19.12.2023 Das Leben verteidigen
Wohl nie hat es global durchweg friedliche Verhältnisse unter den Menschen gegeben. Aber seit einigen Jahrzehnten werden Kriege als Mittel der Politik auch unter denen wieder hoffähig, die sich als Demokraten verstehen und seit wenigen Jahren eskaliert eine Kriegspropaganda und bestimmt die öffentliche Debatte auf eine Art und Weise, als wäre es verantwortungslos, Frieden ohne Waffen schaffen zu wollen – während doch jeder wisse, dass es nur mit noch mehr Waffen geht…
Und zwar auf beiden Seiten. Die einen befeuern die Waffenlieferung der eigenen Seite; sie haben im aktuellen Fall zumindest das Argument, dass die andere Seite, Russland, einen Krieg begonnen hat und ihn konsequent fortführt. Die anderen werben um Verständnis für die andere Seite; sie haben das Argument, dass die eigene Seite vorbereitend aggressiv gewesen war. Etwas mäßigend äußern sich offizielle Stimmen immerhin zu Israel, das den Völkermord als Antwort auf die Hamas-Verbrechen bitte nicht übertreiben möge.
Viele Bürger haben innerlich oder sogar öffentlich Partei für die eine oder andere Seite ergriffen und üben Kritik, sei es verbal, sei es mit Waffen, ausschließlich an der anderen Seite. Was geht da vor? Wo ist die Stimme des Friedens, die nicht im selben Atemzug die andere Seite anklagt, auch wenn es dafür 100 Gründe gibt?
Es gibt solche Stimmen, wenn auch zu leise oder zu wenig medial beachtet. Ein Beispiel sind die Combatants for peace. Die Kämpfer für den Frieden. https://afcfp.org/ Eine Bewegung, die von israelischen Soldaten gegründet wurde, die sich nicht mehr den Befehlen unterwerfen wollten, die nichtjüdische Bevölkerung in Israel und Palästina zu terrorisieren. Sie haben sich entschieden, Frieden zu schließen – nicht irgendwann in der Zukunft, sondern sofort. Sie haben sich entschieden, mit den Palästinensern, die ihre aktiven Feinde waren, zu reden und in Frieden zu leben. Denn auch auf palästinensischer Seite gab es Menschen, die nicht mehr Steine oder schärfere Waffen gegen ihre Besatzer richten wollten, sondern verstanden haben, dass man auch mit dem Feind reden und ihn verstehen lernen kann – und muss, wenn es Frieden geben soll.
Diese Menschen, Israelis und Palästinenser, die in den Kampf gegen einander geschickt worden sind, wissen, wovon sie reden, wenn sie das Ende des Kampfes, die Gewaltlosigkeit, das Verständnis und ein gerechtes gemeinsames Leben fordern. Denn sie waren Teil dieses gewalttätigen Kampfes und haben ihn aufgegeben. Sie haben verstanden und gehandelt. Mit diesem Schritt, der von jedem persönlichen Mut und Opfer fordert, sind nicht alle Probleme gelöst, sondern sie fangen erst an: wie geht das – ein gerechtes Leben? Aber immerhin kann man diese Frage jetzt stellen, wenn man die Waffen niedergelegt hat. Solange man sie in Händen hält, kann man nicht einmal diese Frage stellen. Wie sehr möchte man diese Einsicht, diese Intelligenz auch anderen aktiven Feinden wünschen, seien es Russen und Ukrainer, sei es wer auch immer.
15.12.2023 Wer vertritt mich?
Eine Demokratie ist ohne gewählte Abgeordnete in Entscheidungsgremien, die die Interessen der Bürger dort vertreten, undenkbar. Das gilt auch dann, wenn es umfangreiche Maßnahmen für sachliche Direktentscheidungen gibt. Und es gilt grundsätzlich auch dann, wenn sich in den Entscheidungsgremien aktuell Korruption, Lobbyismus oder Inkompetenz breitmachen.
Eine offenbar nicht korrupte Abgeordnete hat festgestellt, dass die meisten Bürger gar nicht wissen, wer sie in welchem Gremium vertritt und welche Entscheidungskompetenz dieses Gremium hat oder nicht hat. Kurz: sie hat eine große Ferne zwischen Bürger und Institutionen bemerkt und allein schon das als einen Grund für eine sogenannte Demokratieverdrossenheit vieler Bürger vermutet. Dem kann man wohl kaum widersprechen. Je größer die Entfernung zwischen Politiker und Bürger wird, desto weniger werden die Politiker vom Bürger gesehen und kontrolliert.
Deshalb hat Franziska Hollstein mit einem Team eine Plattform ins Leben gerufen, auf der für jeden Wahlkreis auf jeder Wahlebene (Gemeinde, Land, Bund) der/die aktuelle Volksvertreter/in genannt wird und auch die Zuständigkeiten erkennbar sind. https://www.demokratie-wegweiser.de/ Man möchte meinen, dass ein solches Informationsangebot, also praktisch ein Fernglas zwischen Bürger und Politiker, in einer Demokratie selbstverständlich sein sollte, aber tatsächlich bedarf es dazu offenbar einer privaten Initiative, die übrigens mit viel Arbeit verbunden ist – eine weitere Bestätigung für den Titel der Website, auf der Sie sich gerade befinden…
Auf der Website Demokratie-Wegweiser kann man seine eigene oder eine andere Adresse eingeben und bekommt die genannten Informationen geliefert – aber halt: die Daten sind noch alles andere als vollständig. Sie beziehen sich bisher nur auf Nordrhein-Westfalen und enthalten auch hier noch Lücken. Deshalb ist jeder an Demokratie interessierte Bürger aufgefordert, am Aufbau dieser wichtigen Datenbank mitzuarbeiten.
