschränken würden. Der Staat erklärt sich damit letztlich selbst für inkompetent, bzw. er hält seine gemeinschaftlichen Aufgaben nur insoweit für existenzberechtigt wie sie als profitable Geschäftsmodelle funktionieren. Man fragt sich als Bürger zunehmend, wofür man eigentlich Steuern zahlt. Die Antwort: für eine immer weniger mitarbeitende und immer mehr kontrollierende und dokumentierende öffentliche Verwaltung, die selbst Teile ihrer früheren Verwaltungsaufgaben wegen Überforderung schon längst outgesourct, also privatisiert hat, um selbst höchstens noch kontrollierend und dokumentierend tätig zu sein.
Nur zur Vollständigkeit sei erwähnt, dass auch hierzulande klassische Korruption das „Geschäft“ gelegentlich flankiert.
Die mit diesen Tendenzen einhergehende Geisteshaltung äußert sich auch im privaten Leben als Individualisierung des Gemeinschaftlichen. Ein Vorbote war seinerzeit die antiautoritäre Bewegung, deren Ausläufer zu einer Art Mainstream im Bildungsbereich geworden sind: Erziehung, also wohlwollende Anleitung und Vorbild geben, altersgerechte Grenzen setzen, Einführen in gemeinschaftliches Denken und Handeln, den Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem stets im Auge haben – solche Selbstverständlichkeiten sind für viele (gottlob nicht alle) Menschen suspekt geworden und einer Selbstbestimmungs-Ideologie für Unmündige gewichen. Das vornehmste Kinderrecht, nämlich das Recht auf Erziehung, weicht einer dümmlichen Gleichberechtigungs-Ideologie. Das Ergebnis ist eine um sich greifende Rücksichtslosigkeit, die den öffentlichen Raum mehr als Raum zur eigenen Selbstverwirklichung und weniger als Raum für sinnvolles Handeln in sozialer Verantwortung mit eigenen zu akzeptierenden Regeln anerkennt. Damit tut man übrigens nicht nur der Solidargemeinschaft, sondern auch der eigenen Selbstverwirklichung keinen Gefallen. Als kleines Beispiel darf man an den buchstäblich öffentlichen Raum Straße denken, dessen Regeln mit zunehmender Selbstverständlichkeit missachtet und individuellen Interessen unterworfen werden, obwohl Verkehrsregeln noch vor wenigen Jahrzehnten als Paradebeispiel für den Sinn einer öffentlichen Ordnung galten. Der kritische Leser wird gewiss weitere Beispiele für diese Geisteshaltung finden.
Wenn der Wert des Gemeinwohls auch für jedes individuelle Leben nicht von klein auf gelehrt und gelebt wird, verschwindet das Verständnis für das Wesen der Demokratie. Die Okkupation öffentlicher Angelegenheiten durch mächtige Privatinteressen oder Ideologien wird dann kaum noch als Problem mangelnder Demokratie erkannt, sondern als Aufforderung, selbst bessere Wege zu finden, um Machtanteile zu okkupieren – und als Beweis, dass die institutionelle Pflege von Gemeinschaftsangelegenheiten generell eine nicht ernst zu nehmende Idee von weltfremden Spinnern ist. Gewiss gibt man sich in den hier angesprochenen Kreisen gern sehr verantwortungsbewusst für allerlei Weltverbesserungen. Aber so, dass man selbst mit seiner eigenen scheuklappenbewehrten Lobby-Gruppe bestimmen will, wie die Welt verbessert werden muss. Das demokratische Geduldsspiel ist dabei nicht populär, weshalb Drohungen mit dem kurz bevorstehenden Weltuntergang zum Geschäftsmodell gehören.
04.12.2024 Bürokratie contra Demokratie
Auf einem Weihnachtsmarkt in Norddeutschland hat der Landfrauenverein seit 48 Jahren selbstgebackene Kuchen verkauft und die Erlöse einem gemeinnützigen Zweck zukommen lassen. Damit ist jetzt Schluss, denn die Behörden achten zunehmend darauf, dass die EU-Vorschriften eingehalten werden. „Welche sind das? fragt der Interviewer. Ach viele, antwortet die Vorsitzende. Diese EU-Vorschrift gibt es ja schon seit 2007. Aber aus Gewohnheit hat sich zunächst wenig verändert für uns. Zu Spitzenzeiten haben wir 75 verschiedene Torten verkauft, die in 75 verschiedenen Küchen hergestellt wurden. Und da liegt das Problem. Die Torten müssen in einer zertifizierten Küche hergestellt werden. Die Bäckerinnen müssen ein Gesundheitszeugnis haben, die Verkäuferinnen eine Hygieneschulung. Zu jedem Rezept muss es eine Mappe mit allen Zusatzstoffen oder Allergenen geben… Es gibt ja ganz viele Vereine wie uns, die auf den Weihnachtsmärkten ihre Vereinskasse etwas aufbessern. Der Sportverein, der Speisen anbietet, oder die Konfirmanden, die Waffeln backen. Das trägt doch zum Zusammenhalt einer Gemeinde bei… Meinen Sie, Sie werden im kommenden Jahr wieder Torten anbieten? Wir versuchen es. Bis dahin werden unsere Mitglieder ihre Gesundheitszeugnisse und so weiter haben. Aber wir werden sicher nicht mehr diese Auswahl anbieten können. In diesem Jahr helfen wir uns mit Selbstgebasteltem.“ (Quelle: Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe 04.12.2024, Seite 2)
Gibt es ein „schöneres“ Beispiel für den Widerspruch zwischen bürokratischer Kontrolle durch eine ferne Zentralmacht und dem demokratischen Leben in der eigenen Gemeinde? Wäre die Stadtverwaltung mit ihrem Ordnungsamt nicht durch Stichproben in der Lage, darauf zu achten, dass es auf dem Weihnachtsmarkt nicht gesundheitsschädlicher zugeht als in der benachbarten und unter Obhut derselben Gemeinde stehenden Gastronomie? Sind die Landfrauen, die diesen Kuchen backen, vor Ort nicht seit Jahrzehnten als zuverlässig bekannt? Tja, vor Ort vielleicht schon, aber eben nicht in Brüssel… Dabei muss eine vollständige Liste aller Inhaltsstoffe ja nicht einmal unbedingt einen Schutz gegen irgendetwas bieten. Außer gegen den Einspruch einer fernen Kontrollbehörde.
Diese Reglementierung ist ein Beispiel dafür, dass Subsidiarität bei der politischen Organisation unserer europäischen regelbasierten Ordnung offenbar überhaupt keine Rolle spielt. Denn wenn solche Genehmigungshindernisse für die Details eines provinziellen Weihnachtsmarktes von einer europaweit gültigen Gesetzgebung aufgestellt werden müssen, dann können wir doch wohl alle Legislativen unterhalb der EU-Kommission abschaffen. Das wäre zwar auch eine Art Bürokratie-Abbau, allerdings nicht im Sinne der Demokratie, sondern der Diktatur.
Vielleicht erleben wir ja noch, dass wir demnächst auch unseren Nachbarn nicht mehr zum Kuchen einladen dürfen, wenn wir nicht dem Blockwart vorher unsere Hygienebescheinigungen, Ausbildungszeugnisse und Kücheneinrichtungszertifikate vorgelegt haben.
28.11.2024 Regelbasierte Ordnung? Rote Linien? Völkerrecht!
Zu dem seit einiger Zeit grassierenden Schlagwort einer „regelbasierten Ordnung“ ist in dem Zwischenruf vom 03.05.2024 (siehe unten) das Nötige gesagt worden. Kurz: Es handelt sich buchstäblich um ein Schlagwort, denn es dient dazu, alles aus dem Weg zu schlagen, was sich westlichen Machtinteressen, die gerne als „westliche Wertegemeinschaft“ daherkommen, widersetzt. Die entsprechende Propaganda hat zwar in der Wahrnehmung zu vieler Bürgern bereits Wurzeln geschlagen, findet aber – bei noch zu wenigen – schon eine angemessene Kritik.
Der Vollständigkeit halber müssen in diesem Zusammenhang allerdings auch die „roten Linien“ ins kritische Visier genommen werden, die zum Beispiel der Kreml gezogen hat und zieht, um seinerseits Machtinteressen zu definieren. Die roten Linien des Moskauer Kreml bezogen und beziehen sich durchweg auf innere Angelegenheiten von souveränen Nachbarstaaten. Das war aber kein Hindernis, das Überschreiten dieser Linien zum Anlass für militärische „Sonderaktionen“ zu nehmen, genauer: für einen inzwischen fast dreijährigen Angriffskrieg, bzw. einen zehnjährigen verdeckten Krieg. Und zwar im Nachbarland. Kritiker der „regelbasierten Ordnung“ des Westens messen hier gerne mit zweierlei Maß. Als sogenannte „Putinversteher“, die Putin übrigens gerade nicht verstehen, erkennen sie die roten Linien, die der Kreml anderen vorgeschrieben hat, mehr oder weniger als eine berechtigte Handlungsbasis bis hin zur Kriegsführung an. Gerade so, als würde ein Angreifer zum Verteidiger werden, wenn souveräne Nachbarländer die für sie vom Nachbarn definierten roten Linien überschreiten.
Wie wäre es, wenn beide Seiten sich wieder einmal auf das Völkerrecht als Basis für internationales Handeln besinnen würden? Die Hauptakteure beider Seiten sind schließlich ständige Mitglieder im Sicherheitsrat der UNO. Die östliche Seite zitiert gerne auch die „fünf Prinzipien“ eines Chou En-Lai, in denen von Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Achtung der nationalen Souveränität etc. die Rede ist – sozusagen als regelbasierte Ordnung des Ostens. Schöne Worte. Auch die Grundsätze der UNO kennen weder die willkürlichen und sehr flexiblen Ordnungsregeln, mit denen der Westen seine aggressive Machtpolitik garniert, noch die ebenso völkerrechtswidrigen roten Linien, mit denen der Osten seine Kriegsführung begründet. Wie wäre es also, wenn die Taten beider Seiten den wohlfeilen schönen Worten, bzw. dem allseits akzeptierten Völkerrecht entsprechen würden? Es wäre so, dass kein Krieg zwischen Staaten möglich wäre. Aber leider sind es ja immer die anderen, die einen zur Notwehr zwingen, sodass es immer nur Verteidigungskriege gibt, aber niemals und nirgends Angreifer. Merkwürdig.
18.11.2024 Was tun?
Das ist der Titel eines Romans, geschrieben im Gefängnis und publiziert 1863. Der Sozialrevolutionär Nicolai Tschernyschewski entwirft die Utopie einer neuen Gesellschaft, nein, eines neuen Menschen. Frauen machen sich wirtschaftlich selbständig indem sie gemeinsam ein Unternehmen gründen und von eigener Arbeit leben; ein Mann unterwirft sich körperlicher und geistiger Ertüchtigung, um unter großer Selbstaufopferung den Armen zu mehr Würde zu verhelfen. Dieses Buch hatte einen immensen Einfluss auf Generationen von russischen und anderen Revolutionären.
Lenin publiziert sein berühmtes 1902 geschriebenes Manifest mit Bezug auf den populären Roman unter demselben Titel. Hier wird allerdings nicht der vorbildliche Mensch, das Individuum, als Entwurf für eine bessere Zukunft vorgestellt, sondern die Partei, damals noch die der Sozialdemokratie, aus der später die kommunistische wurde. Was tun? bedeutet hier: die Parteiführer studieren wissenschaftlichen Sozialismus und alle anderen haben den daraus abgeleiteten Anweisungen zu folgen; eine Befehlskette von oben nach unten mit wissenschaftlichem Etikett. Die historischen Beispiele für diese Denkweise sind reichhaltig. Und ernüchternd.
Ignazio Silone, damals noch Kommunist, schildert Anfang der 1930er Jahre in dem Roman Fontamara das arme Leben der Bergbauern, die vom aufkommenden italienischen Faschismus zusätzlich unterdrückt werden. Auch hier gibt es, wie bei Tschernyschewski, einen besitzlosen, aber körperlich kräftigen Protagonisten, auf den seine Landsleute ihre Hoffnungen projizieren. Er wird schließlich von einem Sozialisten zu einem Überzeugungstäter ausgebildet, der für den Erfolg der guten Sache sein Leben opfert. Am Ende können die Bauern dank dieses Opfers eine Zeitung gründen mit dem nicht zufällig gewählten Titel Was tun? – aber wie die Geschichte weitergeht, bleibt bei Silone offen, wohl ein Ausdruck seiner eigenen Zweifel.
Was tun? ist eine immer berechtigte Frage. Geben uns heute die individuellen Helden eines Tschernyschewski oder eines Silone oder gar die Parteidisziplin eines Lenin Antwort? Wohl kaum – obwohl Führung sicher nicht generell negativ ist (siehe dieses Stichwort unter Kernthemen). Und obwohl Unterordnung unter Parteiführungen oder unkritische Projektionen eigener Wünsche auf starke Persönlichkeiten keineswegs ausgestorben sind – und zwar in verschiedenen politischen Lagern.
Die Alternative zu diesen Was-tun-Modellen ist die Besinnung auf demokratisches Handeln – individuell verantwortlich, mutig, frei und gewaltfrei, kooperativ und solidarisch. Eine Führung im positiven Sinn, eine geistige und praktische Ermutigung, bietet immer wieder die Christin aus Palästina Dr. Sumaya Farhat-Naser, die zum Beispiel das große Verbrechen der Hamas am 07.10.23 ebenso beim Namen nennt wie die viel größeren Verbrechen der Zionisten. Ihr Leben böte bei einer anderen inneren Haltung genug Grund, Verständnis für gewalttätigen Widerstand aufzubringen. Aber sie weiß genau, dass damit alles nur schlimmer wird. Auf Generationen hinaus. Menschen sind keine Maschinen, die mal eben Gewalt gegen andere Menschen anwerfen und irgendwann wieder abstellen könnten, als wären dann Probleme aus der Welt geschafft. Vor allem sind dann nämlich Menschen aus der Welt geschafft worden. Und einiges andere auch.
Gute Führung heißt Beispiel geben für den gewaltfreien Weg. Der braucht nicht nur Mut und Intelligenz, Bildung und geistige Spontaneität, sondern auch Vertrauen in die Gewissheit, dass Krieg und Gegenkrieg keine Probleme lösen, sondern sie nur verlängern und verschlimmern. In Palästina und Israel sind es – immerhin – wenige, zum Beispiel auch die Combatants for peace, in der Ukraine und Russland vielleicht noch weniger, die sich diese Haltung zum Vorbild nehmen. Viele desertieren und beteiligen sich so wenigstens nicht am Morden und Zerstören. Das ist gut, aber noch besser wäre: Stehenbleiben und aktiv den Frieden praktizieren, jeden Tag. Das ist es, was zu tun ist.
11.11.2024 Streiten und Einigen II
Nach den USA und drei ostdeutschen Bundesländern steht dieses Thema nun auch deutschlandweit auf der Tagesordnung. Der Bundeskanzler hat den Finanzminister und damit praktisch einen Koalitionspartner entlassen; er hat diesem damit das Heft des Handelns aus der Hand genommen. Denn es war offensichtlich, dass der Finanzminister für seine Partei etwas bessere Wahlchancen sieht, wenn der regierungsinterne Streit nicht bis zum regulären Wahltermin fortgesetzt wird. Und die Alternative „Einigen“ kam offenbar nicht in Frage.
Aber man sollte genau hinschauen und urteilen: Was sind sachlich unüberbrückbare Gegensätze, die eine gemeinsame Arbeit am Gemeinwohl unmöglich machen? Was sind parteipolitische Machtkämpfe, die das Gemeinwohl in den Hintergrund schieben? An dieser Stelle darf man sich einmal an die Geschichten von Don Camillo und Peppone erinnern, die Guareschi seinerzeit liebevoll beschrieben hat und die Fernandel und Gino Cervi im Kino kongenial verkörpert haben. Der Kommunist und der Priester, die beide das gesellschaftliche Leben in ihrem Dorf prägen wollen, keine Gelegenheit zum Streit auslassen – und sich am Ende gegenseitig helfen und vernünftige Kompromisse finden, wenn es wirklich ernst wird.
Gewiss, das sind Märchen, und die Welt des 21. Jahrhunderts ist etwas anderes als ein italienisches Dorf in den 1950er Jahren. Wirklich? Können wir in diesem italienischen Dorf nicht eine Parabel für den generellen Umgang miteinander auf gesellschaftlicher und politischer Ebene sehen? Zweifellos war dies die Botschaft des klugen Autors, auch wenn die Beispiele manchmal etwas an den Haaren herbeigezogen sind. Aber wer will widersprechen, wenn man von einer gewählten Legislative, die ihrerseits eine Exekutive ins Amt setzt, verlangt, dass sie ihre Arbeit am Gemeinwohl tut?
Gewiss, Neuwahlen auszurufen ist demokratisch legitim, wenn man keine Kompromisse findet. Aber kann man ernsthaft erwarten, dass sich danach Wesentliches ändert? Unserem Wahlrecht sei Dank, dass wir nicht nur zwischen zwei politischen Richtungen entscheiden dürfen, von denen die siegreiche (the winner takes it all) für eine Periode quasi diktatorisch handeln kann. Wir haben ein größeres Spektrum, keine absoluten Mehrheiten und damit systematisch eine Pflicht, zwischen verschiedenen politischen Richtungen auch in der Regierung Einigung zu finden. Die Schweiz macht es seit mehr als einem halben Jahrhundert vor, indem sie auf Regierungsebene eine Konkordanz praktiziert – mit gutem wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Erfolg. Die Opposition ist das Volk selbst (bzw. engagierte Teile davon), das über Referendum und Initiative in die Gesetzgebung eingreifen kann, wenn es will. Wann lernen wir endlich einmal aus dieser Erfahrung?
31.10.2024 Streiten und Einigen
Vielleicht ist der Reformationstag ein gutes Datum für dieses Thema. Immerhin war Luthers Thesenanschlag der Ausgangspunkt für eine Kirchenspaltung, die ihrerseits zum Grund oder mindestens zum Vorwand für machtpolitische Streitereien und blutige Kriege wurde.
Aktuell schauen wir auf das Ende eines Wahlkampfes in den USA, aus dem nur einer als Sieger hervorgehen kann. Und wir stehen nach erfolgten Wahlen vor Regierungsbildungen in ostdeutschen Bundesländern, in denen es gerade keinen starken Sieger gab, sondern Koalitionen gebildet werden müssen.
Wer den US-Präsidentschaftswahlkampf gelegentlich zur Kenntnis genommen hat, kann nur staunen, mit welch starken Worten es inhaltlich um fast nichts geht. Das ist kein demokratischer Streit, sondern eine Schlammschlacht, deren Niveau man nicht einmal auf dem Schulhof in einem „sozialen Brennpunkt“ erwarten würde. Das betrifft nicht nur den rüpelhaften Republikaner, sondern auch die apokalyptischen Beschwörungen der Gegenseite. Die Aufregung eskaliert in abstrakten Befürchtungen, während reale Sachauseinandersetzungen kaum stattfinden. Schwangerschaftsabrüche erlauben oder nicht, weniger oder sehr viel weniger Migration, mehr oder weniger Geld für die Ukraine oder umgekehrt für andere Kriege, gewisse Unterschiede in der Wirtschafts- und Sozialpolitik – lohnt das die jeweiligen Weltuntergangsszenarien? Oder geht es gar nicht darum? Von marxistischer Seite (z.B. Werner Rügemer in Nachdenkseiten) wird vermutet, dass hier verschiedene Kapitalfraktionen ihre Bullenkämpfe auf politischer Ebene austragen, denn schließlich existieren in dieser Weltsicht die Menschen ohnehin nur als Charaktermasken ökonomischer Interessen – was bei allem Respekt für kluge Analysen sicher nicht die ganze Wahrheit ist. Fruchtbarer demokratischer Streit geht jedenfalls anders; er setzt ein Mindestmaß an Bildung, an Umgangsformen, an menschlichem Respekt voraus. Ohne das ist auch keine Einigung zu erwarten. Und ohne Einigung kein funktionierendes Gemeinwesen.
In den ostdeutschen Bundesländern scheint es nach den Wahlen inhaltlich vernünftiger zuzugehen. Die neue Partei BSW setzt als „Zünglein an der Waage“ Bedingungen, die sie vor der Wahl formuliert hat und an denen sie festhält. So weit, so gut. Allerdings handelt es sich dabei um bundespolitische Themen, die von Landesregierungen kaum beeinflusst werden können – außer durch symbolische Statements. Trotzdem wird man Zeuge davon, dass eine Bundes-Partei-Vorsitzende Einfluss auf gewählte Landesabgeordnete nimmt, was ihr grundgesetzlich gar nicht zusteht. Immerhin geht es um die Bildung von Koalitionen für Landesregierungen, deren Aufgabe es ist, diesem Bundesland zu dienen, was im Fall von inhaltlich nur symbolischer Kompromisslosigkeit kaum möglich und damit tendenziell verantwortungslos ist. Dieser parteiinterne Konflikt bestätigt einmal mehr die Notwendigkeit, dass Parteien laut Grundgesetz zwar zur politischen Willensbildung beitragen sollen, dass aber gewählte Abgeordnete (das gilt auch für die Landesebene) nicht an Weisungen gebunden sind, sondern nur dem Gemeinwohl (nicht einer Partei, Religionsgemeinschaft, Lobbygruppe etc.) zu dienen haben. Bundestagsabgeordnete zum Beispiel sind ausdrücklich nur ihrem Gewissen unterworfen und das ist auch gut so. Diese Betonung der Persönlichkeit ist zu Recht ein demokratischer Schutz vor Partei- oder anderen Diktaturen.
Demokratie ist nicht einfach Streit als Selbstzweck oder zur Durchsetzung partikularer Interessen. Sondern es ist die Suche nach Interessenausgleich zwischen partikularen Unterschieden. Soweit die Unterschiede sich auf dieselben Themen beziehen sind dafür Kompromisse nötig; ja, manchmal sind Kompromisse auch zu verweigern, wenn die Differenzen Grundsätzliches betreffen. Aber im Sinne der Arbeit am Gemeinwohl muss das die Ausnahme sein.
20.10.2024 Was ist Demokratie?
Dieser Zwischenruf verweist auf den Button „Demokratie im Detail“. Hier beschäftigt sich ein Kapitel mit Möglichkeiten direkterer Demokratie in Deutschland und ein zweites Kapitel mit den unterschiedlichen Demokratieformen verschiedener Nationen. Beide Kapitel enden mit einem Resümee, welches Zusammenfassungen zum Weiterdenken enthält. Vor allem das Kapitel mit der Darstellung verschiedener Nationen wird in Zukunft sicher noch weiter ausgebaut werden.
Wer Kontakt vor allem zu jungen Menschen hat, denen die neutrale politische oder gar historische Bildung in unseren Schulen heute nicht ausreicht, kann hier gerne Anregungen aufnehmen.
05.10.2024 Demokratie braucht Regeln – aber welche?
Gerne wird heute in Frage gestellt, ob politisch Andersdenkende oder -handelnde Bestandteil der demokratischen Kultur sind. Dafür mag es im Einzelfall Gründe geben. Wenn man genauer nachfragt, wo die Grenze zwischen demokratisch und undemokratisch verläuft, bekommt man oft plakative Aussagen zu hören, die letztlich nur wiederholen, dass der politische Gegner außerhalb der Demokratie stehe. Das trägt aber kaum zur Klärung bei. Ein Blick auf verschiedene Demokratien (?) könnte zu mehr Bescheidenheit und vielleicht auch zu sachlichen Klärungen beitragen.
Verschiedene Nationen haben sehr verschiedene Formen von Demokratie „erfunden“, von denen sicher nicht nur eine als die einzig wahre gelten kann. Dieser Zwischenruf ist ein Verweis auf einen neuen Eintrag unter dem Button „Demokratie im Detail“ – auf das Kapitel „Demokratische Vielfalt“. Dort werden verschiedene Demokratien nach einem gleichen Schema vorgestellt, beginnend immer mit dem Satz: „Das Volk wählt…“, nämlich nicht immer dasselbe und nicht immer auf dieselbe Art. Siehe dazu: Dänemark, Deutschland, EU (?), Frankreich, Italien, Spanien, Schweiz, UK, USA.
Daraus ergeben sich manche Fragen und Erkenntnisse, zu denen Antworten zu diskutieren sind.
Wie ist die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative organisiert: lassen sich wechselseitige Abhängigkeiten weitgehend vermeiden?
Wie ist die Gleichheit jeder Bürgerstimme realisiert: darf es in Teilbezirken zu einer übergeordneten Wahl unterschiedliche Wahlsysteme geben?
Wie ist die Subsidiarität von Entscheidungen realisiert: gibt es (unnötig?) starke Zentralentscheidungen oder gibt es (ausreichend?) föderale und dezentrale Strukturen? Wie selbständig (institutionell und finanziell) können welche Ebenen ihre Angelegenheiten regeln?
Wie lassen sich in einem Wahlsystem Persönlichkeitswahl und Verhältniswahl so vereinbaren, dass nicht erhebliche Mengen von Bürgerstimmen praktisch im Papierkorb landen?
Welche Entscheidungskompetenz haben gewählte Abgeordnete? und welche hat die Exekutive? In welchem Ausmaß können direkte Volksentscheidungen korrigierend oder eigeninitiativ eingreifen?
Sind existenzielle Fragen wie Militäreinsätze /Kriegsbeteiligungen nur einem kleinen Gremium oder allen betroffenen Bürgern anvertraut?
…um nur einige wichtige Fragen zu benennen; gewiss gibt es noch weitere.
Die Verfassungswirklichkeit wird im Kapitel „Demokratische Vielfalt“ bewusst nicht beleuchtet, obwohl sie natürlich wichtig ist: es gibt mächtige (demokratieferne) Lobbygruppen, die heute manchmal ungenau und missverständlich als „tiefer Staat“ bezeichnet werden (siehe Zwischenruf 14.04.2023); es gibt (demokratieferne) Ideologien der handelnden Personen, die nicht zu unterschätzen sind; es gibt aktive Bösartigkeiten bei den einen, verantwortungslose Passivität bei anderen und vieles mehr, was in einer idealen Demokratie fehl am Platze wäre. Verfassungswirklichkeit hängt immer auch von der Aktivität der Bürger ab. Und diese hängt nicht nur von historischen Traditionen und psychologischen Befindlichkeiten ab, sondern auch davon, wie demokratische Institutionen die Bürger berechtigen und ermutigen, am Interessenausgleich und Gemeinwohl zu arbeiten.
In diesem Sinn kann der Blick auf die Institutionen hilfreiche Erkenntnisse liefern. Also: Demokratische Vielfalt bitte unter dem Button „Demokratie im Detail“ genauer betrachten! Und dann eigene Schlüsse daraus ziehen.
02.10.2024 Wer stoppt die Eskalation?
Der Krieg in Nah- und Mittelost eskaliert. Jahrzehntelange Unterdrückungen, Angriffe, Gegenangriffe, Hass und Gewalt, wofür alle Seiten nachvollziehbare Gründe benennen können, erreichen eine Qualität, die nach Weltkrieg riecht, den die Weltmächte allerdings wohl nicht anstreben; Antreiber sind eher ihre Vasallen oder Verbündeten. Dagegen erscheint der Krieg, den Russland in der Ukraine führt, inzwischen nur wie ein begrenzter lokaler und jedenfalls harmloserer Konflikt – wie Michael Lüders richtig anmerkte. Der Leser möge diese zynische Einschätzung verzeihen.
Für die Zerstörungen in Nahost tragen alle Seiten, die hier politische und militärische Entscheidungen getroffen haben, Verantwortung: Israel, Hamas, Hisbollah, Teheran… Beide Seiten sprechen der anderen letztlich das Existenzrecht auf demselben Territorium ab. Wer hier immer noch Vorgeschichten erzählt, um mit der größeren Schuld des einen die kleinere Schuld des anderen zu verzeihen, hat nichts verstanden. Glaubt jemand im Ernst, das Massaker vom 07.10.23 war eine Hilfe für die Befreiung der Palästinenser? Es war die beste Hilfe, die Hamas für Netanjahu leisten konnte. Es war die Einladung zur Endlösung der Palästinafrage. Gewalt und Massenmord sind nicht der Weg zu Frieden und Gerechtigkeit. Auch wenn Israel als der jahrzehntelang Stärkere zweifellos der aktivere Gewalttäter war und das gerade heute auch ist: Frieden und Gerechtigkeit gibt es nur, wenn beide Seiten die Waffen niederlegen. Aber beide Seiten sind weit davon entfernt.
Unsere Verantwortung, da der Schutz Israels laut einigen Politikern zu unserer eigenen Staatsräson zählt, ist es, alles zu unterbinden, in Wort und Tat, was Angriff und Unterdrückung erlaubt. Das ist die Lehre, die WIR aus unserer Geschichte ziehen müssen. Jeder weitere Schlag erzeugt mit tödlicher Sicherheit den nächsten Gegenschlag. Unsere Antisemitismusbeauftragten sollten sich übrigens einmal vergegenwärtigen, dass auch die Palästinenser und Araber Semiten sind…
20.09.2024 Wo sind die jungen Europäer?
Als sich in den 1980er Jahren eine pazifistisch gesinnte Anti-US-Bewegung formierte, hörte man aus diesen Kreisen gelegentlich die selbstbewusste Parole „Ich bin ein alter Europäer!“. Denn ein US-Minister hatte versucht, die Teilnehmer dieser Bewegung mit der Bezeichnung Alte Europäer in Misskredit gegenüber den „modernen“ Amerikanern zu bringen. US-kritische Bewegungen sind seither in Europa stärker geworden – aus verschiedenen Gründen sicherlich zu Recht. Aber positionieren wir uns heute noch selbstbewusst als alte Europäer?
Große Teile der US- und manchmal auch EU-kritischen Bewegungen verorten sich heute selbst politisch manchmal rechts, manchmal links, und orientieren sich zunehmend an den aufstrebenden Weltmächten, die sich in und um BRICS locker organisieren. Ja, globale Machtzentren verschieben sich, auch wenn die USA immer noch mit Abstand die größte Militärmacht sind. Am (zunächst) wirtschaftlichen und finanziellen Aufstieg einer VR China ist nicht zu zweifeln, allmählich wird (schon aus demografischen Gründen) Indien nachziehen. Zusammen mit den Verbündeten Russland, Brasilien, Iran und anderen Ländern des „globalen Südens“ bildet sich ein Gegenpol zu USA und EU, auch wenn die aufstrebenden Länder durchaus keine Einheit bilden und untereinander auch konkurrieren, bzw. jeweils eigene Interessen vertreten.
Müssen wir diese aufstrebenden Mächte als Bezugspunkt für eine bessere Zukunft begrüßen? Teile einer sich als zukunftsbewusst verstehenden Öffentlichkeit tun das, bzw. informieren weitgehend kritiklos über die Aktivitäten und Verlautbarungen von diesen Seiten. Doch keines der genannten Länder vermag – vorsichtig formuliert – als demokratisches Vorbild zu überzeugen. Sie werden von mehr oder weniger festgefügten politischen Machtzentren beherrscht, von denen manche zwar volkswirtschaftliche Erfolge und internationale Konkurrenzfähigkeit aufweisen können, dies aber meist auf Kosten großer sozialer Ungleichheit und/oder politischer Unfreiheit, oft verbunden mit massiver Korruption. In Sachen Friedfertigkeit ist bei diesen aufstrebenden Mächten die Liste der geführten Kriege zwar nicht annähernd so lang wie bei der noch nicht abgetretenen Weltmacht USA. Aber der vom Kreml in der Ukraine geführte völkerrechtswidrige Krieg wurde vom Kreml ausdrücklich auch als Auftakt zur Schaffung einer neuen Weltordnung charakterisiert. Also Krieg auch hier als Mittel der Politik. Pazifistische Aktivitäten sind den Vertretern dieser neuen „multipolaren“ Weltordnung eher fremd. China rüstet rapide auf und kündigt zunehmend seinen Anspruch auf Taiwan an, ein Land, das nie zur Volksrepublik und kaum je zum alten China gehört hat (siehe Zwischenruf 20.04.2023). Strategische Machtpolitik mit militärischer Aktivität greift auch hier um sich..
In vielen dieser Länder ist die Todesstrafe selbstverständlich. Der Ausbau der „Belt and Road Initiative“ Chinas hat bereits zu großen chinesischen Landnahmen z.B. in Afrika und zu massiven Verschuldungen anderer Länder vor allem in Asien geführt. Müssen unsere Hoffnungen für eine bessere Welt auf solche Akteure projiziert werden? Manche der heutigen USA-Kritiker beschäftigen sich gerne und ausführlich mit den schönen Reden osteuropäischer und asiatischer Politiker. Haben sie vergessen, dass Taten mehr zählen als Worte? Sollten wir unsere humanen Aufgaben für eine menschlichere Welt nicht mit kritischerem Abstand zu alten UND zu neuen Machthabern definieren? Ja, in manchen Reden und Taten maßgeblicher östlicher Politiker kann man einen Widerstand gegen den Verfall und die mutwillige Zerstörung alter europäische Werte erkennen, die bei uns stattfinden, gegen eine abstruse Genderbewegung, für den Erhalt der Familie etc. Auch auf diesem Feld geht die Betonung guter alter Werte durch den aufstrebenden „Süden“ allerdings oft mit starken Menschenrechtsverletzungen einher. Sind wir auf solche Vorbilder angewiesen?
Die US- und EU-Machteliten sind nicht unsere Freunde, die BRICS-(plus)-Machteliten sind es auch nicht. Demokratie und Menschenrechte leben von unten; von oben ist es meist nicht mehr als Propaganda, egal aus welcher (politischen) Himmelsrichtung. Wo sind die jungen Europäer, die sich souverän auf die guten Teile unserer eigenen europäischen demokratischen Kulturgeschichte besinnen und diese in die Zukunft und unter die Menschen tragen, vorbei an alten und neuen Machteliten?
03.09.2024 Welcher Zweck heiligt welche Mittel?
Jeder von uns kennt wohl Situationen der Trauer um einen Menschen. Vielleicht hat man einen geliebten Menschen sogar schon einmal beim Sterben begleitet. Solche Erlebnisse vermitteln eine Vorstellung vom Wert des Lebens. Sie vermitteln auch eine Vorstellung von der Unbegreiflichkeit des Todes, die wir trotz unseres Wissens um die Vergänglichkeit empfinden. Denn mit jedem Menschen verschwindet eine ganze Welt. So lernen wir das Leben zu schätzen, empören uns über Gewalt unter den Menschen und sind uns sicher in der Nicht-Akzeptanz von menschengemachten Totschlägen.
Und doch sind wir am nächsten Tag nicht mehr ganz so sicher, wenn wir in der Zeitung von Kriegen lesen; Kriegen, in deren Verlauf es meist nicht um die existenzielle Notwehr eines oder mehrerer Menschenleben geht, sondern um machtpolitische Stellungen, Gebietsgewinne, ja, oft genug auch um Freiheitsberaubung einer schwächeren Menschengruppe oder Befehlsgewalt über sie und ihr Land. Dann positionieren wir uns gern zugunsten der Schwächeren, der Angegriffenen, bzw. wen wir dafür halten, das ist doch klar! Allerdings ist diese Definition heute leider nicht mehr so klar: denn eindeutige Eroberungskriege wie einst in Amerika und Afrika oder seitens der Nazis gibt es heute bekanntlich nicht mehr, während Selbstverteidigung von jeder der beteiligten Seiten für sich reklamiert wird. Aber da jeder von uns über Weltanschauungen und dazu passende Informationen verfügt, positioniert er sein Verständnis geistig oder verbal oder sogar tatkräftig, auf der einen oder anderen Seite, und spricht dieser das Recht zur Selbstverteidigung zu. Und da Krieg nun mal Kampf und menschengemachter Totschlag ist, gehört auch das leider dazu.
Und schon haben wir einen Widerspruch zwischen den ersten beiden Abschnitten dieses Textes. Praktisch für seine Lösung ist es, dass die Toten und die sonstigen Zerstörungen im Krieg für uns als Betrachter, die wir von zu Hause aus Position beziehen, ziemlich weit weg und meist nur als Nachricht, aber nicht als Erlebnis zu erfahren sind. So fällt es leichter, Kriegsziele gegen Menschenleben abzuwägen – was desto eher für die Kriegsziele ausschlägt je geringer die eigene Vorstellungskraft ausgeprägt ist, auch wenn sie mit Fernseh- oder Youtube-Bildern illustriert wird. Auch wenn man sich in seiner Identität intensiv mit einer bestimmten Gemeinschaft verbunden fühlt, fällt die Parteinahme für eine Seite meist leichter. Unsere Phantasie als Korrektiv zur Wahrnehmung ist meist groß genug, um alles Übel, welches sich ja nicht übersehen lässt, der jeweils anderen Seite ursächlich zuzuordnen.
Das ist eine Kehrseite von guter menschlicher Gemeinschaftlichkeit und kreativer Intelligenz: Dazugehören wollen, Mitmachen, wenigstens im Geiste, und die nicht schweigen wollenden Bedenken durch Argumente besänftigen. Das funktioniert im Fall von mehr oder weniger politisch motivierten Kriegen aber nur solange wie man den elenden Tod außer Sichtweite halten kann. Nicht jedes angerichtete Elend lässt sich mit Argumenten überdecken. Trotzdem gilt, soviel intellektuelle Redlichkeit muss sein: wenn das Mittel Gewalt zum Zweck für „das Gute“ in Betracht gezogen wird, kann der Mensch zum Mörder werden, zumindest im Geiste. Wer das vermeiden will, muss Intelligenz und Mut bedingungslos für zivile Verteidigung einsetzen – wo es denn überhaupt um echte Verteidigung und nicht um Machtpolitik geht.