03.12.2023 Wir sind alle Menschen
Ein Vortrag von Frau Sumaya Farhat-Naser macht deutlich, wie man Gewaltfreiheit heute leben kann. Oder muss. Diese christliche Palästinenserin, Tochter einer aufrechten und willensstarken Analphabetin, in Deutschland promovierte Biologin, geehrt mit vielen Preisen wie dem Bruno-Kreisky-Preis, dem Hermann-Kesten-Preis, einer theologischen Ehrendoktorwürde u.a., unterrichtet ihre Landsleute und uns deutschsprachige Menschen in Seminaren und auf Vortragsreisen darin, was es heißt, in Frieden zu leben.
Sie kritisiert die israelische Besatzung ihres Landes und schildert schonungslos, wie das Leben unter der Besatzungsmacht aussieht – aber versucht auch unter widrigsten Umständen das Gespräch zwischen ihren palästinensischen Landsleuten und den jüdischen Nachbarn zu organisieren. Sie ist eine entschiedene Gegnerin von Gewaltanwendung und Korruption – aber weigert sich, gegen die gewaltbereite Hamas und die korrupte Fatah öffentlich Stellung zu nehmen. Warum? Weil wir gerade auch mit denen im Gespräch bleiben müssen! Wie können wir im Gespräch bleiben, wenn wir uns öffentlich distanzieren? Die Forderung nach Distanzierung kommt ja meist von denen, die selbst auf der anderen Seite gewalttätig sind oder dafür Verständnis haben. Unser Stolz und unser Wille zum Frieden verbieten uns aber, das Gespräch mit denen abzulehnen, die auf dem falschen Weg sind. Die Weigerung zur Distanzierung bedeutet nicht, dass wir dem falschen Weg zustimmen, sondern im Gegenteil: dass wir es ernst damit meinen, anderen den richtigen Weg zu zeigen. Denn dafür müssen sie uns zuhören. Aber wenn wir uns distanzieren, hören sie uns nicht mehr zu.
Diese Einstellung erinnert an die Rede von Eugen Drewermann (siehe Zwischenruf vom 22.11.2023), der mit Bezug auf die Bergpredigt davon gesprochen hat, dass wir Böses nicht mit Bösem vergelten dürfen, wenn wir das Gute voranbringen wollen. Darüber hinaus können wir von Frau Farhat-Naser noch etwas mehr lernen: die praktische Fähigkeit, das auch zu tun, den Mut und den Witz, die Menschen anzusprechen, nicht als gegnerische Soldaten, nicht als Propagandisten der Gewalt für die eine oder andere Seite, das ignorieren wir erst einmal, sondern als Menschen. Wenn wir überzeugt sind, dass jeder Mensch einen guten Kern hat und in Frieden mit seinen Mitmenschen leben will, dann brauchen wir „nur noch“ den Mut und die Empathie, jedem Mitmenschen diesen Spiegel auch vorzuhalten. Das wird ihm zu denken geben.
Das ist es, was Frau Farhat-Naser uns lehrt und was in den politischen Debatten bei aller intellektuellen Argumentationskraft sehr oft leider nicht vorhanden ist.
22.11.2023 Löwenherz Friedenspreis
Am 19.11.2023 wurde Frau Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz der „Löwenherz-Friedenspreis“ der NGO „Human Projects“ in Leipzig verliehen. Über die ca. dreieinhalbstündige Veranstaltung gebe ich folgenden Augen- und Ohrenzeugenbericht.
Der Veranstalter Karsten Enz begrüßt die ca. 150 Anwesenden Gäste im voll besetzten Kupfersaal. Er gibt einen kurzen Ausblick auf den Ablauf des Nachmittags und einen Rückblick auf die früheren Preisträger Eugen Drewermann, Dalai Lama, Michail Gorbatschow und andere. Er spielt kurze Interviewabschnitte mit Helmut Schmidt und Klaus von Dohnanyi ein, in denen diese die Ausdehnung der NATO nach Osten und die Provokation Putins durch Biden kritisieren.
Frau Krone-Schmalz erinnert in einer kurzen Begrüßung an ihre 2017 öffentlich vorgetragene Forderung, dass Krieg kein Mittel der Politik mehr sein dürfe, sondern in die Wüste geschickt gehöre.
Die musikalische Begleitung der Veranstaltung geschieht durch die Gruppe „Musik für den Frieden“, der ca. 60 deutsche und russische Musiker, Sänger angehören, von denen einige anwesend sind und bei der Veranstaltung mehrfach eindrucksvolle Darbietungen präsentieren. Genaueres über diese Gruppe kann man über www.musik-fuer-den-frieden.de erfahren. Außerdem werden im Verlauf des Nachmittags Video-Einspielungen mit bewegenden Antikriegs-Liedern gezeigt.