19.08.2024 Perfekte Sinnlosigkeit
Die Olympischen Spiele in Paris verdienen einen Rückblick, weniger wegen des sportlichen Ereignisses, sondern wegen des Rahmenprogramms: Die Eröffnungsfeier, die Abschlussfeier. Zunächst muss Respekt für die technische Organisation geäußert werden. Bei der Eröffnungsfeier wurde die Stadt Paris zum Veranstaltungsort für tausende Teilnehmer, für Prozessionen zu Wasser und zu Land und in der Luft, ungestört vom sonstigen Treiben einer Metropole und als Live-Event übertragen von tausenden Kameras in alle Welt, gesteuert von einer Regie, die alles wie einen geplanten Film ablaufen ließ. Und das alles ohne Generalprobe, denn die Stadt war ja nur für diese eine Veranstaltung gesperrt. Ähnlich perfekt inszeniert die Abschlussfeier, zwar nur im Stadion, aber auch hier mit technischen und menschlichen akrobatischen Meisterleistungen, die so an Ort und Stelle nicht geprobt werden konnten und die mit einer bewundernswerten Filmregie live übertragen wurden. Respekt für das Wie!
Und Was wurde uns gezeigt? Bei der Eröffnung hätte man dem Defilee der Sportler aus vielen Nationen auf der Seine eine schöne Aussage abgewinnen können – wenn nicht die französische Mannschaft als Höhepunkt hervorgehoben worden wäre. Olympischer Geist hätte genau das vermieden. Im Übrigen war es ein Spektakel, teils mit weiterer französischer Selbstdarstellung, teils mit zeitgeistigen Geschmacklosigkeiten, die öffentlich bereits ausreichend kritisiert wurden. Wir wollen das hier nicht durch weitere Kommentare mit unnötiger Aufmerksamkeit adeln. Die Abschlussfeier hat das dann mit Dummheiten zu toppen versucht. Es sollte wohl eine Geschichte erzählt werden, die den Bogen spannt von den antiken olympischen Spielen zu den modernen in Paris und demnächst in Los Angeles. Dazu mussten ein Deus ex machina und moderne Ballett-Akrobaten in Fantasy-Kostümen herhalten; die Erinnerung an das antike Griechenland wurde durch eine Nationalfahne dargestellt, die mit dieser Bedeutung kaum 50 Jahre alt ist; es wurden fünf olympische Ringe aus der Vergangenheit ausgegraben, obwohl in der griechischen Antike nur die Ränder von drei Kontinenten ansatzweise bekannt waren. Und so weiter. Schweigen wir lieber.
Bemerkenswert ist dieses Ereignis aber deswegen, weil es leider etwas sehr Zeittypisches demonstriert: technische Perfektion mit inhaltlichem Unsinn. In diesem Sinne sollten wir es als Aufforderung verstehen, die Volksbildung zu intensivieren. Eine sportliche Aufgabe…
06.08.2024 Wahlrechtsreform 2024
Die aktuelle Wahlrechtsreform ist soeben vom Bundesverfassungsgericht teils bestätigt, teils abgelehnt worden. Bestätigt wurde die Begrenzung auf maximal 630 Abgeordnetensitze bei gleichzeitiger Sitzaufteilung gemäß dem Zweitstimmenergebnis (Parteienverhältnis), ggf. zulasten von Erststimmenergebnissen, auch wenn damit persönliche Wahlkreissieger leer ausgehen! Nicht bestätigt wurde eine strikte Anwendung der 5%-Klausel, was so nicht verfassungskonform sei; die Vertretung von Parteien, die bundesweit weniger als 5 % erreichen, muss gemäß Urteil also auch weiterhin erhalten bleiben, sofern eine Partei 3 Direktmandate erringt. Regierung und Bundestagsmehrheit wollen dieses Wahlrecht nun bei der nächsten Bundestagswahl so anwenden.
Zu diesem Thema gab es auf dieser Website bereits Zwischenrufe im März/April 2023. Anlass zu der Reform war ja die Absicht, die angewachsene Zahl der Abgeordneten wieder zu begrenzen, da es eigentlich nur 2 x 299 Abgeordnete geben sollte, d.h. zweimal soviel wie es Wahlkreise gibt. Dies deshalb, damit Persönlichkeitswahl (Erststimme /Mehrheitswahl) und Parteienwahl (Zweitstimme /Verhältniswahl) beide berücksichtigt werden können.
Aber ist es erforderlich, die Persönlichkeitswahl zu beschneiden, um Gerechtigkeit herzustellen? Oder umgekehrt die Verhältniswahl zu relativieren, um gewählten Personen ihr Recht zu lassen? Nein, das ist es beides nicht. In der Diskussion völlig vergessen und nicht thematisiert ist die Tatsache, dass die Bundestagswahl bisher und nun auch in Zukunft mit Landesinteressen belastet ist, bzw. mit Interessen der Landesparteien. Denn die Zweitstimmen werden für die Parteien landesweit, nicht bundesweit ausgezählt und ausgeglichen. Damit werden zwar die Landesverbände der Parteien gewürdigt und bevorteilt – aber eben auch das Anwachsen der Ausgleichsmandate erzeugt. Warum? Es handelt sich doch um eine Bundeswahl!
Der grundgesetzlich festgelegte Föderalismus wird nicht beschädigt, wenn eine Bundestagswahl konsequent als eine Wahl auf Bundesebene ausgezählt wird. Die Bundesländer haben schließlich ihre eigenen Legislativen und Exekutiven und sie haben einen Bundesrat. Warum kann man von Parteien, die zur Bundestagswahl antreten, nicht verlangen, dass sie sich ohne Landesdifferenzierungen bundesweit aufstellen? Oder, sofern sie das nicht tun (CDU und CSU), ein entsprechendes Bündnis bilden? In diesem Fall können alle Erststimmensieger in den Bundestag einziehen, es können Ausgleichsmandate gemäß bundesweitem Zweitstimmenergebnis vergeben werden – und wir hätten zum Beispiel bei der letzten Bundestagswahl 2021 weniger Abgeordnete als 2 x 299, nämlich exakt 541. Die Beispielrechnung findet sich unter Genauer betrachtet / Direktere Demokratie / Reformvorschlag zur Reform. Ein Nachteil könnte es aus Sicht der Parteien sein, dass sie sich über Landesgrenzen hinweg über Listenplätze verständigen müssen. Aber ist das ein Schaden für die Demokratie? Nein. Ein Vorteil wäre es dagegen, dass persönliche Kandidaten eine größere Rolle spielen, selbst wenn sie keine Parteibindung haben, weil persönliche Wahlkreissieger auf jeden Fall abgeordnet werden und die Parteilisten definitiv eine zweite Stimme bleiben und dennoch gerecht repräsentiert werden. Diese Reihenfolge ist zweifellos der Wille des Grundgesetzes und das ist auch gut so.
24.07.2024 Moderne Völkerwanderungen
Unser Bild von Gesellschaften unterstellt in der Regel eine mehr oder weniger stabile Bevölkerung, zu der sich gelegentlich auch zeitweilige Gäste einfinden können. Dieses Bild stimmt gewiss für weite Strecken in Raum und Zeit und ist Basis für alles, was mit Kulturentwicklung zu tun hat. Es wird heute – und wurde auch früher gelegentlich – von Migrations- und Flüchtlingsströmen in Frage gestellt oder Veränderungen unterworfen. Das soll jedoch nicht das Thema dieses Zwischenrufs sein. Sondern diesmal geht es um die touristischen Völkerwanderungen, eine Erscheinung, die seit maximal zwei Generationen wohl als etwas Neues in der Weltgeschichte bezeichnet werden kann.
Denken wir zum Beispiel an Venedig oder Barcelona, an Mallorca oder andere Mittelmeerküsten, also Orte, deren ganze Struktur sich unter dem Einfluss von zeitweiligen „Gästen“, die jährlich ein Vielfaches der einheimischen Bevölkerung zählen, so verändert, dass die einheimische Bevölkerung zum Außenseiter wird. Die Gäste sind zahlungskräftig, bevölkern Straßen und Plätze, prägen das öffentliche Leben und treiben die Preise für Verpflegung und Unterkunft in die Höhe. Ja, für einige der Einheimischen ist das ein gutes Geschäft, eine neue wirtschaftliche Lebensgrundlage. Aber nicht für alle. Müssen alle das so hinnehmen? Das ist eine demokratische Fragestellung!
Der Freiheit des Reisens für die einen steht die bedrohte Freiheit eigener Alltagskultur für die anderen (oder sogar für alle) entgegen. Was ist höher zu bewerten? Wer entscheidet das? Aktuell sehen wir Demonstrationen Einheimischer gegen Touristen in Mallorca oder einen lächerlichen Eintrittspreis für die Stadt Venedig als würde das jemanden vom Besuch abhalten. Versucht man die Sache mit Distanz zu betrachten, so liegen die Sympathien wohl deutlich auf der Seite der Einheimischen, deren tägliches Leben dauerhaft verändert wird, während die touristische Freiheit nur ein Tages- oder Wochen-Ereignis, aber nicht die existenziellen Lebensgrundlagen der Reisenden berührt.
Also müssten für solche Fälle Möglichkeiten bestehen oder geschaffen werden, die es den Einheimischen erlauben, in freier, gleicher und geheimer Wahl über Alternativen zur Steuerung von Touristenströmen in ihrem Lebensraum abzustimmen. Und es müssten Exekutivkräfte vorhanden sein, die das Abstimmungsergebnis auch durchsetzen. Dabei gibt es selbstverständlich Interessenkonflikte, weil es auch unter den Einheimischen zweifellos Freunde und Profiteure des Touristenstromes gibt. Wahrscheinlich würden verschieden formulierte Alternativen in verschiedenen Regionen verschiedene Ergebnisse bringen.
Aber so ist eben Demokratie, wenn sie funktioniert. Interessenunterschiede müssen artikuliert, mit Kompromissvorschlägen ausgestattet und einigermaßen ausgeglichen und dann entschieden werden. Dieses Beispiel Massentourismus kann hier nicht konkret gelöst werden (das wäre Sache der Betroffenen), sondern es wird nur angesprochen, um einmal mehr die Notwenigkeit dezentraler Strukturen als Basis demokratischen Lebens zu untermauern. Denn warum und mit welchem (anderen?!) Interesse sollte eine Stelle in Rom über das Leben in Venedig oder eine in Madrid über das in Mallorca entscheiden? Oder auch nur ein von Lobbys beeinflusster Bürgermeister oder Stadtrat? Hier geht es klassisch um den Alltag aller Menschen, die dauerhaft an einem Ort leben und die darum selbst darüber bestimmen müssen. Das erfordert eine lokale oder regionale Volksabstimmung. Wie in vielen anderen Fällen auch… Aber (Demokratie macht Arbeit:) dazu muss es 1. das Instrument der Volksabstimmung geben und 2. müssen engagierte Bürger einen konkreten Lösungsvorschlag erarbeiten!
17.07.2024 Gerechter Frieden?
Das Thema der folgenden Sätze ist alles andere als neu in der Menschheitsgeschichte. Aber es stellt sich leider immer noch täglich aufs Neue: Gibt es einen ungerechten Frieden, der durch einen gerechten Krieg zu einem gerechten Frieden gemacht werden kann? Die Fragestellung mag polemisch-rhetorisch klingen und sie trägt eine negative Antwort damit bereits in sich. Aber im öffentlichen Diskurs wird die Frage bis heute auch von intelligenten und verantwortungsvollen Menschen positiv beantwortet, zumindest indirekt.
Im Ukrainekrieg haben die Befürworter der ukrainischen Kriegsführung einschließlich unserer Waffenlieferungen dorthin Argumente für sich, die auf der Völkerrechtswidrigkeit des seit Jahren anhaltenden russischen Angriffs auf ukrainisches Gebiet beruhen. Dies allein sehen zu wollen lässt jedoch die Tatsache außer Acht, dass (auch) die Ukraine die Gelegenheit, diesen Angriff zu vermeiden, ohne Not verstreichen ließ (Minsk II) und dass die Unterstützer Kiews eigene globale Machtinteressen mit diesem Ukrainekrieg verbinden. Umgekehrt kann Moskau Vertragsverletzungen, diplomatische Provokationen und (keineswegs nur einseitige) innerukrainische Gewalttätigkeiten seitens Kiew als Argumente für seine „Spezialoperation“ nennen. Allerdings rechtfertigt nichts davon einen Angriffskrieg, zumal es von Anfang an erklärtes Kriegsziel war und ist, nicht nur (vertragsgerecht) eine ostukrainische Autonomie zu ermöglichen, sondern ein kremlfreundliches Regime in Kiew zu installieren. Wer „gerechten Frieden“ als Realisierung von Demokratie und nationaler Souveränität versteht, kann sich da nur abwenden.
Auf beiden Seiten gibt es für die jeweiligen Gegenargumente maximal ein kurzes JA, dem dann ein langes und vielgestaltiges ABER folgt. Krieg als Mittel für politische Ziele benutzt immer Argumente, die nach Notwehr klingen müssen, weil kriegerische Machtpolitik keine Chance auf demokratische Zustimmung hat. Die Notwehr ist bei genauerem Hinsehen aber höchstens eine Halbwahrheit. Das gilt auch für den aktuellen Krieg in Israel und seinen besetzten Gebieten, wo ein palästinensischer Massenmord einem israelischen Völkermord gegenübersteht. Es gibt immer Gründe, jeweils einen der Kombattanten für den größeren Verbrecher oder Verursacher zu halten, was sogar zutreffen mag. Was hilft das den betroffenen unbewaffneten Menschen, von denen die meisten sich gewiss Vieles wünschen, aber keinen Krieg?
Stimmen für den Frieden sind keine, wenn sie für eine Kriegspartei Partei ergreifen. Das tun sie aber, wenn sie – nach einem kurzen allgemeinen Bedauern über das Grauen von Kriegen – ausführlich um Verständnis für die Argumente der von ihnen favorisierten Kriegspartei werben. Die ebenso mutige wie schwierige Aufgabe bestünde doch darin, zivile Friedensarbeit bis hin zu zivilem Widerstand zu entwerfen und zu praktizieren. Ja, so eine pazifistische Forderung klingt lächerlich aus dem Mund eines unbehelligten Schreibtischtäters. Trotzdem ist sie notwendig und richtig. Denn wohin führt der Weg eines „gerechten“ oder „unvermeidlichen“ Krieges? Wir sehen es täglich, gerade in Gaza, obwohl dort eine Empörung über die gewalttätige Besatzungsmacht aufgrund der jahrzehntelangen Vorgeschichte mehr als verständlich ist. Dennoch muss man fragen: war das Massaker der Hamas ein erster oder unvermeidbarer Schritt auf dem Weg zu einem gerechten Frieden? War die israelische Reaktion nicht zu erwarten oder war sie – aus religiös-ideologischen Gründen – sogar einkalkuliert? Wie weit und für wen haben die Akteure hier gedacht? Dass es sich bei den israelischen Aktionen um unverzeihliche Verbrechen handelt, muss nicht diskutiert werden. Man könnte fast meinen, dass die Angriffe sowohl am 24.02.22 als auch am 07.10.24 geradezu Geschenke an die jeweiligen Gegner waren, denen dies gut in ihre Pläne passte.
Auch wenn der Ruf nach zivilem Widerstand gegen Ungerechtigkeiten in vielen Fällen zynisch klingen mag: es muss bessere Taten als die genannten Angriffe geben, das zeigen doch die Ergebnisse! Sie zu erarbeiten ist eine Menschheitsaufgabe, im Großen und im Kleinen. Es gibt gerade in solchen Situationen Menschen, die uns dafür immer wieder ein Beispiel geben. Deshalb widme ich diesen Beitrag Frau Sumaya Farhat-Naser.
23.06.2024 EU – Demokratie?
Nach der Wahl zum EU-Parlament wird das Wahlergebnis gern als Gefahr für die Demokratie kommentiert, weil die rechte Seite des politischen Spektrums stärker wurde. Zu viele BürgerInnen seien den PopulistInnen auf den Leim gegangen. Das ist eine ziemlich oberflächliche Betrachtung. Zu diesen „Rechtsradikalen“ zählen immerhin eine demokratisch gewählte Regierungschefin in Italien und eine seit längerem etablierte Oppositionsführerin in Frankreich, die sich beide nicht nur von ihrer Vergangenheit schrittweise distanzieren, sondern inzwischen sogar von der deutschen Rechts-Partei. In Skandinavien ist das Rechts-links-Ergebnis umgekehrt ausgefallen und in Ungarn verzeichnet die Opposition zur rechts eingestuften Regierung ebenfalls Gewinne. Zweifellos hat in Deutschland und in Frankreich eine Rechtsverschiebung zulasten der Mitte stattgefunden, obwohl insgesamt die proeuropäische Mitte eine Mehrheit geblieben ist. Soweit das Ergebnis in groben Zügen. Es lohnt sich aber, etwas grundsätzlicher hinzuschauen.
Ein demokratisches Parlament?
Zuerst sollten wir uns einmal fragen, was es mit der euro-skeptischen Haltung von (angeblich?) zweifelhaften Demokraten auf sich hat, oder genauer: wie die EU-Parlamentswahl selbst unter demokratischen Gesichtspunkten zu werten ist. Denn dieses Parlament ist eine „Legislative“ ohne eigene Kompetenz für Gesetzesinitiativen. Es vertritt ein „Wahlvolk“, welches nicht existiert – eine europäische Bürgerschaft hat sich niemals konstituiert – und wenn es sie als Souverän geben würde, wäre sie im Parlament durch eine Ungleichheit „repräsentiert“, gegenüber der das wilhelminische Klassenwahlrecht geradezu demokratisch genannt werden müsste. Denn die Stimmengewichte der WählerInnen sind in einzelnen Ländern krass unterschiedlich und auch die Wahlsysteme sind sehr verschieden. Von einer Gleichheit der Wahl – eine demokratische Selbstverständlichkeit! – kann keine Rede sein.
In einer Demokratie gilt „one man one vote“, wobei jede Stimme ungefähr dasselbe Gewicht haben muss. Um die Kleinstaaten besser zu schützen, könnte man eine zweite Kammer einrichten, in der jede Nation gleiches Stimmrecht hat, analog dem Föderalismus in den USA oder in der Schweiz. Ob oder wofür in dieser Kammer Einstimmigkeit erforderlich wäre, müsste vorab einstimmig (!) entschieden werden. Dies hier nur als Randbemerkung. Selbstverständlich müsste ein europäisches Parlament nicht nur – einerseits – Kompetenz zur Gesetzesinitiative haben, sondern diese dürfte – andererseits – nicht unbegrenzt sein. Sie dürfte im Sinne der Subsidiarität nur supranationale Gegenstände erfassen.
Dies alles ist beim EU-Parlament nicht gegeben. Das wissen viele EU-kritische WählerInnen. Diesen Hintergrund müssen wir uns bei der Bewertung des Wahlergebnisses bewusst machen. Denn die Wahl „eurokritischer“ Parteien ist auch eine Kritik an diesen demokratiefernen Strukturen. Dass es sich bei diesem Parlament zulasten der Steuerzahler darüber hinaus um eine extrem teure Veranstaltung handelt mit hochbezahltem Personal und jährlich zweifachem Umzugszirkus zwischen Straßburg und Brüssel, trägt ebenfalls nicht zur Beliebtheit dieser Institution und ihrer Befürworter bei.
Undemokratische Populisten?
Zweifellos sind die Parteien des rechten Spektrums, nicht nur in Deutschland, auch von Menschen gewählt worden, deren rassistischen Einstellungen man keinerlei politischen Einfluss wünscht. In diesen Parteien haben sich manch Ewiggestrige versammelt, die mit überproportional lauter Stimme und manchmal auch aggressiven Aktionen das Erscheinungsbild und auch manche Programmaussagen prägen.