Der nächste Programmpunkt ist ein Gespräch, das Sabine Schiffers, eine Islamwissenschaftlerin und Professorin in Frankfurt am Main, mit Gabriele Krone-Schmalz und Eugen Drewermann führt. Eugen Drewermann kritisiert dabei die angebliche „Zeitenwende“ von Kanzler Scholz – das sei vielmehr ein Salto mortale zurück in alte Zeiten, so könne man keinen Frieden machen. Es gäbe keinen Weg zum Frieden, der Frieden selbst sei der Weg, anders würde man nie ankommen. Gabriele Krone-Schmalz beklagt die Geschichtsvergessenheit, die sich bei uns breit gemacht habe: Gorbatschow habe uns die Deutsche Einheit auf dem Silbertablett serviert und ein europäisches Haus inkl. Russland bauen wollen, aber der Westen habe die Gelegenheit nur zum militärischen Näherrücken genutzt und verstehe Sicherheitspolitik nur militärisch, nicht partnerschaftlich. Frieden gehe aber nur, wenn man den anderen verstehen wolle und dessen Sicherheitsbedenken ernst nähme.
Nach einer weiteren Musikdarbietung betritt Eugen Drewermann als vormaliger Preisträger die Bühne, um die Laudatio für die heutige Preisträgerin vorzutragen. Es ist nicht ganz leicht, diesen Auftritt wiederzugeben. Der 83jährige Mann steht über eine Stunde lang auf der Bühne ohne auch nur einmal den rechten oder linken Fuß zu bewegen und spricht klar und druckreif ohne einen Notizzettel in der Hand, die Hände manchmal als rhetorische Untermalung für seinen radikalen Pazifismus nutzend. Es ist keine „klassische“ Laudatio auf die Preisträgerin, sondern ein persönlicher, philosophisch-religiöser und politischer Vortrag, der sich natürlich um das Thema dreht, für das Frau Krone-Schmalz geehrt wird. Im Folgenden können nur einige Grundgedanken angesprochen werden, zu denen ich mir unten drei Anmerkungen erlaube.
Er beginnt mit einer Erinnerung an seinen Vater, der gegen Russland gekämpft habe, überzeugt von nationalistischer Propaganda, bis er merkte, dass er den Menschen dort unrecht tue. Er hat die Russen schätzen gelernt und später seinem Sohn vermittelt, dass die russische Seele eine Nachtigall sei. Eugen Drewermann versteht vor diesem Hintergrund die wichtigste Botschaft Jesu: dass man dem Bösen nicht widerstreben solle (Matt. 5,38 ff), denn so könnten wir es nicht überwinden, sondern setzten es nur fort. Wir müssen das Böse „überlieben“, denn Menschen sind von Natur aus nicht so „bipolar“ auf Gut und Böse gerichtet, sondern sie werden von den Kriegsherren erst darauf hin trainiert. Wie viele Tote braucht es noch, um das zu verstehen? Das Problem ist unsere Angst, die uns hindere, unsere Menschlichkeit zu leben. Man kann Kriege nicht gewinnen, sondern nur die Menschlichkeit verlieren. Er schildert mit vielen Beispielen die Aufrüstung auf westlicher Seite, die Angriffsversuche, wie zum Beispiel 1961 als bereits US-Flugzeuge mit Atombomben Richtung Moskau flogen – der Kreml habe eingelenkt und die Katastrophe verhindert1). Die Russen hätten ein besseres Verständnis für das Gut-Böse-Problem, sie nennen die, die wir Verbrecher nennen: die Unglücklichen. Die psychologische Einfühlung in den „Bösen“ habe Dostojewski exzellent dargestellt und in die Literatur eingeführt; auch Tolstoi habe das Thema Krieg hervorragend behandelt. Der ukrainische Schriftsteller Gogol aber habe einen Kosakenroman „Taras Bulba“ geschrieben 2). Bei einem Treffen zwischen Kanzler Schröder und Präsident Putin sei damals in der Stadt Immanuel Kants, (Königsberg /Kaliningrad) ein ernsthafter Friedensplan angeboten worden, der aber von den nach Weltherrschaft strebenden USA abgelehnt worden sei. Unsere jetzige Regierung sei leider völlig falsch unterwegs, Pistorius propagiere Kriegstüchtigkeit und Baerbock wäre mit ihrem erklärten Ziel, Russland ruinieren zu wollen, von einem Kanzler Brandt oder Schmidt längst entlassen worden. Zum aktuellen Krieg Russlands in der Ukraine wird gesagt „ok, der Krieg ist ein Verbrechen“, Russland bekomme jetzt das Gegenteil von dem, was es mal gewollt habe. Aber „wir haben Putin dahingetrieben, wo er jetzt steht.“ 3) Jedenfalls sei ein Frieden in Europa ohne Russland nicht möglich; hierzu wird Oskar Lafontaine zitiert. Die Ukraine, die kulturhistorisch ohnehin keine Einheit sei, solle in Regionen mit mehr Autonomie gegliedert werden und Deutschland müsse raus aus der NATO.