Die Mehrheit dieser WählerInnen und auch die politische Programmatik der rechten Parteien ist damit aber nicht erschöpfend beschrieben. Denn das Motiv nationalbewusster WählerInnen hat einen demokratischen Kern, was im vorigen Abschnitt angedeutet wurde. Außerdem registrieren sie nicht zu Unrecht, dass die Parteien der alten Mitte sich immer weiter von den Interessen der BürgerInnen entfernen, dass sie zunehmend zu „erzieherischen“ Maßnahmen auch gegen Mehrheitsmeinungen greifen, dass sie einen europäischen Zentralismus zulasten nationaler Souveränität propagieren … Man kann weitere Themen aufzählen, bei denen man als „Oppositioneller“ nicht automatisch Antidemokrat ist: Die seit Jahren gewachsenen Migrations- und Integrationsprobleme vor allem in Frankreich, aber auch in Deutschland; die nicht nur aufdringlich-belehrende, sondern auch unrealistisch konzipierte Klimapolitik vor allem in Deutschland; die Vielzahl von Detailregelungen, die keineswegs supranational festgelegt, aber trotzdem nationales Recht werden müssen… Wen kann man heute in Deutschland (und anderswo) wählen, wenn man die „demokratischen Defizite“ der EU und problematische Entscheidungen etablierter Entscheidungsträger erkannt hat, aber nicht akzeptieren will? Wen kann man wählen, wenn man, ohne NationalistIn zu sein, auf nationale Souveränität als demokratische Selbstverständlichkeit nicht verzichten will? Eben. Dagegen helfen in einer Demokratie keine „Brandmauern“.
Es stimmt, viele WählerInnen rechter Parteien mögen sich gegenüber undemokratischen Inhalten dieser Parteien gleichgültig verhalten, auch wenn sie sie nicht teilen, nicht wenige begrüßen sie sogar. Und manche von ihnen projizieren unangemessene Wünsche in ihre Hoffnungs-Partei, zum Beispiel wenn sie friedliche Ambitionen haben. Denn auch wenn z.B. die AfD aktuell gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete stimmt, darf man sie nicht als Friedenspartei missverstehen.
Informationsstelle Militarisierung (IMI) » Warum die AfD keine Friedenspartei ist (imi-online.de)
Es ist ein großer Block von demokratisch-oppositionellem Gedankengut im Lauf der Jahre angewachsen, teilweise mit guten Gründen, die bei den staatstragenden Parteien zu wenig Verständnis und Vertretung findet.
Zu den Ergebnissen dieser Wahl gehört aber auch, dass eine sympathischere Alternative zur „Alternative“ aus dem Stand 6 % der Stimmen gewonnen hat, quer durch die Generationen. Hier wird eine klassisch-sozialdemokratische Kritik an der „politischen Mitte“ geübt, die trotz teilweise ähnlicher Kritik am „Mainstream“ erstaunlicherweise von den Medien geradezu gepusht wird. Offenbar ist die Meinungsfreiheit hierzulande doch nicht so kaputt wie manche Kritiker das gerne hätten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Frau Wagenknecht in ihren Plakaten auf eine gefährdete Meinungsfreiheit hinweist, obwohl sie und ihre Partei seit langem in den großen Medien eher überproportional vertreten sind und dort keineswegs nur als Sündenbock auftreten dürfen.
Undemokratische Zentralisten?
Sorgen bereitet einem Demokraten allerdings die Tatsache, dass auch bei den JungwählerInnen nicht nur die AfD gut abschneidet, sondern dass hier „umgekehrt“ eine Partei „Volt“ 9 % der Stimmen gewonnen hat, eine Partei, die noch konsequenter als Grüne, SPD und CDU zusammen die nationalen Souveränitäten auflösen und einen EU-Bundesstaat schaffen will, um noch machtvoller und effektiver eine Ökodiktatur umsetzen zu können. Sie machen selbst daraus fast keinen Hehl:
Plötzlich bei fast 3 Prozent: Wer hinter der Kleinpartei Volt steckt | GMX
Den Volt-WählerInnen fehlt es nicht etwa an mehr Demokratie auf europäischer Ebene, sondern an zentral durchregierender grün-europäischer Macht – vorausgesetzt, sie haben überhaupt die politischen Ziele dieser Partei verstanden und nicht einfach die absurde Wahlwerbung „Sei kein Arschloch“ cool gefunden. In beiden Fällen würde sich allerdings ein erschreckender Verlust an historischer und staatsbürgerlicher Bildung zeigen – nicht zuletzt ein Ergebnis jahrzehntelanger Schulreformen…
Es ist aber wahrscheinlich so, dass von dieser Partei nur deutlicher als von anderen ausgesprochen wird, welches der eigentliche Fahrplan des Projektes Europäische Union ist. Denn dass Zentralisierungstendenzen seit Jahrzehnten der Motor aller EU-Aktivitäten sind, kann kaum übersehen werden. Insofern sammeln sich hier wohl die WählerInnen, bei denen eine antinationale EU-Propaganda inzwischen die süßesten Früchte trägt.
Demokratie in Europa
Aus all diesen Beobachtungen folgt eine wichtige Aufgabe: Wir sollten uns weniger Gedanken darüber machen, wen wir ins EU-Parlament wählen oder nicht wählen wollen. Sondern vor allem darüber, wie Demokratie in Europa zu organisieren wäre. Der eingeschlagene Weg weg von nationaler Souveränität und hin zu einem merkwürdigen supranationalen Konstrukt mit einer Kommission als legislativen Machzentrum wird von vielen Bürgern ganz offensichtlich nicht goutiert. Unter demokratischen Gesichtspunkten ist dieses Konstrukt, das aus ganz anderen Zusammenhängen heraus entwickelt, bzw. umfunktioniert wurde (Montan-Union), in der Tat mehr als fragwürdig.
Wenn wir diese Geschichte noch einmal auf „reset“ drücken könnten, müssten wir zunächst darüber nachdenken, was Demokratie ist, welche wesentlichen Elemente dazugehören und wie diese dann auf europäischer Ebene zu realisieren wären. Bei dem seit Jahrzehnten stattfindenden Aufbau einer Europäischen Union standen solche Überlegungen kaum Pate.
Grundvoraussetzung für alle, die auf diesem Feld mitreden oder gar handeln wollen, ist natürlich eine intensive historische und staatsbürgerliche Bildung. Mit aller Vorsicht darf man feststellen, dass hier nicht nur bei den JungwählerInnen Luft nach oben ist, sodass langfristig angelegte, intensive und breite Bildung auf die Tagesordnung gehört. Nicht so sehr, damit die Bürger „richtig“ wählen, sondern vor allem, um die anspruchsvollere Aufgabe in den Blick zu nehmen: richtige Organisationsformen für eine Europäische Demokratie zu finden und weiterzuentwickeln. Das muss jedem/jeder Wähler/in und vor allem jedem/jeder Gewählten ein Anliegen sein.
Richtig im Sinne von Demokratie ist es, dass die Entscheidungsebenen subsidiär organisiert sind. Das beinhaltet funktionierenden Föderalismus inkl. Erhalt nationaler Souveränität. Deshalb darf eine supranationale Legislative nicht in national, regional oder lokal zu regelnde Themen eingreifen. Eine weitere Selbstverständlichkeit ist die Gewaltenteilung, die ebenfalls für eine supranationale Struktur gelten muss, sodass eine europäische Rechtsprechung nicht in nationale eingreifen darf, was gelegentlich schon geschehen ist. Und natürlich: Gleichheit bei Wahlen für jede Bürgerstimme, was ein supranational gleiches Wahlrecht voraussetzt und eine zweite Kammer mit Gleichheit für die Nationen nahelegt. Also: Souveränität, Subsidiarität, Gewaltenteilung, Gleichheit sind Voraussetzungen demokratischer Freiheit. All das ist in der heutigen EU schlecht oder gar nicht realisiert. Vorab wäre dafür eine ebenfalls nicht existierende Verfassung zu konzipieren und zu beschließen, mit der sich eine europäische Bürgerschaft erst einmal selbst konstituieren müsste. Wenn sie – die Bürger, nicht die Regierungen – das denn wollen…
Ausblick
Natürlich gibt es im historischen Prozess keinen Reset-Knopf. Aber es gibt eine Freiheit des Denkens, die es erlaubt, sich immer wieder an die Grundlagen zu erinnern und das Bestehende daran zu messen, um Änderungen in eine richtige Richtung zu lenken. Nichts ist in Stein gemeißelt. Wenn wir BürgerInnen in Europa ernsthaft überlegen, wie wir eine internationale Kooperation demokratisch organisieren können, käme gewiss etwas anderes heraus als ein teures und ziemlich ohnmächtiges EU-Parlament mit nationalistisch überhitzten Fraktionen – was eben (auch) eine Folge von real existierender Mangelhaftigkeit seiner demokratischen Strukturen ist.
Warum kann es nicht weiterhin verschiedene europäische Demokratien mit all ihren historischen Besonderheiten und nationalen Souveränitäten geben – und zugleich eine übergeordnete Struktur für ausschließlich als übergeordnet definierte Gegenstände? Die Schweiz und die USA könnten gedankliche Anregung für supranationale Strukturen sein – natürlich nicht als 1:1 zu kopierendes Modell. Immerhin scheinen die einzelnen US-Staaten in mancher Hinsicht sogar mehr Selbständigkeit zu besitzen als heute schon die EU-Staaten, deren Gesetzgebung durchweg „EU-kompatibel“ sein muss. Anders als die US-Staaten sollten die EU-Staaten aufgrund ihrer langen eigenständigen Geschichten allerdings auch weiterhin ihre Außenpolitik souverän bestimmen können. Eine EU-Supra-Nation sollte nur für EU-interne supranationale Themen Kompetenz erhalten.
Fazit: Wenn unsere PolitikerInnen solche demokratie-orientierten Überlegungen, die hier nur kurz und längst nicht zu Ende gedacht gestreift wurden, öffentlich anstellen und vielleicht sogar Taten folgen lassen würden, wäre NationalistInnen oder anderen ExtremistInnen viel Wind aus den Segeln genommen. Das wäre gewiss die beste Brandmauer gegen alle Feinde der Demokratie. Denn Demokratie lebt nicht so sehr von machtvollen Meinungsdemonstration gegen rechts oder links oder sonstige Andersdenkende; sondern von der inhaltlichen Auseinandersetzung mit diesen Andersdenkenden mit dem Ziel der demokratischen Weiterentwicklung des öffentlichen Lebens.
09.06.2024 Die Würde auch des sterbenden Menschen ist unantastbar
Zur Zeit wird wieder einmal die „Widerspruchslösung“ im Zusammenhang mit dem Thema Organspende von Politikern öffentlich diskutiert, bzw. gefordert. Das heißt, es wird diskutiert, ob jeder Mensch als Organspender gelten soll, wenn er nicht ausdrücklich widersprochen hat. Da lohnt es sich doch, auch in diesem Zusammenhang noch einmal an den ersten Satz des Grundgesetzes zu erinnern, der ebenfalls in diesen Tagen (75jähriges Jubiläum!) gern von den Politikern in den Mund genommen wird (siehe Überschrift).
Es fehlt in dieser Diskussion an Aufklärung darüber, was die Feststellung des Hirntodes als Voraussetzung für eine Organentnahme bedeutet. Vielen Menschen ist vielleicht nicht klar, dass Organe nicht einer Leiche entnommen werden können, die „mausetot“ ist. Sondern sie können nur Jemandem entnommen und einer anderen Person transplantiert werden, wenn die Organe selbst noch in Funktion sind, also am Leben erhalten werden. Die hirntote Person muss künstlich beatmet und der Blutkreislauf muss aufrechterhalten werden. Das geht nur, wenn die Person auf einer Intensivstation verstirbt, bzw. wenn dort der Hirntod festgestellt wird, von dem es nach medizinischer Expertise kein Zurück mehr ins Leben gibt.
Folglich weiß auch niemand, wie dieses Sterben sich anfühlt, bzw. ob die pulsierenden Organe bei ihrer Entnahme etwas spüren. Natürlich kann man davon ausgehen, dass hier keine Empfindung mehr stattfindet, aber wer weiß das? Es muss selbstverständlich bleiben, dass auch dieser letzte Akt beim Erlöschen des Lebens dem Gebot der körperlichen Unversehrtheit unterliegt. Niemand außer der Person selbst, auch nicht nahe Verwandte, dürfen das in Frage stellen. Umgekehrt steht es jedem frei, sich zum Spender zu erklären und zu bestimmen, dass er im Fall einer endgültigen Erkrankung oder eines (nahezu?) tödlichen Unfalls auf einer Intensivstation sterben will und im Stadium zwischen Hirntod und körperlichem Tod Organe entnehmen zu lassen erlaubt.
Aber es muss klar bleiben, dass dies eine Spende ist. Eine Spende, die nur die spendende Person selbst geben kann, wenn sie es ausdrücklich und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte so entscheidet. Jedem Menschen, dessen Leben von einer Organspende abhängt, ist zu wünschen, dass ein Spender für ihn gefunden wird. Aber niemand hat ein Recht auf das Organ eines anderen, eines sterbenden Menschen. Ebenso wenig hat irgendeine politische Macht, sei es ein despotischer Autokrat, sei es ein demokratisches Parlament, das Recht, ihre sterbenden Bürger generell zum Organersatzteillager zu erklären – denn von einer Spende könnte unter dieser Bedingung keine Rede mehr sein.
02.06.2024 Direkte Demokratie und Globalisierung
Das Plädoyer dieser Website für direkte, also möglichst dezentrale Demokratie wirft in einer global vernetzten und technisch digitalisierten Welt Fragen auf. Kommt die Vorstellung von Gemeindeautonomie, föderaler Staatsstruktur, nationaler Souveränität nicht aus einer Zeit historischer Sondersituationen in Europa, als es im frühen Mittelalter autonome Talschaften in der Schweiz, im späten Mittelalter relativ freie Städte im deutschen Reich und in Italien, in der frühen Neuzeit dann nationale Grenzen als Folge blutiger Kriege gegeben hat? Sind in anderen Teilen der Welt dieselben oder auch nur ähnliche Strukturen entstanden? Ist (direkte) Demokratie also vielleicht kein verallgemeinerbares oder gar zeitloses Modell für eine gerechte politische Welt?
Ja, politische Vorstellungen von Demokratie wurden in Europa entwickelt. In Asien, Afrika, Amerika etc. hat es zwar auch genossenschaftliche Strukturen gegeben, aber weniger Entwicklungen in Richtung politischer Demokratie. Die heutigen mehr oder weniger demokratischen Nationen, vor allem in Afrika und in Amerika, sind mehr noch als in Europa ein Ergebnis äußerlich aufgezwungener oder willkürlich gezogener Grenzen, ein durch Eroberungskriege geprägter Flickenteppich willkürlicher Entscheidungen, einschließlich der Etablierung europäischer, also nicht einheimischer Sprachen. In Asien zeigen die heutigen Staaten zwar in größerem Maß das Abbild einheimischer Kulturen, allerdings ebenfalls geprägt von teils eigener, teils fremder Eroberungswillkür und oft weniger (direkt)demokratisch gewachsen als in vielen Teilen unseres Kontinents.
Diese Tatsachen können ein „eurozentristisches“ Demokratie-Modell also vehement in Frage stellen. Hinzu kommt die Tatsache, dass auch in der europäischen Geschichte dezentrale politische Strukturen zwar Wunschvorstellungen, tatsächlich aber meist unvollkommene Realisierungen sind. Die freien Städte des Mittelalters waren ihrerseits Zentren von umliegenden Ländereien und kleineren Gemeinden, die selbst unfrei waren; die Städte waren intern kaum demokratisch organisiert, selbst dann nicht, wenn es sich um „freie“ Städte und nicht um Herrschaftssitze handelte. Fernand Braudel (Bibliothek) gibt ein sehr anschauliches Bild von der Realität der politischen Strukturen in Europa und anderswo seit dem späten Mittelalter.
Aber auch und gerade in der unvollkommenen Realität konnte über die Jahrhunderte der Wunsch nach besseren Modellen der entstandenen demokratischen Ideen wachsen. Bessere Vorstellungen davon, wie die Menschen die öffentlichen Angelegenheiten in ihrem Wirkungsbereich genossenschaftlich regeln anstatt von externen Mächtigen reglementiert zu werden. Oder davon, dass es überhaupt möglich ist, gesellschaftliches Leben mit persönlicher Freiheit und Verantwortung eines jeden zu verbinden, sodass gerechtere Zustände für alle entstehen können. Wie gut oder schlecht das in verschiedenen historischen Situationen gelungen sein mag: die Idee war vorhanden, sie gab und gibt Orientierung. Nicht zufällig orientieren sich politische Bewegungen in anderen Teilen der Welt bis heute an europäischen Vorstellungen, wenn sie eigene politische Realitäten verbessern wollen. Solche Oppositionsbewegungen sind nicht nur Ergebnis machtpolitisch verbreiteter Propaganda, das sicher auch, sondern basieren darauf, dass demokratische Freiheit mit europäischen politischen Ideen und Realitäten assoziiert wird, selbst wenn manches dabei idealisiert wahrgenommen wird.
Das Thema (direkte) Demokratie betrifft aber nicht nur die Frage nach der Vollkommenheit realer Strukturen, als wäre dies ahistorisch ein für allemal zu beantworten, sondern erfordert auch Antworten, welche öffentlichen Themen heute und morgen auf welchen Ebenen überhaupt anzusiedeln sind. Damit ist unsere gegenwärtige und zukünftige Welt angesprochen, in der weltweite Produktionsverlagerungen und Handelsströme, die Mobilität der Menschen und ihre globale Kommunikation ein noch vor 70 Jahren unvorstellbares Ausmaß angenommen haben. Was kann eine Gemeinde da noch für sich selbst autonom bestimmen? Oder selbst eine Nation? So fragen manche modernen Menschen, und stellen Föderalismus und „Nationalismus“ als überlebt, wenn nicht gar gefährlich in Frage. Hat nicht die Corona-Pandemie gezeigt, dass wir in Deutschland kaum noch Medikamente selbst herstellen, sondern diese aus Indien und China beziehen? Die Versorgung unserer kranken und alten Menschen würde nicht funktionieren ohne Arbeitskräfte aus Polen oder Indonesien. Unsere Automobil- und Maschinenbauindustrie läge am Boden ohne den Export ihrer Produkte in alle Welt. Von Energie-Abhängigkeiten ganz zu schweigen. Und so weiter.
Wo bleibt da also Raum für dezentrale Entscheidungen? Wozu überhaupt noch Grenzen? fragen diejenigen, die sich allerdings zu wenige Gedanken darüber machen, wie das gesellschaftliche und kulturelle Leben des sozialen Wesens Mensch funktioniert. Denn auch wenn wir uns gedanklich als Weltbürger verstehen und heute über globale Netze sekundenschnell miteinander kommunizieren können, bleiben wir kulturell geprägte Individuen, die einen konkreten materiellen, „analogen“ Lebensbereich haben, den wir gestalten wollen. Dafür wollen wir die heutigen und zukünftigen Möglichkeiten natürlich nutzen – aber nicht so, dass wir uns ihnen unterordnen als sei die Technik das Subjekt der Geschichte und wir das Objekt. Es ist anspruchsvoll, dies umgekehrt zu praktizieren. Wir müssen heute Entscheidungen treffen, von denen ein mittelalterlicher Stadtrat keine Vorstellung hatte. Aber warum können wir nicht beschließen, dass ein Mindestmaß an pharmazeutischer Produktion im eigenen Land zu geschehen hat? Warum bieten wir Pflegekräften keine anständig bezahlte Arbeit, sodass mehr von uns diesen Beruf ausüben wollen und die Indonesierinnen ihre eigenen Kranken pflegen können? Warum sollte eine Gemeinde nicht selbst beschließen können, ob sie sich ein Krankenhaus, eine Schule leisten will – vorausgesetzt, sie verfügt über finanzielle Gemeindeautonomie? Womit wir wieder bei der direkten dezentralen Demokratie sind.