Lang dauernder stehender Applaus.
Frau Krone-Schmalz bekommt den Preis überreicht, dessen finanziellen Wert von 5.000 € sie an die Internationale Liga für Menschenrechte weitergibt. Sie geht in ihrer Dankesrede auf die Schwierigkeiten des Journalismus ein. Sie habe immer gewusst, dass es keine Wahrheit gäbe, da man von verschiedenen Standpunkten immer etwas Verschiedenes sehen könne, sodass man sich der Wahrheit nur annähern könne. Wer einen Berg aus 10 km oder aus 100 m Entfernung sehe, werde ihn unterschiedlich beschreiben. Aber heute sei der Meinungskorridor so eng geworden, dass man sich oft kaum noch um Wahrheit bemühe und Unliebsames unter den Teppich kehre, wo es unkontrolliert weiter wachse. Querdenken war einmal ein Merkmal für Qualitätsjournalismus; heute sei der Begriff verbrannt. Sie freue sich zwar, dass junge Leute sich für wichtige Themen engagieren, wie zum Beispiel den Klimaschutz, bedaure aber, dass in dieser Bewegung das Thema Frieden kaum eine Rolle spiele. Aus Klimaaktivisten müssten Friedensaktivisten werden! Wir brauchen eine Erziehung zum Frieden. Abschließend spricht Frau Krone-Schmalz ihrem Elternhaus Dank aus, in dem es eine offene Gesprächsatmosphäre gegeben habe und ihrem Mann, der ihr stets ein wichtiger Unterstützer gewesen sei. Da der Preis auch eine Verpflichtung sei, werde sie bei der Friedensdemonstration am 25.11.23 in Berlin das Wort ergreifen.
Nach ebenfalls stehendem Applaus und einem kurzen Dank der Vertreterin der Internationalen Liga für Menschenrechte für die Spende wird die Veranstaltung mit einer Videoeinspielung des Hannes-Wader-Liedes „Es ist an der Zeit“, gesungen von Reinhard Mey und Konstantin Wecker, beendet.
Anmerkungen des Berichterstatters:
- Die Kubakrise wurde 1962/63 beendet indem die SU Raketen aus Kuba und die USA Raketen aus der Türkei abzogen – nachdem ein US-Flugzeug von russischer Seite abgeschossen worden war. Beide Seiten wollten einen Krieg verhindern.
- Das ist ein auf den ersten Blick unkritischer Kriegsroman. Gogol hat aber auch Anderes geschrieben, vor allem die Petersburger Novellen, die nach Aussage von Dostojewski Grundlage für alle nachfolgende Literatur von Turgenjew über Dostojewski bis Tolstoi waren. Sollte mit der Bemerkung über Dostojewski und Gogol ein Bild friedliches Russland und kriegerische Ukraine angedeutet werden?
- Hier darf man fragen, ob der Kreml nur deshalb so handeln musste, weil er vom Westen getrieben wurde, ob er also keine eigenen machtpolitischen Ambitionen hat, ob nicht er selbst – so wie jeder von uns – für das verantwortlich ist, was er tut oder lässt und ob die eingangs von Eugen Drewermann vorgetragenen Friedensgebote nicht auch für ihn gelten.
01.11.2023 Auch in diesem Krieg gibt es nur Aggressoren (siehe Zwischenruf 23.07.23)
Ja, Gaza wird zur Zeit plattgemacht als gäbe es nicht auch für den Krieg gewisse Regeln – abgesehen davon, dass Krieg sowieso nicht zu einem „regelbasierten“ Zusammenleben gehören kann. Und ja, die Hamas hat israelische Nachbarn auf bestialische Weise angegriffen. Und abermals ja, das Volk von Gaza lebte – ebenso wie die Menschen auf der Westbank – seit vielen Jahren wie in einem Freiluftgefängnis, abgeschnitten von vielen Grundrechten, die im 21. Jahrhundert selbstverständlich sein sollten. Aus verzweifelter Hoffnung und im Rahmen einer religiösen Tradition hatten die Menschen in Gaza vor 17 Jahren der Hamas politische Macht gegeben, die diese seither nicht mehr aus der Hand gibt. Sie hat sie genutzt, um eine militärische Infrastruktur und ein Waffenarsenal aufzubauen, bei dem man sich fragt, warum der israelische Staat das zugelassen hat. Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass es unbeobachtet geschehen konnte. Bei allem, was man über die Fähigkeiten des israelischen Staates weiß, muss man annehmen, dass es vielleicht sogar bewusst geduldet wurde, seit die Israelis den Gaza-Streifen verlassen haben. Warum?
Man darf aber auch die Frage stellen, warum Hamas seit 07.10.23 diese Angriffe führt. Niemand konnte auch nur eine Minute lang glauben, dass dem Volk von Gaza damit irgendein Gefallen getan wird. Jeder musste wissen, dass Israel zehnfach zurückschlagen wird (diese Feststellung ist keine Rechtfertigung!). Also warum? Man muss das wohl als ein Selbstmordkommando verstehen, bei dem allerdings nicht die Entscheidungsträger in Katar Selbstmord begehen, sondern „ihr“ Volk in den „Selbstmord“ schicken. Es muss ein Kalkül der Angreifer gewesen sein, das Volk dem Märtyrertod preiszugeben, bei dem aussichtslosen Versuch, das israelische Volk zu vertreiben oder zu vernichten. Ein Hamas-Führer sagte in einem rt-Interview auf die Frage nach dem Warum (sinngemäß), es könne doch nichts Schöneres als den Märtyrertod geben.