Die verbreitete Vorstellung, dass eine tatsächlich stattfindende technisch-wirtschaftliche Globalisierung auch zu politischem Zentralismus führen muss, ist ein Irrtum. Natürlich verändern sich die Aufgabenstellungen, sie werden sachlich oft anspruchsvoller und es muss geklärt werden, was auf welcher Ebene zu entscheiden ist. Die Antworten dazu können in verschiedenen Staaten, Nationen, Kulturen je nach ihrer Geschichte verschieden ausfallen. Auch die Entscheidungsebenen müssen und können nicht überall dieselben sein. Städtische Agglomerationen von 20 Mio. Einwohnern müssen sich wohl anders strukturieren als eine Region mit Gemeinden von plus/minus 100.000 Einwohnern. Aber überall gilt, dass gewiss nicht alles in einer fernen Zentrale entschieden werden muss. Oder auch nur kann. Wir sehen ja, dass die Entscheidungen unserer Abgeordneten und Regierenden in zunehmendem Maß von fehlendem Sachverstand geprägt sind. Deren Entscheidungen fallen zu weit weg von den Bürgern und zu nah an den Lobbygruppen – Lobbygruppen, die den politischen Entscheidungsbefugten so nah auf der Pelle sitzen, dass diese weder „ihre“ Bürger noch die komplexer werdenden Sachen selbst angemessen erkennen können. Von ideologischen Vorurteilen vieler politischer Entscheidungsbefugter mal ganz abgesehen. Wenn wir uns auf die in unserer Geschichte entstandene Idee bürgerlicher Freiheit und genossenschaftlicher Organisation des öffentlichen Lebens besinnen, werden wir gewiss fündig bei der Suche nach direkt von uns Bürgern zu treffenden Entscheidungen – Entscheidungen, die sowohl lokale als auch globale Wirkung haben können. Denken wir zum Beispiel an die aktuelle Frage, ob oder wie man sich an Kriegen in anderen Ländern beteiligt. Warum soll zu dieser wahrhaft existenziellen Frage nicht jeder Bürger direkt entscheidungsbefugt sein? Wir müssen die Aufgabe demokratischer Verantwortung nur richtig verstehen. Und anpacken.
22.05.2024 Private oder öffentliche Diktaturen? oder was?
Wir haben eine Vorstellung und eine Realität von Demokratie, in der wir Bürger andere Mitbürger oder Parteien wählen, die für einen gewissen Zeitraum die öffentlichen Angelegenheiten im Interesse der Bürger regeln sollen. Wir verstehen, dass es bei Interessengegensätzen notwendige Kompromisse geben muss. Wir erwarten, dass die Institutionen die Einhaltung der Regeln sicherstellen. Wir freuen uns, wenn es Regelungen gibt, mit denen die Bürgerschaft selbst direkt sachliche Entscheidungen treffen, also Gesetze bestimmen kann. Wir wissen, dass das nicht immer und überall perfekt funktioniert, aber wir haben Vertrauen in ein grundsätzliches Modell von parlamentarischer und möglichst auch direkter Demokratie. Das ist eine Errungenschaft und ein Vermächtnis unserer europäischen Geschichte.
Aufmerksame Zeitgenossen nehmen zur Kenntnis, dass die Entscheidungen der gewählten Politiker in zunehmendem Maß von privaten Lobbygruppen bis hin zu mächtigen Vermögensverwaltern (Stichwort: Black Rock u.a.) beeinflusst werden und dass der Anschein demokratischer Legitimation oft nur noch mit ausgefeilter Propaganda halbwegs aufrecht erhalten werden kann. In welchem Maß diese Einschätzung stimmt oder Übertreibungen enthält, ist hier nicht Thema. (Vertiefungen hierzu siehe Bibliothek, z.B. bei den Autoren Rügemer oder Ploppa o.a.). Thema ist hier, dass manch einer aus solchen Beobachtungen den Schluss zieht, unsere Demokratie sei kaum noch der Rede wert. Im Zusammenhang mit altehrwürdigen Elitetheorien marxistischer Prägung (was z.B. unter Demokratie als Erziehungsdiktatur? genauer betrachtet wird) und mit der Einschätzung, dass die westliche Welt mit der Führungsmacht USA sowieso und Gott sei Dank auf das historische Abstellgleis fährt, orientiert man sich dann gerne neu.
Aber wohin orientiert man sich? „Mainstreamkritische“ Medien, die es in nicht geringer Zahl und mit nicht geringer Reichweite hierzulande gibt, zeigen trotz mancher Unterschiedlichkeiten eine Gemeinsamkeit: ein positives Interesse an der aufstrebenden Weltmacht China, Bewunderung für deren Erfolge bei der Bekämpfung von Armut und Hunger im eigenen Land, Applaus für friedliche Entwicklungen im Rahmen des „Seidenstraßen“-Projektes etc.; ebenso zählt viel Verständnis für das (angeblich) vom Westen angegriffene, aber von China gottlob unterstützte Russland dazu und generell eine große Sympathie für die BRICS-Staaten und ihre neuen Mitglieder im mittleren Osten und anderswo. So sehr man Respekt vor den Unabhängigkeitsbestrebungen gegenüber den USA und vor der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas haben muss – ist das ein Grund, die Achseln darüber zu zucken, dass es in China intern diktatorisch zugeht und extern wirtschaftliche Abhängigkeiten und Schuldverhältnisse geschaffen werden? Ist es ein Grund, sich über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine nicht zu empören oder über die religiöse Diktatur in Iran und die Korruption in Südafrika? Derartige Tatsachen werden bei dieser Neuorientierung gern „übersehen“.
Mit diesen Fragen und Hinweisen sollen weder die Verbrechen der westlichen Weltpolitik noch die Erfolge der nicht westlich orientierten Staaten geleugnet werden. Sondern es wird eine intellektuelle Redlichkeit eingefordert, um selektive Wahrnehmungen zu vermeiden. Wenn unser früher vielleicht einmal blindes Vertrauen ins eigene System enttäuscht wurde, sind wir schlecht beraten, anderen Systemen blind zu vertrauen, schon gar nicht, wenn deren (andere) erhebliche Mängel ins Auge springen. Warum orientieren wir uns nicht an dem, was unsere Geschichte und Kultur uns nahelegt? Wenn unsere Demokratie schlecht funktioniert, müssen wir sie besser (be)leben – aber nicht mehr oder weniger undemokratische aufstrebende Weltmächte kritikfrei stellen. Natürlich sollten wir mit dem russischen Nachbarn ein gemeinsames Haus bauen – aber nicht, solange er sich entschlossen hat, jahrelang massiv Krieg gegen seinen Nachbarn zu führen und ihm die Souveränität abzusprechen. Natürlich dürfen wir selbst uns nicht auch nur indirekt an Kriegen in anderen Ländern, z.B. dem Super-Korruptionsstaat Ukraine, beteiligen, bei denen es „nur“ um geopolitische Strategien, aber nicht etwa um Demokratie geht.
Unsere europäische Kulturgeschichte muss in ihrer Vielfältigkeit, in ihren wechselseitigen Beziehungen durch die aktive Belebung und Verbesserung ihrer Demokratien unsere Basis für die Zukunft sein. Das ist etwas anderes als die derzeit „moderne“ Privatisierung alles Öffentlichen und seine Unterwerfung unter maßlose Profitmaximierung; es ist etwas anderes als die zentralistischen Etatismen des „globalen Südens“, die sich aus politischen, nationalistischen oder religiösen Machtansprüchen verschiedener Eliten speisen. Vielmehr müssen wir uns die demokratischen Traditionen unserer europäischen Geschichte wieder bewusst machen, pflegen, weiterentwickeln – souverän und friedlich, aber ausreichend lautstark gegen falsche Einflüsse und „Vorbilder“ aus West und Ost und Süd, siehe auch Zwischenruf 05.06.2023.
Wenn wir die geostrategischen Fixierungen in den Hintergrund schieben, können wir uns besser auf das Wesentliche konzentrieren: Demokratie und Frieden.
03.05.2024 Regelbasierte Ordnung
Es war einmal, da galt der Spruch „L´etat, c´est moi“ des Königs Louis XIV als Ausdruck absoluter Monarchie, als Gipfel der Selbstherrlichkeit. Zu Recht. Heute sollte ein Spruch „La democratie, ces sont nous, les citoyens“ gültig sein, aber zumindest im Fall internationaler Politik sind das „Wir“ nicht die Bürger der demokratischen Staaten, sondern die Eliten der westlichen Demokratien, die sich allmählich dem Geist annähern, den Louis XIV vorgelebt hat. Nur die Propaganda muss ein wenig angepasst werden, wenn man nicht Gott, sondern den Wählern Rechenschaft schuldet.
Ein Beispiel für das Voranschreiten der Willkür: Statt vom Völkerrecht, zu dem fast alle Nationen sich verpflichtet haben, ist seit Jahren von einer „regelbasierten Ordnung“ https://de.wikipedia.org/wiki/Regelbasierte_Ordnung die Rede, die international durchzusetzen sei. Darunter verstehen ihre Verfechter einen undefinierten und verschieden interpretierbaren Kanon „westlicher Werte“ und reklamieren damit eine Selbstherrlichkeit gegenüber den Staaten, deren „Werte“ der Westen nicht zu seiner Ordnungsregel zählt. Es geht hier nicht um „graue Theorie,“ sondern (um in Goethes Farbenwahl zu bleiben) um grüne Praxis: denn man leitet aus solch verschwurbelter Unbegrifflichkeit auch Kriegsbeteiligungen und Waffenbrüderschaften gegen die unterstellte Werte-Unordnung von Anderen ab. Nicht einmal die empörte Ignoranz Israels gegenüber den Vorgaben des Internationalen Gerichtshofes, wie ein Völkermord in Gaza vermieden werden muss, hindert die regelbasierten Ordnungshüter daran, weiterhin Waffen an den Ignoranten zu liefern.
Verschiedene Kriege, die „wir“ in den letzten Jahrzehnten für unsere Interessen geführt haben, waren ausdrücklich völkerrechtswidrig, was auch ein Bundeskanzler Schröder im Fall Jugoslawien unumwunden und geradezu selbstbewusst zugab – wir mussten das doch ganz selbstlos auf uns nehmen! Andere völkerrechtswidrige Kriege, die zum Beispiel von Russland gegen unsere Interessen geführt werden, bekämpfen wir dagegen nicht nur mit Worten, sondern mit Waffen. Unsere regelbasierte Ordnung zwingt uns eben manchmal, gegen Völkerrechtsbrüche vorzugehen, aber manchmal auch, sie selber zu begehen. Wir sind die Demokraten, also bestimmen wir, was zu tun ist, ob das nun gefällt oder nicht. „Quod licet Jovi non licet bovi“ pflegte mein Vater zu sagen (was Gott erlaubt ist, ist dem Rindvieh nicht erlaubt.) Fazit: Es kommt nicht darauf an, was man tut, sondern wer es tut, siehe hierzu das Kapitel „Nationalismus“ unter dem Button „Genauer betrachtet“. Grundsätze eines Westfälischen Friedens sind lange vergessen.
Es ist nur logisch, dass wir unsere situationsangepassten Ordnungsregeln, die wir im Zweifel über das Völkerrecht stellen, lieber nicht so genau definieren, denn wenn wir damit anfangen würden, müssten wir erstens feststellen, dass unsere westlichen Demokratien selbst sich so deutlich voneinander unterscheiden (siehe „Nationale Vielfalt“ unter dem Button „Kernthemen“ oder „Demokratische Vielfalt“ unter dem Button „Demokratie im Detail“), dass es sogar schwierig wird, eine regelbasierte Definition von Demokratie zu geben, mit der man Freund und Feind ein für allemal unterscheiden könnte. Zweitens könnten wir dann auch nicht mehr so flexibel internationale Politik betreiben, wie wir das „regelbasiert“ tatsächlich tun: Haben die Vertreter westlicher Werte nicht z.B. jahrelang den irakischen Herrscher militärisch gegen die iranischen Mullahs in den Krieg getrieben und hunderttausende Tote auf beiden Seiten ausdrücklich in Kauf genommen, um ihn später zum übelsten Diktator zu erklären, der über Waffenvernichtungsmittel verfüge (womit nur die inzwischen schrottreifen, vom Westen vorher gelieferten gemeint sein konnten)? Nennen wir mit Israel nicht einen Staat demokratisch, der unmissverständlich und unverrückbar zweierlei sehr verschiedenes Recht für Juden und Nichtjuden in seinem Geltungsbereich praktiziert und selbst daran gemessen noch Unrecht tut? Das sind nur Beispiele, deren Liste sich verlängern lässt. Seien wir also lieber vorsichtig mit theoretischen Definitionen. Wer weiß schon, wen wir morgen „regelbasiert“ zum Feind oder Freund umbenennen müssen.
Es gibt auch kleinere Beispiel unterhalb der Kriegsführung. Nur ein beliebiges aktuelles: Augenblicklich wird Georgien wegen „undemokratischer“ Praktiken kritisiert, weil es ausländische NGOs besser kontrollieren oder ggf. sogar verbieten wolle und sich damit dem indiskutabel undemokratischen Vorgehen Russlands anschließe. Dabei haben unsere Nachrichten nicht einmal ein Problem damit, auf die selbstverständlich von uns unterstützten vielen „Nicht“-Regierungsorganisationen in Georgien hinzuweisen, die sich dort für Demokratie einsetzten – womit sie unsere Einmischung in deren inneren Angelegenheiten bestätigen. Der Ruf nach Demokratie in Georgien wird von denen ausgestoßen, die ihrerseits digitale russische Medien hierzulande nicht kontrolliert, sondern verboten haben. Und die keinen Hehl daraus machen, in eine ukrainische Oppositionsbewegung 5 Mrd. US-Dollar investiert zu haben. Das war regelbasiert natürlich in Ordnung. Während der Verdacht, russische Influenzer könnten auf digitalem Weg die Wahlen im Westen beeinflussen, für Empörung sorgen muss – sicher zu Recht, aber warum empören wir uns dann, wenn östliche Staaten sich umgekehrt gegen unzweifelhaft vorhandenen direkten westlichen Einfluss schützen wollen?
Und so weiter. Es lassen sich viele Beispiele dafür finden, dass „die Bleichgesichter mit gespaltener Zunge sprechen“, um einmal einen Ausdruck zu gebrauchen, den ein alter weißer Mann nach einer antirassistischen Ordnungsregel gar nicht verwenden dürfte. Alles hier Gesagte ist für viele ausgeschlafene Zeitgenossen nichts Neues. Die Botschaft dieses Zwischenrufs ist denn auch nur eine Erinnerung daran, welch ein Schindluder mit dem Begriff Demokratie getrieben wird, wenn er als extrem biegsames Propaganda-Schlagwort aus regelbasierten Ordnungstrompeten gestoßen wird, um sich in die Angelegenheiten anderer Nationen einzumischen oder dort gar Krieg zu befeuern.
Da die beschriebenen Entwicklungen von den politischen Mandatsträgern der demokratischen Staaten betrieben werden und nicht unmittelbar den Bürgerwillen ausdrücken, müsste der Spruch heute wohl lauten: „La Democratie, ces sont nous, les mandataires.“ Ist das wirklich so viel besser als „L´etat, c´est moi“?
25.04.2024 Pessimistische Jugend
Eine soziologische Studie „Jugend in Deutschland 2024“ stellt fest, dass die Jugend (14 – 29-Jährige) so pessimistisch sei wie nie. Ihre Sorgen bezögen sich auf zu viel Zuwanderung durch Flüchtlingsströme, Inflation, Kriege in Europa und Nahost, knappen Wohnraum, Spaltung der Gesellschaft – während die Sorgen wegen Klimawandel in ihrer Bedeutung etwas zurückgetreten seien. Parallel dazu sei die Zustimmung zur AfD gewachsen und die Zustimmung zu Regierungsparteien, vor allem FDP und Grünen, die bei den Jungen beliebt waren, zurückgegangen.
Man darf feststellen, dass die Befragten damit eine gewisse Reife und Wachheit dokumentieren, denn die Sorge bereitenden Themen sind ja nicht aus der Luft gegriffen und die Sorgen stehen zum Teil sogar in einer gewissen Opposition zu medial oft anders orientierten Betonungen. Interessanter scheint mir aber die Feststellung zu sein, dass die Befragten sich ohnmächtig fühlen und die Chance zur Einflussnahme als gering einschätzten. Sie beklagen, dass sie unter Stress, Einsamkeit und Ängsten leiden und dass sie ihr Smartphone mehr nutzen als ihnen selbst lieb ist. Ein Drittel bezeichnet das eigene Verhalten dabei als süchtig und bestätigt, dass die Nutzung von Social Media ihr Selbstbild verschlechtert habe. Insgesamt erwarten sie von Gesellschaft und Politik, dass diese ihnen eine gute Work-Life-Balance sichern. Unter dieser Bedingung sind sie auch bereit, ihren Arbeitsbeitrag gern zu leisten.
Diese Befunde sind interessant, weil sie zeigen, dass diese Jugend das Zeitgeschehen aufmerksam und kritisch zur Kenntnis nimmt und in gewissem Umfang bereit ist, für ihr individuelles Leben zu arbeiten – während sie zugleich Resignation hinsichtlich politischer Einflussnahme empfindet, verbunden mit der Erwartungshaltung, dass die Umstände sich doch bitte angenehmer gestalten mögen. Was hier passiert ist ein erschreckender Verlust an demokratischer Souveränität.
Es braucht nicht viel Phantasie, um zu verstehen, was eine wesentliche Ursache dafür ist: nicht diktatorische Maßnahmen versperren der Jugend den Weg ihres Engagements. Sondern mangelndes Vertrauen in die eigene Kraft, Ohnmachtsgefühle, nicht äußere Hindernisse. Eine Ursache nennt die Studie indirekt selbst: Smartphone und Social Media. Das sind Marktplatz und Wohnzimmer dieser Generation. Dort finden unendliche Informationsflüsse und Angebote statt, deren Wahrnehmung pausenlos Zeit kostet und dadurch eigenständige Auseinandersetzung kaum zulässt. Man unterscheidet kaum noch, was Information, was Fake, was völlig sinnlos ist. Es finden oft Beleidigungen bis hin zum Mobbing statt, die nicht wirkungslos bleiben, selbst wenn man sich davon abwendet. Es geschieht systematisch Vereinzelung zulasten direkter „analoger“ Kommunikation. Ein Gefühl für eigene Wirkmöglichkeit in der Realität kann kaum entstehen, weil die aktive reale Erfahrung reduziert ist. Wirkungen scheint es nur im virtuellen Raum zu geben, die Realität ist eine andere Welt.