So richtig es ist, die Rechte der Palästinenser einzufordern, so sehr muss das zugleich ein Protest gegen die Hamas sein. Und so richtig es ist, für das Selbstverteidigungsrecht Israels einzutreten, so sehr muss das zugleich ein Protest gegen den derzeitigen nahezu totalen Krieg gegen Gaza und gegen die jahrzehntelange Unterdrückung der nicht-jüdischen Bevölkerung sein. Wer diese Selbstverständlichkeit als Antisemitismus denunziert, hat nichts von Demokratie verstanden. Die meisten Menschen, auch in Gaza, in Israel, auf der Westbank, wollen wie überall auf der Welt in Frieden leben. Aber die politischen und religiösen Führer auf beiden Seiten und ihre leider mehr oder weniger große Anhängerschaft können sich ein gleichberechtigtes Leben beider Seiten offenbar nicht vorstellen; am besten sollte die jeweils andere Seite von ihrem Erdboden verschwinden – und dieser Erdboden ist jeweils dasselbe Stück Land.
Eine politische Diskussion, die unter Hinweis auf diesen oder jenen Teil der Vorgeschichte Verständnis für die eine oder andere Seite fordert, führt zu keinem guten Ausblick. Verständnis hat nur verdient, wer Frieden fordert. Bedingungslos. Und wer entweder ein gleichberechtigtes Zusammenleben auf dem von beiden Seiten beanspruchten Land organisiert. Oder eine gerechte Teilung zweier souveräner Länder ohne fortschreitende Landnahme und massive Behinderungen akzeptiert. Solange politische und religiöse Führer das nicht wollen, wird Blut fließen und ziviles Leben nicht möglich sein.
26.10.2023 Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten
Kürzlich habe ich mich in der Buchhandlung eines deutschen Hauptbahnhofs umgeschaut. Unzählige Zeitschriften sind unter verschiedenen Überschriften sortiert. Unter der Überschrift Zeitgeschehen…

… finden sich fast ausschließlich Hefte über Waffen und Militaria. Das soll also unser Zeitgeschehen sein. Die politischen Machthaber führen Kriege oder beteiligen sich daran. Und das Volk „auf der Straße“ (oder im Bahnhof) interessiert sich dafür und macht gedanklich mit. Nein, gewiss nicht alle. Aber offenbar gibt es genug Nachfrage für dieses „Zeitgeschehen“, für sein Umfeld und seine militärische Vorgeschichte. Geschieht zur Zeit denn nichts anderes, was es wert wäre, wahrgenommen zu werden?
11.10.2023 Neue Weltordnung
Die Anzeichen mehren sich, dass es weltweit Widerstand gegen die „einzige Weltmacht“ gibt, wie ein US-Stratege die USA einmal nannte. Die „Neue Seidenstraße“ verlagert seit einem Jahrzehnt wirtschaftliche Schwerpunkte von China aus nach Eurasien und Afrika – allerdings mit billionenschweren Schuldenlasten für mehr oder weniger arme Länder. In der Ukraine führt Russland seit 20 Monaten einen blutigen Krieg auch und ausdrücklich im Namen einer Neuen Weltordnung. Ja, die westliche Seite hat ihn gern provoziert und führt ihn zulasten der Menschen in der Ukraine und anderswo gerne mit – wohl wissend, dass es für sie um den Erhalt der alten Weltordnung geht. In Afrika putschen Militärs in mehreren Ländern gegen den Fortbestand europäischer Kolonialinteressen – mit fraglichem Ergebnis hinsichtlich einer demokratischen Zukunft. In Palästina greifen religiös-fanatische Machthaber mit iranischer und arabischer Hilfe Israel rücksichtslos an und zwingen auch zig tausend „eigene“ Menschen in einen kollektiven Selbstmord – denn Israels Vernichtungsfeldzug gegen Gaza ist die einkalkulierte Folge: nichts sei schöner als im Kampf für die richtige Sache als Märtyrer zu fallen, sagte ein Hamas-Führer in einem rt-Interview.
Als eine neue globale Macht werden die BRICS-Staaten wahrgenommen, die untereinander alles andere als gleichgerichtete Interessen haben – außer einer Gegnerschaft zum US-Imperialismus – und die demnächst durch die Aufnahme neuer Mitglieder noch heterogener strukturiert sein werden. Was ist da in Zukunft zu erwarten? Wohl weitere Machtkämpfe, sei es gegen die alte Macht, sei es unter den aufstrebenden „Unabhängigkeits“-bewegungen selbst. Machtkämpfe, die so ausgetragen werden wie das aus der Geschichte bekannt ist: erst mit Proklamationen, dann mit Drohungen, schließlich mit Waffen. The rest is silence – sagte der sterbende Hamlet, nachdem er die sinnlosen Machtspiele dieser Welt verstanden und gemeint hatte (to be or not to be?), sich darauf einlassen zu müssen. Entsteht so eine neue Weltordnung?
Oder sind das nicht vielmehr nur Verschiebungen im globalen Machtgefüge – mit all den Blutspuren und Zerstörungen, wie wir sie aus der Geschichte kennen? Müssen wir für irgendjemanden Partei ergreifen, wenn Jungbullen sich mit dem Platzhirsch messen, sei es zunächst nur („wirtschaftlich“) durch Brüllen und Füße-scharren oder sei es (militärisch) durch Geweihkämpfe? Der Vergleich hinkt natürlich, denn anders als bei den Hirschen kämpfen die menschlichen Machtstreber nicht selbst, sondern lassen kämpfen…
Wer an einer neuen Weltordnung interessiert ist, muss nicht Partei für einen der Kämpfer ergreifen – sondern für eine zivilisierte Auseinandersetzung, so unwahrscheinlich das immer sein mag. Aber das Wahrscheinliche kennen wir lange genug. Eine Weltordnung wäre erst dann neu, wenn Machtblöcke verkleinert und nicht vergrößert werden würden; denn mit souveränen „Klein“staaten ohne imperiale Machtinteressen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Interessengegensätze friedlich ausgetragen werden. Das beinhaltet, dass man selbst anfängt mit dem Frieden und nicht auf den anderen zeigt, der – gemäß einem selektiven Blick auf einen Teil der „Vorgeschichte“ – provoziert oder „angefangen“ habe. In der Erziehung von Kindern sind uns diese Regeln selbstverständlich. Bei Erwachsenen und vor allem bei verantwortlichen Politikern ist es offenbar zu viel verlangt…
27.09.2023 Tunnelblicke
Es ist uns Menschen nicht gegeben, alles um uns herum angemessen zu verstehen oder auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Jedes Individuum hat je nach Bildungsstand und Charakter einen gewissen Horizont, den es überblickt. Im Austausch mit anderen gelingt es, diesen Horizont zu erweitern, wenn auch nicht bis ins Unendliche, und daraus sinnvolle Schlüsse fürs Handeln zu ziehen. Die Kommunikation in den Gruppen, in denen wir uns bewegen, prägt unsere Wahrnehmung und unser Handeln. Wir haben persönlichen Kontakt in kleineren Gruppen, aber auch Zugang zu unendlich viel mehr Informationen als wir wahrnehmen und verarbeiten können – was für ein Fortschritt gegenüber dem Horizont z.B. eines keltischen Druiden; unendlich und absolut wahr sind unsere Erkenntnisse trotzdem nicht.
Wie soll man sich da zurecht finden? Viele orientieren sich mehr oder weniger an Theoriegebäuden, mit denen sie ihre Weltsicht sortieren. Das ist kaum anders möglich – solange man den Anwendungsbereich und die Grenzen der jeweiligen Theorie im Auge behält. Mit ein paar Beobachtungen möchte ich sowohl zur Bescheidenheit als auch zum „sapere aude“* aufrufen:
Zum Beispiel: „Wirtschaftliche Freiheit schafft Wohlstand, weil der menschliche Erfindungsgeist sich dann frei und tatkräftig entfalten kann. Deshalb sind Begrenzungen dieser Freiheit eine Bremse für positive Entwicklungen aller Art.“ Das ist eine „liberale“ Halbwahrheit – schließlich profitieren nicht alle gleichermaßen von dieser Freiheit, nicht wenige gehen dabei sogar unter. Die Gegenposition ist eine „etatistische“ Halbwahrheit, die dem Staat, also vermeintlich der Allgemeinheit, die Entscheidungsgewalt über das wirtschaftliche Geschehen gibt. Historische Großexperimente im 20. Jahrhundert haben mit bewusst undemokratischen staatlichen Lenkungen zwar einen gewissen Wohlstand, sogar gewisse soziale Gleichheit erreicht, aber auf Kosten einer dynamischen und dauerhaft stabilen Entwicklung. Und auf Kosten individueller Freiheiten. Protagonisten beider Halbwahrheiten hindert das nicht, nahezu alle öffentlichen Probleme mit Mangel an Wirtschaftsfreiheit, bzw. mit Mangel an staatlicher Lenkung zu begründen. Denn das entspricht ihrer Theorie, die sie als Schablone an die Wirklichkeit legen.
Andere historische Beispiele sind drastischer: der Nationalsozialismus fütterte seine Propaganda mit antikapitalistisch durchwachsenem Rassismus. Die Habgier der Reichen, vornehmlich Juden, und das Schmarotzertum der Minderwertigen, ebenfalls Juden, aber auch viele andere, hindere den Wohlstand des überlegenen und allein lebenswerten Teiles der Menschheit. Dieser Tunnelblick „begründete“ nahezu alle Verbrechen und menschenfeindlichen Aktionen der Nazis.