Hinzu kommt eine Arbeitswelt, die nicht nur „dank“ Corona ebenfalls zur Vereinzelung im Home Office und zunehmend zu digitalen statt persönlichen Kontakten führt. Es ist in dieser Generation der Digital Natives bereits zu echten Fähigkeitsverlusten gekommen, viele können kaum noch mit der Hand flüssig schreiben oder im Kopf rechnen, sondern nur noch über Bildschirme wischen oder Tastaturen betippen, was nachweislich die Entwicklung geistiger und sprachlicher Fähigkeiten einschränkt. Die Entwicklung der „Künstlichen Intelligenz“ (siehe Zwischenruf 12.04.24) bietet in diesem Zusammenhang das Gegenteil von ermutigenden Perspektiven.
Erwähnen kann man noch die Abnahme von Schul- und Breitensport in Vereinen bei gleichzeitiger Zunahme von Besuchen in Fitness Centern, was auch körperlich eine Vereinzelung mit sich bringt. Vielen von diesen kurz angedeuteten Erscheinungen ist es gemeinsam, dass sie nicht nur gemeinschaftliche Aktivitäten aus den persönlichen Zeitfenstern verbannen, sondern dass sie eine Beschleunigung aller Abläufe beinhalten. Nirgends wird das so deutlich wie in den visuellen Medien in Film und Fernsehen (soweit das von dieser Generation überhaupt goutiert wird, aber die Medien versuchen zumindest, sich ihr anzupassen) und natürlich auf dem Smartphone selbst: Immer raschere Bild- und Themenwechsel, kaum ein Innehalten, kaum Konzentration und Geduld herausfordernd, sondern sie geradezu verhindernd. Man könnte die Beobachtungen fortsetzen in den Kulturbereich von Kunst, Musik und Literatur, die aufgrund des ihnen innewohnenden langsameren Tempos zunehmend „veralten“. Wenn ein Projekt zu erfinden wäre, welches Bildung und Aufklärung reduzieren soll, so wäre kaum etwas Effektiveres denkbar als das soeben Beschriebene.
Fazit: digitale Dauerpräsenz mit zunehmender Beschleunigung des Alltags und abnehmenden Gemeinschaftsaktivitäten, Verlust am Erlernen individueller körperlicher und geistiger Fähigkeiten von klein auf führen zu einem Mangel an Fähigkeiten und an Selbstbewusstsein, zu einem Mangel an persönlicher und gemeinschaftlicher Souveränität, zu realen geistigen Abhängigkeiten, also zu dem konstatierten Ohnmachtsgefühl. Der Pessimismus dieser Generation (bzw. von wachsenden Teilen davon!) ist eine logische Folge. Das ist ein Verlust an Demokratie, denn diese ist nur mit individuell fähigen, selbstbewussten und gemeinschaftsorientierten Bürgern möglich. Da könnte man auch als Alter pessimistisch werden. Oder sich für ein anderes Um und Auf für die Jugend bemühen.
12.04.2024 Künstliche Intelligenz
…gibt es nicht. Es gibt künstliche Gedächtnisse, Datenspeicher. Und es gibt anthropogene Algorithmen, also menschengemachte Verknüpfungsbefehle zwischen den Daten. Das ist alles. Aber es ist schlimm genug, wenn man die Datenspeicher und die Algorithmen mit sich alleine lässt, denn ihre Lernfähigkeit erstreckt sich nur auf vorgegebene Wenn-dann-Beziehungen und mathematische Regeln, wie komplex diese auch immer sein mögen, nicht auf eigene Einsichten (Intelligenz), nicht auf datenunabhängige Werturteile. Oder glaubt jemand im Ernst, man könne Ethik logisch-mathematisch erfassen? Und wenn es so wäre: welche Ethik? Die des Konfuzius oder die der Menschenrechtserklärung? Die des Talmuds oder des Korans? Die von Spinoza oder von Kant? Auch die sogenannte Lernfähigkeit von binären Programmen ist nichts anderes als eine vorbestimmte Wenn-dann-Beziehung zur Interaktion mit Benutzern: wenn ein User x-mal dies oder das getan hat, dann reagiere wie folgt… Nichts basiert auf „Einsicht“ der Maschine, alles auf menschengemachten Programmschritten, deren „Lernfähigkeit“ mit dem Projektabschluss des Programmierers beendet ist.
Die Gefährlichkeit von Rechenprogrammen, die zu exekutiven Entscheidungen befähigt sind, besteht in den Konsequenzen, die aus den Datenmengen und den damit verbundenen Rechenschritten folgen können. Die Rechenprogramme haben als tote Maschinen keine eigenen Empfindungen oder Interessen, keine eigenen Motive, Wünsche oder Ängste. Sie geben Antworten auf Fragen unter Berücksichtigung sehr vieler, aber niemals vollständiger und vielleicht sogar fehlerhaft programmierter Randbedingungen. Niemand kann jemals ausschließen, dass eine entscheidende Information oder ein entscheidender Rechenschritt „vergessen“ wurde, einzubauen. Und die Maschinen wissen nicht, was sie tun, wenn man ihnen erlaubt, etwas zu tun. Es ist nicht anders als bei schon lange z.B. im Ingenieurwesen eingesetzten Simulationsprogrammen: Der Anwender muss sowohl die Eingabedaten als auch die dem Algorithmus zugrunde liegende Theorie kennen, um eine Plausibilitätskontrolle durchführen zu können. Die Erfahrung mit diesen vergleichsweise einfachen Rechenprogrammen lehrt, dass bereits kleine Änderungen bei der Dateneingabe oder neue Erkenntnisse, die zu einem etwas anderen Algorithmus führen, entscheidend andere Ergebnisse bewirken können. Ingenieure, die mit Simulationsprogrammen arbeiten, wissen, dass eine „Simulationsgläubigkeit“, die gerne bei Jungingenieuren anzutreffen ist, ohne Plausibilitätskontrolle durch erfahrene Ingenieure keine Entscheidungsbasis sein darf.
Deshalb müssen diese Maschinen bleiben, was sie sind: Diener des Menschen. Ihre Ergebnisse müssen Vorschläge bleiben. Sie können und sollen als Diener, als Hilfsmittel eingesetzt werden, um die Begrenztheit des menschlichen Gedächtnisses und seiner Kombinationsmöglichkeit zu erweitern, aber es muss ihnen verboten bleiben, selbst Entscheidungen zu fällen, die das öffentliche Leben (oder Sterben!) betreffen. Das bleibt die Aufgabe von Menschen, an deren natürliche Intelligenz damit wachsende Anforderungen gestellt werden: denn die Anwender der „künstlichen Intelligenz“ müssen wissen, welche Daten und welche Algorithmen ihrem digitalen Diener eingepflanzt wurden, damit sie seine Antworten auf ihre Fragen einordnen und ihnen folgen können – oder auch nicht, weil der Computer z.B. irgendeine Selbstverständlichkeit nicht „wissen“ konnte. Ohne diese Kontrolle würden wir uns in verantwortungsfreie Abhängigkeiten begeben.
28.03.2024 Fakten statt Panik in der Klima- und Wirtschaftspolitik
Die derzeitige Stagnation der deutschen Wirtschaft fällt in das Ressort des derzeitigen Vizekanzlers. Seine Wirtschaftspolitik steht unter dem Leitmotiv Klimapolitik, wenn auch offensichtlich mit ziemlich unruhiger Hand geführt. Deshalb wird hier noch einmal an ein paar wesentliche Fakten in Sachen Klimawandel erinnert, die es nahelegen, eine ruhigere Hand zu behalten. Ausführlicher wird das Thema unter der Überschrift Klimawandel genauer betrachtet.
Weniger als 1 % der Luftmoleküle haben eine „Treibhauswirkung“. Ohne diese Gase läge die mittlere globale Temperatur aber nicht bei + 15 Grad, sondern eher bei – 15 Grad Celsius. Das verdanken wir CO2, Methan, Lachgas, Fluoriden und Wasserdampf. Letzterer ist quantitativ das wichtigste Treibhausgas, aber praktisch unabhängig von menschlichen Aktivitäten. Rechnet man das schwächere H2O und die stärkeren anderen Gase in CO2-Äquivalente um und unterstellt, dass der CO2-Anstieg seit 80 Jahren komplett anthropogen ist, dann sind heute ca. 10 – 12 % aller Treibhausgase anthropogen. Ca. 10 % davon resultieren übrigens allein aus der Atmung von 8 Mrd. Menschen. Da wir wohl kaum jeglichen Treibhausgasausstoß vermeiden können, reduziert sich unser Einfluss auf wenige Prozentpunkte bezogen auf alle treibhauswirksamen Gase in der Atmosphäre. Das sollte nicht zur Sorglosigkeit, aber zu etwas mehr Bescheidenheit und Ruhe veranlassen.
Nebenbei: manche wissenschaftlichen Quellen verweisen darauf, dass gemäß IPCC-Unterlagen höhere Konzentrationen von CO2 als ca. 300 ppm zu deren relativ abnehmender Treibhauswirkung führen. Das würde der Panik weiteren Boden entziehen; es kann hier aber fachlich nicht angemessen bewertet werden.
Wichtig ist die Beobachtung, dass das CO2 in der Atmosphäre (seit den 1950er Jahren durch eine Station auf Hawaii gemessen) zwar kontinuierlich gestiegen ist, von 300 auf heute 420 ppm; ein leichter CO2-Anstieg hat wohl schon etwas früher begonnen. Der globale (diskontinuierliche!) Temperaturanstieg wird aber seit ca. 1880, bzw. nach neueren Erkenntnissen seit ca. 1860 registriert. Er ist dem CO2-Anstieg vorausgegangen, kann also nicht seine Folge sein. Das ist ganz normal in der Klimageschichte der letzten Jahrhunderttausende: Wärmeres Wasser kann weniger CO2 speichern als kälteres. Wenn es wärmer wird, speichern die Ozeane irgendwann das CO2 aus der Luft nicht mehr ein, sondern geben es an sie ab, was dann sekundär die weitere Erwärmung beschleunigen mag. Die Erwärmung ab 19. Jahrhundert hat in den ersten Jahrzehnten ohne CO2-Anstieg stattgefunden. Die frühe Industrialisierung hat mit ihren ungefilterten Rauch- und Ruß-Emissionen sogar kühlend gewirkt, sodass sie die damals anders verursachte Erwärmung eher gebremst hat. Heute begünstigen die umwelttechnisch sinnvollen Industriefilter tendenziell eine Erwärmung dank der sauberen Luft.
Die Vielzahl der Einflüsse auf das Klimageschehen ist in ihrer Komplexität bis heute nicht völlig verstanden. Es gibt kurz- und langfristige Unregelmäßigkeiten von Sonnenaktivitäten, regelmäßige Umlaufungenauigkeiten unseres Planeten um die Sonne, variable Meeresströmungen u.v.m.. Die Eis- und zwischenliegenden Warmzeiten der letzten Million Jahre hatten eine Temperaturdynamik mit oft mehreren Grad-Sprüngen innerhalb eines Jahrhunderts. Allein nach dem Ende der letzten Eiszeit vor ca. 11.000 Jahren hat es mind. 30mal ein Auf und Ab von ca. 2 Grad gegeben (ohne anthropogenes CO2) – also ungefähr das, was wir heute auch beobachten. Das ist der Normalfall. Es gibt kein stabiles Klima und die Schwankungen waren früher oft stärker und schneller als heute. Das 19. Jahrhundert war eher kühl, während es im Mittelalter und zur römischen Kaiserzeit so warm war wie heute. Als die Landwirtschaft „erfunden“ wurde, war es jahrtausendelang wärmer als heute. Das alles haben Eisbären und Korallen überlebt.
Ich schließe daraus: Natürlich sollen wir unseren CO2-Ausstoß drosseln, aber nicht uns selber dabei erdrosseln. Die größere Aufgabe ist es, sich mittelfristig auf einen etwas wärmeren Globus einzustellen, wie überhaupt auf unbeeinflussbare Klimaschwankungen. Das musste die Menschheit schon immer und es ist ihr früher oft nicht gut gelungen, sondern hat zum Untergang von Kulturen oder ganzen Völkern geführt hat. Bei 8 Mrd. Menschen ist die Aufgabe noch anspruchsvoller. Wir haben heute zwar bessere technische Möglichkeiten als frühere Generationen. Aber wir müssen verstehen, dass wir das Klima nicht so regulieren können als wäre es eine Maschine mit den IPCC-Empfehlungen als Bedienungsanleitung. Wir müssen uns anpassen an Veränderungen. Dazu brauchen wir Frieden und internationale Kooperation statt Machtpolitik und Krieg.
Für die Tagespolitik und auch die mittel- und langfristigen Perspektiven bedeutet das unter anderem: mehr Gelassenheit, Toleranz und Technologie-Offenheit in der Energiepolitik und mehr Friedens- und Kooperationsbereitschaft in der internationalen Politik
21.03.2024 Einstaatenlösung
Der Philosoph Omri Boehm hat gestern den Buchpreis für Europäische Verständigung erhalten.
https://www.tagesschau.de/kultur/buchmesse-leipzig-136.html Zentral dafür war wohl seine Vision für eine Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt. Er sieht eine Zweistaatenlösung als mittlerweile sehr unrealistisch, weil mit zwei ungleich starken Staaten, die dann entstehen würden, keine Gleichheit, sondern weitere Unterdrückung wahrscheinlich wäre. Außerdem habe ein palästinensischer Staat nach den aggressiven Landnahmen der jüdischen Siedler ja praktisch kein lebensfähiges Territorium mehr. Diese Sicht ist sehr verständlich und nachvollziehbar. Boehm plädiert für einen föderalen Staat mit zwei autonomen Nationen in eigenen Territorien auf Basis einer gemeinsamen Verfassung. https://de.wikipedia.org/wiki/Republik_Haifa
Auch das ist sehr verständlich und nachvollziehbar. Es würde allerdings bedeuten, dass der israelische Staat sein Selbstverständnis als jüdischer Staat mit ungleichen Rechten für Juden und Nichtjuden aufgeben müsste. Und es bleibt auch hier offen, welches Territorium ein autonomer palästinensischer Staatsteil beanspruchen dürfte, angesichts der westjordanischen jüdischen Siedlungen.
Insofern ist dieser Vorschlag wohl wirklich eine Utopie – als was er sich ja auch selbst versteht. Aber wenn man schon das Feld der Utopie betreten hat: warum muss man dann noch zwei Nationen innerhalb eines Staates fordern, mit jeweils eigenen Territorien, also auch Umsiedlungen? Etwas ähnliches wurde 1947 (fast zeitgleich mit der Gründung Israels!) in größerem Maßstab auch mit Indien und Pakistan praktiziert: religiös begründete territoriale Umsiedlungen und Souveränitäten – mit bekannten gewalttätigen Folgen bis heute! Warum kann man nicht einen Staat anstreben, in dem alle Bürger unabhängig von ihrer Religion und Ethnie gleiche Rechte und Pflichten und Freiheiten haben? Ja, das ist von den meisten der heute lebenden Israeli und Palästinenser offenbar zu viel verlangt. Aber es ist wohl die einzige Utopie, die im Namen des Friedens und der Demokratie anzustreben ist.
09.03.2024 Aus Opfern werden Täter
Das ist ein seltsames Phänomen. Wer Opfer von Gewalt, Unterdrückung, Diskriminierung etc. geworden ist, sollte eigentlich den Schluss daraus ziehen, dass damit generell Schluss sein muss, wenn es für ihn vorbei ist. Aber nicht selten wird ein Opfer zum Täter, wenn er Gelegenheit dazu bekommt. Elias Canetti beschreibt das auf der individuellen Ebene mit einem „Stachel“, den eine Befehlsunterwerfung setzt, ein Stachel, der weitergegeben werden will. Ähnliches scheint es auch auf der kollektiven Ebene zu geben. Opfer von Massen- oder Völkermord, oder von nationaler Diskriminierung, können zu Tätern werden, so als müssten sie einen Stachel weitergeben. Und zwar nicht notwendig den ehemaligen Peinigern, sondern als generelle Haltung zur Selbstbehauptung.
Ein krasses Beispiel ist die jahrhundertelange Unterdrückung der Juden in der europäischen Geschichte, die im Holocaust durch den Nationalsozialismus ihren Höhe- (bzw. Tief-) punkt erreichte. Aber sie zog die Unterdrückung und Entrechtung eines ganz anderen Volkes nach sich, indem und nachdem der Staat Israel gegründet wurde, was im derzeitigen Völkermord in Gaza kulminiert. Hier müssen keine Details ausgebreitet werden; wer wissen will, weiß, dass Israel von Anfang an und nach eigenem Selbstverständnis ein jüdischer, also kein konsequent demokratischer Staat ist, mit stark verminderten Rechten für die einheimische nichtjüdische Bevölkerung. Und er weiß, dass Israel von Anfang an und kontinuierlich durch seine Geschichte Landraub und Willkür gegenüber den Nichtjuden praktiziert hat. Mit diesen Feststellungen werden umgekehrte Gewalttätigkeiten nicht gerechtfertigt oder bewertet; sondern es wird nur die israelische Aktivität benannt, die mit Vertreibung und Entrechtung von Nichtjuden begann und die in einem Vernichtungswerk gipfelt, welches auch verbal von entsprechenden Absichten begleitet wird. Täter sind dabei nicht nur verantwortungslose Führer, sondern wahrscheinlich eine Mehrheit der Bevölkerung. Wie ist nach einer eigenen kollektiven Vernichtungs-Erfahrung solche kollektive Praxis möglich?
Etwas historisch ganz anderes, aber vielleicht psychologisch ähnliches sehen wir zur Zeit in der Ukraine. Russland war und ist eine politische Macht aus eigener Kraft, die sich aber international oft missachtet gefühlt hat und tatsächlich auch oft angegriffen wurde. Napoleon hat eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Die Hohenzollern- und Habsburger-Kaiser haben das Ende des Zarenreichs maßgeblich mitbewirkt. Die nachfolgende Sowjetunion ist von Hitlerdeutschland nicht besiegt, aber massiv geschädigt worden, was uns Deutsche zu schuldhaftem Gedenken und Respekt vor dem Sieg über die Nazis verpflichtet. Aber auch wenn wir statt dieses Respekts seit 30 Jahren Gelegenheiten zur Ablehnung und Einkreisung Russlands suchen und finden – gäbe es umgekehrt doch Anlass für Russland, aus eigener Erfahrung den Frieden höher zu schätzen als politische oder nationalistische Programme. Aber wir erleben, dass der Kreml die Gelegenheit für günstig hält, mit militärischen Mitteln eine nationale Größe wiederzuerlangen, die Russland früher einmal – ebenfalls mit militärischen Mittlen – erlangt hatte. Auch hier begleiten nicht nur die Reden der Führer, sondern eine mehr oder weniger gleichgültige Zustimmung einer Bevölkerungsmehrheit die Taten.