Tunnelblicke sieht man überall, wenn man es wagt, sie sehen zu wollen. Viele, die westliche Demokratien für eine gute Staatsform halten (ich auch), haben kein Problem damit, andere „minderwertige“ Gesellschaftsmodelle notfalls auch mit Gewalt dorthin zu bewegen (ich nicht). In den USA ist es auch heute noch kein Sakrileg, die eigene Überlegenheit als einen solchen Missionsauftrag offen auszusprechen. Und zu praktizieren. Natürlich geht es da offensichtlich nicht um Demokratie-Export, aber die Propaganda funktioniert.
Auf der anderen Seite leiden viele, die solche Propaganda durchschaut haben, an anderen Tunnelblicken. Die berechtigte Ablehnung eines gewalttätigen westlichen Hegemonieanspruches führt bei nicht wenigen zu unkritischer Akzeptanz von Entwicklungen, die man bei klarem Verstand nicht akzeptieren würde. Als gälte nur die Parole: Der Feind meines Feindes muss mein Freund sein. So empören sich viele Gegner der westlichen Kriegsbeteiligung in der Ukraine darüber – nicht etwa, dass der Kreml dort angreift, sondern dass er als Aggressor bezeichnet wird. Als müsste ich für die andere Seite eintreten, wenn ich die eine Seite ablehne. Als hätte die Kremlführung nicht oft genug das Existenzrecht der Ukraine und ihrer ziemlich demokratisch gewählten Regierung in Frage gestellt und damit eigene offensive Kriegsgründe offenbart. Bei vielen Gegnern der US-Hegemonie nimmt man die Demokratiemängel und Machtinteressen der „Gegner“ höchstens mit einem kurzen Seitenblick zur Kenntnis, Hauptsache, es sind Gegner der US-Hegemonie. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Welche Schurkenstaaten hat der freie Westen nicht schon als Freunde gehabt und als solche verteidigt, solange es „unsere“ Schurken waren? Das zugrunde liegende Denken wird auf dieser Website unter „Nationalismus“ genauer betrachtet.
Andere Beispiele: Wer einmal von der Klimapanik ergriffen wurde, für den ist jede Überschwemmung und jede Trockenperiode CO2-anthropogen, also vermeidbar und somit ein justiziables Versagen von Politik. Wer einmal verstanden hat, dass unsere Volksvertreter systematisch von Lobbyisten belästigt werden, für den sind auch Corona-Schutzmaßnahmen nichts anderes als ein Vorwand für die Etablierung einer Diktatur. Wer die Rede vom „Tiefen Staat“ missverstehen will (siehe Zwischenruf 14.04.2023), sieht in allen unliebsamen politischen Entscheidungen einen allmächtigen big brother am Werk. Und wer einmal alles Nationale mit bösartigem Nationalismus in einen Topf geworfen hat, der ist auf demokratische Souveränität nicht mehr ansprechbar. Mit offenen Ohren lassen sich unzählige ähnliche Beispiele finden. Nicht alles an manchen Aussagen wird falsch sein, aber nicht jedes Ereignis, nicht jede Aufgabenstellung lässt sich mit einigen Grundaxiomen erklären, die für manche Fälle stimmen mögen – aber für andere nur dann „stimmen“, wenn man „störende“ Informationen beiseite schiebt. Oder gar nicht wahrnimmt oder für Feindespropaganda hält.
Es ist bequem fürs Denken und für die eigene soziale Sicherheit, sich entweder der einen oder der anderen Gruppe – und damit deren mehr oder weniger selektiver und interessengeleiteter oder manchmal auch nur dummer und manchmal zutreffender Interpretation des Geschehens – anzuschließen. Der Wahrheitsfindung zuträglicher wäre es, notfalls auch einmal allein zu stehen mit seiner Sicht der Dinge. Oder vielleicht nur Fragezeichen zu sehen, wo andere allzu rasch Ausrufezeichen setzen. Aber es gibt eine gute Nachricht: jeder kann das ganz allein selbst ändern. Wir haben ein breites Informationsangebot und brauchen nicht einmal viel Mut dafür, es zu nutzen Nur etwas Charakter.
- Immanuel Kant: Wage zu wissen
18.09.2023 Demokratie? Diktatur? wie schwarz oder weiß ist grau?
Von verschiedenen Seiten hören wir in letzter Zeit Abschiedsworte auf die Demokratie, die nun nicht mehr existiere (oder überhaupt nie richtig existiert habe), gerne mit der stillschweigenden Selbstermächtigung, dass man folglich auch nicht (mehr) alle oberflächlichen Formalitäten beachten müsse.
Da gab oder gibt es verschiedene politische Richtungen (nicht nur die „Querdenker“), denen die Corona-Schutzmaßnahmen nicht nur als unbegründete Willkür, sondern als systematische Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten erschienen sind. Da gibt es die „Klimaschützer“, die auf demokratische Verkehrsformen pfeifen, weil mit diesem Bummelzug die Vernichtung der Lebensgrundlagen nicht mehr aufzuhalten sei. Da gibt es die „echten Demokraten“, die sich darüber empören, wenn in einem Parlament jemand an seinem Antrag trotz Unterstützung durch eine „falsche“ Partei festhält. Da gibt es straffreies Mobbing bis hin zu Berufsverboten durch Sittenwächter, die im Namen einer geschlechtergerechten Sprache Unaussprechliches verlangen und Biologiewidriges gesetzlich bestimmen. Schließlich gibt es Politiker, die Kriegshandlungen befeuern, wozu sie gemäß parlamentarischer Mehrheit zwar beschlussfähig sein mögen, große Teile der Bürgerschaft aber dazu gegen sich haben.