Natürlich sind die von Russland und von Israel zur Zeit geführten Kriege aus eigener Sicht Verteidigungskriege, wie das ja alle Kriege für sich reklamieren… Und natürlich sind die Argumente dafür nicht frei erfunden. Der abscheuliche Massenmord der Hamas im Oktober 2023 ist durch nichts zu rechtfertigen; die Ausweitung der westlichen Einflusszonen Richtung Russland waren eine machtpolitische Provokation – aber kein Angriff, auch wenn der provozierte Krieg danach durch Waffenlieferungen befeuert wird. Aber beides, der Hamas-Angriff auf Israel und die politische Einflussnahme in der Ukraine rechtfertigen nicht den Völkermord gegen Palästina und sie rechtfertigen nicht den Krieg gegen die Ukraine.
Die Frage an dieser Stelle ist nicht, wen sollen wir unterstützen? Auf welche Seite sollen wir uns schlagen? Sondern meine Frage ist: wie ist es möglich, dass (historisch unterschiedliche) Opfer zu solchen Tätern werden? Müsste nicht gerade eine Opfer-Erfahrung Anlass zu Friedfertigkeit sein? Ich habe keine ausreichende Antwort. Ganz offenbar fehlt es zumindest an einer notwendigen Erziehung zum Frieden. Die militärisch aktive Realität wird diese Fehlstelle weiter aufreißen. Trotzdem rufen in solchen Zeiten manchmal Stimmen zum Frieden, die sonst geschwiegen hätten. Sie müssen lauter werden; welchen Trost, welche Möglichkeit haben wir sonst?
29.02.2024 Politik schlägt Realität
Die Energiepolitik forciert seit über 20 Jahren eine Dekarbonisierung mit dem Argument des anthropogenen Klimawandels: der CO2-Ausstoß muss minimiert, am besten eliminiert werden. Nachdem wegen der Ölkrise bereits seit fast einem halben Jahrhundert die Wärmedämmung bei Neubauten sinnvollerweise verbessert wurde, kam seit fast einem Vierteljahrhundert eine Bewertung des Primärenergiebedarfs hinzu: Bei Baugenehmigungen werden seitdem Hindernisse aufgestapelt, um die fossilen Energieträger zu verdrängen. Diese Hindernisse wachsen dank intensiver Panik-Propaganda inzwischen turmhoch und haben bald Verbotswirkung. Als Alternativen gelten regenerative Energien, also Biomasse und Erd- oder Luftwärme, d.h.: erdgebundene Energieanbauflächen und umfassender Einsatz von elektrisch betriebenen Wärmepumpen.
Unabhängig davon, ob Wärmepumpenbetrieb überall möglich ist oder auch nur ermöglicht werden kann, stellt sich die Frage, ob die regenerativ erzeugte Elektrizität, also Wind- und Sonnenenergie, für die Gebäudeheizung, also vor allem im Winter (!), überhaupt im nötigen Umfang bereitgestellt werden kann. Diese Frage war für die Politik allerdings kein Hindernis, bereits eine praktische Antwort zu geben und alle anderen Energiequellen, d.h. fossile Stromerzeugung, nukleare Stromerzeugung, Kohle-, Öl- und Gasnutzung mit zunehmender Geschwindigkeit aus dem Verkehr zu ziehen. Strom und Wärme werden schon irgendwo herkommen, wenn die Politik das beschließt. Vielleicht aus französischen Atomkraftwerken oder amerikanischen Fracking Gas Lieferungen? Als Übergangstreibstoff gibt es ja noch das Palm- und Rapsöl, mit dessen Erzeugung die überflüssigen Weizenfelder und die unnützen tropischen Regenwälder endlich vernichtet werden…
Als wäre es mit elektrischer Gebäudeheizung noch nicht genug: auch der Autoverkehr wird elektrifiziert. Selbst vorausgesetzt, die für den explodierenden Batteriebedarf erforderlichen seltenen Elemente seien in ausreichendem Maß zu finden und friedlich und sozial verträglich (?!) abzubauen: Wie viele Windrad-Parks und Solarmodulflächen in der Flächengröße wie vieler Bundesländer brauchen wir, um sowohl für die Gebäudeheizung als auch für den gesamten Verkehr annähernd genügend Strom zu produzieren? Und selbst wenn das realisierbar wäre, wird man feststellen, dass das Stromnetz – hierzulande aus gutem Grund unterirdisch verlegt – zusammenbrechen wird. Die bestehenden Netze sind auf die dann gefragten Leistungen für Millionen Wärmepumpen und hunderttausende Ladestationen nicht ausgelegt. Das gesamte Stromnetz in Deutschland muss für diese Abnehmer erneuert werden, was nicht nur Jahrzehnte und zig Milliarden Euro braucht, sondern vor allem die Fachleute, die das praktisch realisieren. Die stehen in Deutschland bei weitem nicht zur Verfügung, außer es regnet plötzlich Tiefbau- und Elektrofirmen. Ein möglicherweise kreativ zu schaffendes „Sondervermögen“ allein baut jedenfalls keine Leitungsnetze; das müssen schon Menschen tun.
Bis zum Eintreten dieses Wunders stellt sich die Frage, wie der Verkehr funktionieren soll, wenn fossil betriebene Pkw und Lkw (!) schon bald nicht mehr hergestellt werden. Ah ja: mit (Elektro-)Bikes, die sowieso schon überall Vorfahrt haben und mit öffentlichen oder auch privaten Nah- und Fernverkehrszügen, die bekanntlich auch keinen Strom verbrauchen. Dazu passt, dass das Schienen- und Zugnetz, wie jeder weiß, gerade massiv ausgebaut wird. Die vielen arbeitslosen Zugführer scharren bekanntlich schon mit den Füßen…
Aller guten Dinge sind drei; setzen wir also noch einen weiteren Stromabnehmer auf die Tagesordnung: die Digitalisierung einschließlich künstlicher Intelligenz. Kaum einer der Protagonisten dieser Zukunftsaufgaben macht sich klar, welcher zusätzliche Elektrizitätsbedarf damit auf die Volkswirtschaft zukommt. Das tägliche Aufladen der Smartphones mag vielleicht noch von der gleichzeitigen Einführung der LED-Technik kompensiert worden sein. Aber mit dem Aufbau von KI, die nicht nur zu Betrügereien bei Schulaufsätzen und Bachelorarbeiten ermuntert, sondern vor allem die ganze Informations- und Kommunikations-Branche bis hin zur produzierenden Industrie auf den Kopf stellen kann, wird ein Stromfresser geschaffen, der es mit dem Energieverbrauch von Leopard-Panzern (für ein paar wenige, aber komplexe KI-Anwendungen!) locker aufnehmen kann. Das Thema Militär und Kriegsführung wollen wir anlässlich dieses Vergleichs im Zusammenhang mit Energie- und CO2-Politik lieber nicht vertiefen.
Aber gemach, gemach: es wird schon alles nicht so schlimm kommen. Denn die Bauwirtschaft befindet sich inzwischen ja auf der Bremsspur dank der politisch gewollten bürokratischen Hürden. Auch wenn diese Hürden und manche Fördertöpfe im Sinne der Echternacher Springprozession (zwei Schritte vor und einer zurück) gelegentlich rückgebaut werden, bleibt die Tatsache fehlender Planungssicherheit bestehen, was auch nicht zu langfristigen Investitionen einlädt. Diese Politik hat aber den unschätzbaren Vorteil, dass dadurch die vielen Wärmepumpen und neuen Elektronetze doch nicht so schnell und so massenhaft gebraucht werden, wie es politisch angekündigt war: welch hinterlistiger politischer Weitblick! Die Knüppel im Baugenehmigungsverfahren sind sozusagen eine flankierende Maßnahme zu den mangelnden Ressourcen beim Elektrizitätsaufbau. Klug eingefädelt! Dass die Wohnungssuchenden dabei zu kurz kommen – sogar das passt ins ideologische Bild; schließlich ist der Wohnraumbedarf pro Kopf in den letzten Jahrzehnten so gewachsen, dass er im Interesse einer nachhaltigen Umweltpolitik wieder reduziert werden sollte. Sicher wird man auch noch andere Wege zur sozialen Bescheidenheit finden, um den Energieverbrauch zu senken… Wenn das keine ausgewogene und zielgerichtete Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ist!
Kurz: wer alle ideologischen Worte und Taten zusammennimmt, mag für die tiefe politische Weisheit, die in den vielleicht nur vordergründig widersprüchlichen Erscheinungen steckt, dankbar sein. Wem das nicht einleuchtet, der wird allerdings die prophetische Weitsicht eines Schlagers bewundern, der vor fast 40 Jahren „Kinder an die Macht“ gefordert hatte. Sollten wir nicht lieber mal „Ingenieure an die Macht“ fordern? Es müssen ja nicht gleich, wie seinerzeit von Platon gewünscht, Philosophen an der Staatsspitze sitzen, von denen vielleicht auch nicht mehr Realitätssinn zu erwarten wäre als von einigen unserer politisch philosophierenden Volksvertreter. Es würde schon genügen, wenn mehr Menschen mit praktischen Berufserfahrungen und realistischen Konzepten im Sinne des Gemeinwohls Entscheidungen treffen würden.
08.02.2024 Demokratieförderung?
Im März 2023 hat die Bundesregierung dem Bundestag einen Entwurf zu einem Demokratiefördergesetz (DFördG) vorgelegt. Es soll „Vielgestaltung, Extremismusprävention und politische Bildung“ fördern. Klingt gut. Ein Blick in die Zielsetzungen zeigt ausschnittweise zum Beispiel folgendes (ausführlich siehe https://dserver.bundestag.de/btd/20/058/2005823.pdf ):
„Aufgrund der derzeitigen gesellschaftlichen Situation, die eine zunehmende Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch unterschiedliche Formen des Extremismus sowie eine sich in Teilen der Gesellschaft verfestigende demokratiefeindliche und gegenüber staatlichen Institutionen ablehnende Haltung erkennen lässt, ist es aktuell wichtiger denn je, eine tragfeste Grundlage für die Durchführung von eigenen Maßnahmen des Bundes und der Förderung von Maßnahmen Dritter in Form zivilgesellschaftlichen Engagements für die Demokratie zu schaffen. Unter anderem Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Islam- und Muslimfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit, Sexismus, Behindertenfeindlichkeit und Extremismen wie Rechtsextremismus, islamistischer Extremismus, Linksextremismus sowie Hass im Netz, Desinformation und Wissenschaftsleugnung und die gegen das Grundgesetz gerichtete Delegitimierung des Staates zeigen die Vielzahl demokratie- und menschenfeindlicher Phänomene auf. Die Regelungen des Gesetzes zielen daher darauf ab, die weitere Verbreitung solcher Phänomene und extremistischer Tendenzen frühzeitig zu verhindern, Radikalisierungsprozesse rechtzeitig zu unterbrechen und damit einhergehend das Bewusstsein für demokratische Werte und demokratische Kultur sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig zu fördern und zu stärken. Die Bekämpfung extremistischer politischer Ansichten und Absichten sowie die Förderung gesellschaftlicher Akzeptanz für den demokratischen Rechtsstaat sind nicht allein Gegenstand gesellschaftlicher Selbstorganisationen, sondern gehören auch zu den Aufgaben des Bundes.“
Die Aufzählung der Probleme macht schon deutlich, dass es hier um eine bestimmte politische Stoßrichtung geht, die nur auf den ersten Blick neutral demokratisch ist. Wie kann zum Beispiel „Queerfeindlichkeit“ und „Wissenschaftsleugnung“ im selben Topf Platz finden? Das geht nur, wenn man die Zweigeschlechtlichkeit der Menschheit als Wissenschaftsleugnung bezeichnet. Und sind Rassismus, Antiziganismus, Frauenfeindlichkeit, Behindertenfeindlichkeit etc. wirklich die aktuellen Themen, die unsere Demokratie bedrohen und ein entsprechendes Gesetz erfordern? Das kann nur glauben, wer mit diesen Themen, warum und wozu auch immer, inhaltliche Propaganda betreibt. Mit solchen Themen wird seit einiger Zeit eine Spaltung und Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft betrieben.
Werfen wir noch einen kurzen Blick auf das Gesetzgebungsverfahren. Der Bundesrat hat unter anderem dazu festgestellt:
„In dem gesamten Gesetzentwurf findet sich keine Bezugnahme zum Landesrecht sowie zu den Maßgaben des Subsidiaritätsprinzips wieder. Es bedarf daher entsprechender Ergänzungen an mehreren Stellen, zur Klarstellung der Beteiligung der Länder sowie zur Erläuterung des Verhältnisses von Bundes- und Landesmaßnahmen.“
Was die Bundesregierung zu dem Hinweis veranlasst hat:
„Die Bundesregierung lehnt die Aufnahme einer Bestimmung zur Unterrichtung der Länder über landesspezifische Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung von Programmen und vergleichbaren Maßnahmen ab.“
Kurz: der Bund will sich von den vielleicht politisch unzuverlässigen Ländern nicht reinreden lassen in die Projekte, die er finanziell fördern will. Vorgesehen ist zunächst die Kleinigkeit von 500 Mio. € in einer Legislaturperiode, siehe hier § 8 (2) https://www.netzwerk-courage.de/wp-content/uploads/2023/05/BAGD_Entwurf_DFoerdG.pdf
Und der Bund (zum Teil auch das Land NRW) tut es ja seit längerem bereits auch ohne dieses Gesetz, im Verein mit finanzkräftigen Stiftungen. In diesem Zusammenhang sind Erscheinungen wie die Bürgerräte zu sehen und auch die derzeit massenhaften Demonstrationen gegen rechts, die durch die Aufdeckung einer Verschwörung durch die Aufklärer von „Correctiv“ ins Leben gerufen wurden. Alles Bewegungen „aus der Mitte der Gesellschaft“ heraus, wie Amtsträger bis in höchste politische Ämter hinein gerne öffentlich behaupten. Da sollte man doch genauer hinschauen.
Die Bürgerräte kommen nur dann aus der Mitte der Gesellschaft, wenn man den in mancher Hinsicht durchaus verdienstvollen Verein „Mehr Demokratie“ als Mitte der Gesellschaft sieht. Aber auch das nur mit Einschränkungen, denn die Finanzierung dieser von wenigen Menschen initiierten Bürgerräte geschieht von Anfang an sowohl mit öffentlichen Mitteln als auch mit Mitteln aus Stiftungen wie z.B. Schöpflin, Mercator u.a., was auf dieser Website unter „Bürgerräte“ genauer betrachtet wird. Aktuell wird gerade eine Initiative gegen Desinformation und Fake news ins Leben gerufen, die ebenfalls einen Bürgerrat einbeziehen will – finanziert von dem völlig uneigennützigen und die Mitte der Gesellschaft repräsentierenden Aufklärer „Bertelsmann-Stiftung“ https://www.buergerrat.de/aktuelles/mit-buergerrat-gegen-desinformation/ Wenn das von SPD und Grünen bisher ohne legislativen Abschluss vorangetriebene DFördG schon beschlossen wäre, hätte die arme Bertelsmann-Stiftung sicher noch mehr finanzielle Beinfreiheit für ihre Absichten.
Das gilt auch für andere Initiativen „aus der Mitte der Gesellschaft“, wie z.B. die Recherche-Firma „Correctiv“. Sie hat ein rechtsradikales Geheimtreffen ans Tageslicht gezerrt, das so geheim war, dass die Redakteure dieser Firma im selben Hotel problemlos ein Zimmer mieten, ungehindert aus- und eingehen und von verschiedenen Seiten die Protagonisten fotografieren konnten. Wie sie allerdings an den Wortlaut dessen kamen, was hinter der für sie selbstverständlich verschlossenen Tür des Versammlungsraumes gesprochen wurde, bleibt ein Rätsel. Aber ihren Recherchen müssen wir ja schon deshalb glauben, weil die zitierten Redner bislang nicht widersprochen hätten, was übrigens nur zum Teil stimmt. Eine schwache Quellenangabe.
Und was wurde gesagt? Einige als rechtsradikal bekannte Redner mögen manch Ekelhaftes von sich gegeben haben, das würde nicht überraschen. Im Wesentlichen ging es wohl darum, dass Ausweisungsbeschlüsse gegen Menschen ohne Bleiberecht in Deutschland auch durchgeführt werden. Von völkisch-rassistischen Absichten einiger Redner haben andere Teilnehmer sich distanziert, wenn auch manchmal mit sehr fadenscheinigen Verharmlosungsversuchen – was die Recherche-Firma und ihre politischen Freunde nicht daran gehindert hat, völlig überzogen vor einem neuen 1933 zu warnen und mit Panikmeldungen hunderttausende Menschen zu Demonstrationen gegen demokratisch gewählte politische Gegner der SPD und Grünen auf die Straßen zu locken.
Bei diesen Demonstrationen wurden dem politischen Gegner mindestens so viele Hass und Verschwindens-Forderungen entgegengebracht wie dieser Gegner solche gegenüber Migranten äußert. Bei aller Sympathie für Stellungnahmen gegen Nazis: um bevorstehenden Nationalsozialismus geht es hier und heute nicht. Wem unsere schwache und ideologisch motivierte Regierung nicht gefällt, der kann sie nächstes Jahr problemlos abwählen. Es stehen verschiedene Alternativen zur Verfügung. Aber wem sie gefällt – der will sie offenbar mit medial finanzierten Propaganda-Kampagnen im Amt behalten, wenn es mit normalen demokratischen Mitteln nicht geht. Ja, es gibt auch bei einigen der kritisierten politischen Gegner und bei manchen ihrer Wähler einen Mangel an demokratischem Willen – aber diese Leute führen weder blutige Straßenkämpfe durch wie vor 1933 noch pfeifen sie in ihrer großen Mehrheit auf demokratische Regeln. Schließlich haben wir auch keinen monarchistisch gesinnten Reichspräsidenten, der demnächst einen Hitler zum Kanzler ernennen wird, sondern einen Bundespräsidenten, der sich amtswidrig politisch positioniert und demokratische Konkurrenten öffentlich diffamiert. Darüber sollte man sich Sorgen machen. Denn dadurch werden – wie z.B. in Köln geschehen – andere Amtsträger ermutigt, der fristlosen Entlassung einer städtischen Angestellten zu applaudieren, die bei dem sogenannten Geheimtreffen anwesend gewesen sein soll – ohne dass ihr sonst irgendetwas vorgeworfen wird.
Werfen wir noch einen Blick auf die „unabhängige“ Recherche-Firma Correctiv. Sie wurde 2014 gegründet, finanziert aus dem Stiftungsvermögen eines deutschen Medien-Imperiums (WAZ) und beschäftigt über 60 Personen aus Mitteln von anderen Stiftungen wie Mercator, Schöpflin, Luminate, Rudolf Augstein, open society (Soros) u.a. sowie aus Bundes- und Landesmitteln. Darüber gibt sie selbst Auskunft https://correctiv.org/ueber-uns/finanzen/. Weniger Auskunft gibt sie über ihre Abhängigkeit von Meta (facebook), aber hierzu haben die Nachdenkseiten verdienstvoll recherchiert https://www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=84691 .
Wir sehen also: Die „Demokratieförderung“ im Sinne eines zeitgeistigen ideologischen Narrativs wird schon ohne das avisierte Gesetz auf den propagandistischen Weg gebracht. Mit Bürgerräten und anderen Medienkampagnen, die von interessierten Stiftungen mit privaten Geldern und von interessierten Politikern mit öffentlichen Geldern finanziert werden, wird an den demokratischen Institutionen vorbei Politik gemacht. Warum werden die für die „Demokratieförderung“ aufgerufenen zig Millionen Euro nicht dafür verwendet, den Grundgesetzauftrag für bundesweite Abstimmungen (Art. 20 GG) und für ein weniger von Parteien beeinflusstes Wahlrecht (Art. 21 + 38 GG) zu erfüllen?
01.02.2024 Demokratie demonstrieren oder praktizieren?
Hunderttausende Bürger demonstrieren gegen rechts nachdem eine Reihe von Politikern, zum Teil gewählte Abgeordnete, sich in einem angeblichen Geheimtreffen mit einigen als rechtsradikal bekannten Personen getroffen haben, um – niemand weiß genau, was – zu besprechen. Dagegen zu demonstrieren ist ein gutes Recht in unserer Demokratie. Dass dabei von nicht Wenigen Transparente getragen wurden, die dem politischen Gegner seine Bürgerrechte absprechen, ihn zum Schweigen bringen oder ausweisen wollen, stellt solche Transparentträger allerdings auf dieselbe Stufe wie die, gegen die sie demonstrieren.
Landauf landab hört man von der Notwendigkeit, sich mit dem politischen Gegner politisch auseinanderzusetzen. Aber wer (außer vielleicht Sahra Wagenknecht) tut es? Diejenigen, die historisch unpassende Vergleiche bemühen und sich über diesen Strohmann dann empören, tun es nicht. Sie wähnen sich als mutige Verteidiger der Demokratie als wäre 2024 eine Wiederkehr von 1932. Der Rechtsstaat wird zur Zeit aber weniger von Wählern einer rechten Partei bedroht als von einem bunten Mainstream, der sich als einziger Träger demokratischer Werte missversteht. Mit dieser Feststellung wird nicht umgekehrt die rechte politische Seite zum Demokratie-Träger geadelt, sondern es wird daran erinnert, dass das politische Spektrum in einer Demokratie breiter sein darf als das eigene Meinungsbild, solange keine Kriminalität oder Verfassungsbruch nachgewiesen sind. Und für solche Fälle haben wir eine Strafjustiz.
Ein Beispiel, das auch für andere steht: In Köln wird eine städtische Verwaltungsangestellte fristlos entlassen, weil sie bei einem Treffen rechtsgerichteter Politiker teilgenommen hat – ohne dass ihr persönlich ein konkreter Vorwurf gemacht wird. Linke und grüne Stadträte applaudieren öffentlich dieser Entscheidung. Wer gefährdet hier den Rechtsstaat? Empören sich dieselben Menschen mit derselben Entschiedenheit gegen deutsche Waffenlieferungen in Kriegsgebiete außerhalb unserer Bündnisstrukturen? Die Älteren unter uns erinnern sich, dass es einmal als Skandal galt, wenn Waffen auch nur in Krisengebiete geliefert wurden! Wo sind die Hunderttausende, die sowohl gegen die Verbrechen der Hamas als auch gegen den Völkermord der Israelis, der durch unsere Waffenbrüderschaft unterstützt wird, demonstrieren? Was sind in diesem Zusammenhang die richtigen Lehren aus den Verbrechen des Nationalsozialismus? Gegen „Rechts“ demonstrieren und die tatsächlich aktive Politik außer Acht zu lassen oder gutzuheißen, ist demokratisch berechtigt, aber alles andere als mutig. Darin zeigt sich eher opportunistisches Mitläufertum und vor allem ein Mangel an historischem Bewusstsein und aktueller Wahrnehmung.
Die gefährlicheren Akteure sitzen in der Regierung. Deren Bereitschaft zur Militarisierung nach außen korrespondiert seit Jahren mit einer Aggressivität gegen den politischen Gegner nach innen – und diese Stimmung wird maßgeblich getragen von einem sogenannt linken politischen Spektrum – bis hinein in die stattfindende angeblich antirassistische Kultur- und Sprachzensur. Dagegen Stellung zu nehmen erfordert mehr Mut und hat mehr Berechtigung als einen Nazi-Popanz zum Hauptfeind zu stilisieren. Es würde genügen, die echten Verfassungsfeinde unter diesen Leuten zu isolieren, sei es durch strafrechtliche Mittel, sei es – man höre und staune: durch inhaltliche Auseinandersetzung mit den Mitläufern, die sich nicht mehr von der politischen Hauptrichtung vertreten sehen ohne deshalb Nazis geworden zu sein. Aber mit Gleichgesinnten auf die Straße zu gehen ist natürlich einfacher als mit Andersdenkenden zu diskutieren.
19.01.2024 Wer vom Ziel nicht weiß…
…kann den Weg nicht haben. Diesen Gedichtanfang von Christian Morgenstern hat mein Vater gern zitiert, wenn auch nicht mit dem religiösen Gedanken, den der Dichter in der nächsten Strophe formuliert. Der Satz ist ja allgemeingültig. Dennoch streben manche Wege auch ohne ein gewusstes Fernziel in eine nicht zufällige Richtung. Dass sie sich dabei oft im Kreis drehen, wie Morgenstern ausführt, kann durchaus der Fall sein. Wir alle bewegen uns im Leben mehr oder weniger bewusst auf ein (oder mehrere) Ziel(e) hin. Der Individualpsychologe Alfred Adler hat den Begriff des Lebensstils geprägt, den ein Kind sich aneignet, um Anerkennung zu erlangen; der Mensch entwickelt in seinen ersten Jahren eine Gangart, die ihn von einem Minderwertigkeitsgefühl befreien soll – dieses Ziel erkennt der Psychologe in den individuell verschiedenen Gangarten, während der Mensch selbst sich oft andere Erklärungen für sein Handeln gibt. Dennoch besteht eine Logik zwischen gewähltem Weg und echtem Ziel des individuellen Lebensstils.
Adler gibt ein Beispiel aus seiner individualpsychologischen Beratungspraxis: „Betritt man ein Zimmer und sieht man, wie ein Mann allerhand merkwürdige Bewegungen an einem Gestell vornimmt, so dürfte man sagen, der Mann sei verrückt, denn warum sollte er solche absonderlichen Bewegungen machen? Begreift man aber, dass der Mann die Absicht hat, oben auf dem Gestell zu sitzen, so muss man alle seine Bewegungen als zweckmäßig ansehen. Vielleicht ist sein Ziel ohne jeden Wert, aber in Bezug auf sein Ziel sind alle seine Bewegungen richtig.“ Dieses Beispiel ist ein gutes Modell für das Verständnis von vielem, was um uns herum geschieht. Das Ziel wird für so selbstverständlich gehalten, dass man sich keine Rechenschaft darüber gibt, sondern man konzentriert sich nur auf den richtigen Weg zum nicht hinterfragten Ziel.
Betrachten wir zum Beispiel das Kriegsgeschehen, das unsere Welt wieder einmal in zunehmendem Maß belastet. Jeder vernünftige Mensch könnte die Bewegungen der Akteure für mehr oder weniger verrückt halten, wenn man einen „gerechten Frieden“ als Ziel unterstellt, den ja alle Parteien für sich beanspruchen. Der Partei der eigenen Präferenz glaubt man das auch gerne. Auf beiden Seiten. So kritisieren hierzulande Demonstranten zum Beispiel Waffenlieferungen in die Ukraine als kontraproduktiv mit Blick auf das Friedensziel; zu Recht, aber ohne Blick dafür, dass es tatsächlich einen russischen Aggressor gibt. Andere kritisieren zu wenige Waffenlieferungen als kontraproduktiv mit Blick auf ein Gerechtigkeitsziel; auch verständlich, aber ohne Blick dafür, dass hinter den Waffenlieferungen andere Interessen stehen als Frieden zu schaffen. Jeder kennt solche Diskussionen (sofern die Meinungsgegner überhaupt noch miteinander sprechen).
Die Auseinandersetzung wäre ehrlicher, wenn man die echten Ziele der Akteure in den Blick nimmt und nicht einfach einen falschen Weg beklagt, weil man stillschweigend falsche Ziele unterstellt. War es denn eine Friedensabsicht des Westens, die Ukraine schrittweise dem westlichen Bündnis anzugliedern und dem russischen Machtbereich auszugliedern? Hat unsere dilettantische Außenministerin nicht in einem Anflug von undiplomatischer Ehrlichkeit verkündet, es sei das Ziel, Russland zu ruinieren? Eine Kritik am falschen Weg zum Frieden geht fehl, wenn sie ein ganz anderes (nur manchmal formuliertes) machtpolitisches Ziel übersieht. Das gilt selbstverständlich auch umgekehrt. Einige meiner Freunde, die ich als intelligent und friedliebend kenne, haben sich entschlossen, Kritik an der Politik unseres Landes mit Kritikvermeidung an der anderen Seite zu verbinden. Russland wird als das angegriffene und verhandlungsbereite Opfer betrachtet, das seinen Krieg leider aus Selbsterhaltungstrieb führen müsse. „Was hätte Putin den tun sollen?“ habe ich von diesen Freunden oft gehört. Die deutlichen Reden der Kremlführung werden von diesen Freunden nur erschreckend selektiv wahrgenommen. Originalton Putin: „Es wird dann Frieden geben, wenn wir unsere Ziele erreicht haben, die Sie erwähnt haben. Lassen Sie uns nun zu diesen Zielen zurückkehren, sie ändern sich nicht. Ich erinnere daran, worüber wir damals gesprochen haben: Über die Entnazifizierung der Ukraine, über die Entmilitarisierung, über ihren neutralen Status.“ (Quelle: Anti-Spiegel 14.12.2023)
Das ausdrückliche Kriegsziel des Kremls ist also ein Regime-change in Kiew mit dem Ziel einer von Moskau bestimmten Politik, denn das immerhin demokratisch gewählte „Nazi“-Personal in Kiew kann ja nur ein Hindernis sein. (Wo ist der Unterschied zu den Aktivitäten der USA, die vorgaben, Länder wie Irak oder Libyen vom Terrorismus befreien zu wollen?) Logisch dazu passt die von Putin in anderen Reden oft beschriebene historische Sicht, gemäß der die Ukraine ohnehin kein selbständiger Staat sei, sondern überwiegend zu Russland gehöre. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass diese Sicht nichts anderes ist als eine Instrumentalisierung im Interesse von Machtpolitik (siehe z.B. Andreas Kappeler – Bibliothek).
Anders als bei der Erforschung eines individuellen Lebensstils durch den Psychologen liegen hier die Ziele gut sichtbar offen auf dem Tisch. Das ist nicht immer so. Manchmal muss der betroffene Bürger sich durch einen Berg von Propaganda graben, um das Richtige zu erkennen. Hier werden Ziele offen ausgesprochen, aber je nach eigener politischer Haltung nicht verstanden. (Diese Haltung wird unter dem Stichwort „Nationalismus“ genauer betrachtet.) Auch das meist nicht ganz so deutlich ausgesprochene Ziel des Westens wird von seinen Anhängern schlecht verstanden. Es geht nicht um die Verteidigung Westeuropas gegen Russland und es geht nicht um Frieden in der Ukraine – dann hätte man z.B. das Verhandlungsangebot im März 2022 nicht abgelehnt – es geht um die Schwächung Russlands. Während es auf der anderen Seite um die Stärkung und Ausweitung Russlands, nicht um seine Selbstverteidigung geht. Inwieweit die von beiden Seiten gewählten Wege im Hinblick auf ihre deklarierten Ziele so zweckmäßig sind wie in dem individualpsychologischen Beispiel Alfred Adlers bleibt angesichts der Zerstörungen und der geopolitischen Neuorientierungen in diesem Zusammenhang dahingestellt. Ethische Grundsätze stehen ohnehin im Abseits. Fest steht aber:
Beiden Seiten Friedens- oder nur Verteidigungsziele zu unterstellen, geht am Beispiel des Ukraine-Krieges an der Sache vorbei, was die Sache perspektivisch nicht einfacher macht. Beiden Seiten geht es um Machtpolitik, um eine vorwärts gerichtete Veränderung des Status quo zu den eigenen Gunsten. Das bestimmt den jeweiligen Weg unter „logischem“ Einschluss von Zerstörungen und hunderttausenden Toten. Nichts ist so berechtigt wie Kritik an diesen Zielen. Nach beiden Seiten. Aber eben: Diese Ziele muss man kritisieren, wenn man die dafür gewählten Maßnahmen, nämlich Krieg als Mittel der Politik, treffen will. Kritik an den kriegerischen Maßnahmen mit Unterstellung von eigentlich friedlichen Zielen, geht ins Leere. Deshalb muss die Kritik an der Kriegsführung schärfer werden: die echten Ziele aller Parteien sind beim richtigen Namen zu nennen! Und die Kritik wird grundsätzlicher, weil sie nicht nur eine Waffenruhe, sondern ein friedliches Zusammenleben trotz Interessengegensätzen als Ziel setzen muss. Und die Kritik wird schwieriger, weil die Friedliebenden per definitionem unbewaffnet sind. Die Tagesordnung ruft nach zivilem „Ungehorsam“, also nach persönlichem Mut und Gemeinschaftsgefühl.
08.01.2024 Demokratie ist kleinteilig, Souverän ist die Bürgerschaft
Souveränität heißt, allgemein gesprochen, dass ein Mensch auf die Entscheidungen Einfluss hat, die ihn betreffen. Im persönlichen Bereich sollte diese Souveränität gegen 100 % tendieren, denn wer sollte, abgesehen von ethischen Grundsätzen, das Recht haben, in meine persönlichen Entscheidungen einzugreifen? Allerdings beginnen hier bereits mit der Ehe, der Familie etc. die Einschränkungen. Da muss man sich einigen, soweit gemeinsame Themen betroffen sind. Da ist nicht nur einer, sondern zum Beispiel das Ehepaar der Souverän.
Im politischen Raum hat die Notwendigkeit zur Einigung und damit die Einschränkung der persönlichen Souveränität einen weit größeren Radius; hier geht es darum, dass eine politische Einheit souverän bleibt hinsichtlich ihrer inneren Angelegenheiten. Sofern von Demokratie die Rede sein soll, ist die Gesamtheit der Bürgerschaft der Souverän. Auch hinsichtlich übergeordneter Angelegenheiten muss diese Souveränität Bestand haben indem Vereinbarungen mit anderen politischen Einheiten unter dem Gesichtspunkt der Vertragsfreiheit stattfinden. Was übergeordnet zu regeln ist, entscheidet jede politische Einheit souverän selbst – unter Beachtung der Gefahr, dass bei zu viel „Übergeordnetem“ die Demokratie verlorengeht und bei zu wenig die Funktionalität. An anderen Stellen dieser Website (Kernthemen und Genauer betrachtet) wird ausführlicher auf die Souveränitätsabgabe der europäischen Staaten an eine Europäische Kommission eingegangen, welche sich keineswegs nur Entscheidungskompetenz für offensichtlich übergeordnete Angelegenheiten anmaßt, sondern im Namen von Effektivität und Konkurrenzfähigkeit nahezu alles für übergeordnet relevant erklären kann, weil die Staaten sie dazu ermächtigt haben.
Abgesehen davon, dass damit Demokratie beiseitegeschoben wird (was bezogen auf die EU manche verschämt als „Demokratiedefizit“ verharmlosen), darf man fragen, ob das Argument der Konkurrenzfähigkeit denn überhaupt stimmt. Gemäß internationalen Rankingagenturen sind Kleinstaaten wie die Schweiz oder Singapur die konkurrenzfähigsten. Bei der Schweiz handelt es sich um ein Musterbespiel direkter Demokratie, bei Singapur zwar nicht im selben Maß, aber immerhin ist der Stadtstaat ohnehin überschaubar. Manche sagen dazu: naja, das sind eben Kleinstaaten, als wären es unbedeutende Staaten abseits der Weltwirtschaft. Tatsächlich hat z.B. die Schweiz aber einen höheren Exportanteil als das Exportland Deutschland und steht unter den sogenannten Industrienationen auf einem Spitzenplatz hinsichtlich seiner Industrieproduktion pro Kopf, beim Wohlstand seiner Bürger sowieso.
Der Zusammenhang von funktionierender Demokratie und Wirtschaftskraft wird auf dieser Website unter Erfolgsmodell Schweiz genauer betrachtet. Die Europäische Union, die politisch vom „Demokratiedefizit“ lebt, schwächelt dagegen international, wobei Deutschland aufgrund seiner immer noch halbwegs föderalen Struktur zu den Stärkeren gehört. Das konkurrenzfähige Riesenland USA, ebenfalls und konsequenter als Deutschland föderal organisiert, lebt als ehemaliges Industrieland allerdings eher davon, dass der Dollar noch immer eine Leitwährung ist.
Was sagt uns dieser kurze Überblick? Demokratie ist wirtschaftlich hilfreich – aber nicht eine Sonntagsreden-Demokratie, sondern eine kleinteilig funktionierende. Anders kann sie gar nicht existieren. Sogar in der Schweiz wurde festgestellt, dass die Zusammenlegung von Gemeinden zu einem Verlust an aktiver Beteiligung durch die Bürger geführt hat. Wenn mein Einfluss in die Entfernung schwindet, verschwinde ich allmählich als aktiver Bürger. Und damit verschwindet demokratische Souveränität. Denn der Souverän ist die Bürgerschaft.
Nur am Rande: natürlich gehört zu der Übersicht, die der Bürger über seine öffentlichen Entscheidungen haben muss, Bildung und ständige Aufmerksamkeit. Aber umgekehrt ist es so, dass in politischen Systemen mit restriktiver Subsidiarität, also mit Zurückhaltung bei der Definition, was übergeordnet zu regeln sei, Aufmerksamkeit und aktives Interesse der Bürger lebendiger sind. Verbunden mit einem seriösen Bildungssystem ist dies der Humus für Demokratie und Wohlstand.
Fazit: die Souveränität muss bei der Bürgerschaft bleiben. Politische Einheiten dürfen Souveränität nicht abgeben, sondern müssen „außenpolitische“ Themen möglichst ab der Gemeindeebene in dauerhafter Vertragsfreiheit regeln. In Deutschland hat das Grundgesetz die Gesetzgebungskompetenz den Bundesländern, die eigene Staaten sind, zugeteilt – mit Ausnahme von explizit genannten Themen, die der Bund zu regeln hat und mit Rücksicht auf explizit genannte Themen, die Bund und Land „konkurrierend“ regeln sollen. Bei diesen zuletzt genannten hat der Bund zunehmend die Regie übernommen und diese dann weiter nach Brüssel delegiert. Hier läge also ein Ansatz, wie im Sinne des Grundgesetzes Souveränität zurückzuholen und Demokratie damit zu festigen wäre. Neben dieser Stärkung des grundgesetzlich gewollten, aber praktisch flüchtigem Föderalismus wären vor allem Reglungen zu echter Gemeindeautonomie zu entwickeln (siehe Genauer betrachtet – Die Gemeinde). Im Übrigen ist zwar gegen neue Parteigründungen, wie sie gerade gestern wieder stattgefunden haben, gar nichts einzuwenden, aber vielleicht wären solche demokratischen „Gehhilfen“ überflüssig, wenn unsere Demokratie direkter organisiert wäre – mit niederschwelligen Abstimmungsmöglichkeiten über alle Gegenstände, die auch unsere Abgeordneten (für uns) entscheiden dürfen, und zwar ohne sich dabei besonders sachkundig machen zu müssen oder auch nur zu können.