Im letzten Punkt sind Zweifel an der demokratischen Qualität des politischen Personals tatsächlich begründet. Wenn ein Staat sich durch Waffenlieferungen und Ausbildung fremder Kämpfer an einem fremden Krieg beteiligt, wäre eine direkte Volksbefragung zu einer solch existenziellen Frage eine Mindest-Voraussetzung. Richtiger wäre es, ein Verbot auch indirekter Kriegsbeteiligungen – außer im eigenen Verteidigungsfall – zur demokratischen Pflicht zu machen. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen das zumindest offiziell selbstverständlich war.
Bei vielen anderen Themen beteiligen sich die Totensänger der Demokratie selbst am Schaufeln des Grabes. Auch wenn die Demokratie hierzulande zweifellos durch qualifiziertere direkte Abstimmungen verbessert werden muss (siehe andere Beiträge auf dieser Website); heißt das nicht, dass parlamentarische Mehrheiten deshalb unbeachtlich seien. Verschiedene Bewegungen treten aktuell aber so auf, als müssten die „richtigen“ Entscheidungen auch gegen Mehrheiten durchgesetzt werden. Das betrifft die Kämpfer für „Klimaschutzmaßnahmen“ ebenso wie die Gegner von Corona-Schutzmaßnahmen. Viele der Demonstranten würden ihre Ziele wohl auch gegen Mehrheiten durchsetzen, wenn sie die Macht dazu hätten: Denn immerhin wurde aus diesen Kreisen gegen demokratische Entscheide schon als Ausdruck von Diktatur polemisiert und zum Teil sogar der Respekt vor Mehrheitsentscheidungen in Abrede gestellt.
Demokratiemangel wird zunehmend von denen behauptet, die ihre Minderheitsmeinungen nicht ausreichend durchgesetzt sehen. Sie offenbaren damit selbst einen Demokratiemangel – zumindest im Denken. Und soweit sie deshalb von Diktatur reden, offenbaren sie auch einen Mangel an Bildung und Empathie: Diktaturen zeichnen sich nämlich vor allem dadurch aus, dass sie massiv regulierend in das Privatleben der Bürger eingreifen mit Ge- und Verboten. In echten Diktaturen gab es anlässlich Corona zum Beispiel Impfzwänge und scharfe Ausgangssperren, die es in unserer Demokratie nicht gab. Wer ehrlich ist, findet viele andere Beispiele beim Blick in andere Länder, deren Bürger froh wären, wenn sie unsere „Diktatur“ erleiden müssten – auch wenn es bei uns inzwischen im Energiebereich, bei der Meinungsfreiheit und anderswo zweifellos Beispiele in Richtung Machtmissbrauch gibt. Aber Diktatur ist nicht, wenn demokratische Mandatsträger Machtmissbrauch betreiben, sondern wenn den Bürgern institutionell und/oder praktisch die Möglichkeit genommen ist, darauf maßgeblich Einfluss zu nehmen.
Wenn wir unsere vorhandenen Einflussmöglichkeiten nicht ausreichend nutzen und uns statt dessen über Diktatur beklagen, beleidigen wir nicht nur die Menschen, die in echten Diktaturen leben. Sondern wir eröffnen uns auch keine Perspektive – außer einer, die sich selbst an der Abschaffung der Demokratie beteiligt, weil sie sie nicht achtet.
08.09.2023 Die Wacht des Anti-Nationalismus gebiert Nationalismen
Neulich kamen wir mit einem Bekannten, mit dem ich in einigen Punkten politisch übereinstimme, auf das das Thema Europäische Union zu sprechen. Ich hörte die übliche Rede, das sei ein notwendiges Friedensprojekt; Frankreich sei nun gottlob nicht mehr der Erbfeind; und die rechtsradikalen politischen Bewegungen in manchen Ländern würden doch beweisen, wie notwendig die weitere europäische Integration sei etc. Meinem Einwand, dass die verschiedenen EU-kritischen rechten Bewegungen in Deutschland, Frankreich, Italien (und auch anderswo: England, Ungarn, Niederlande…) gerade eine Folge des EU-Aufbaus seien, nämlich eine Ablehnung des Brüsseler Zentralismus, stimmte mein Gesprächspartner zwar zu. Aber wie passt das zu seiner Argumentation?
Nach dem 2. Weltkrieg wurde intensiv an der Völkerverständigung gearbeitet. Frankreich mit seiner Literatur, seinen Chansons, seiner Küche, seinen Landschaften, seinen politischen Bewegungen wurde hierzulande für Viele zu einem Sehnsuchtsort; in den Schulen wurde Französisch gelernt. Auch Italien oder Spanien und Griechenland kamen dazu, sei es als Familienurlaub am Gardasee, an der Riviera und Costa Brava oder später in Form der Toskana-Fraktion… Nicht alle Vorurteile verschwanden sofort, aber sie nahmen ab, sogar bei meinem Vater, der in jungen Jahren noch freiwillig mit der SS in Frankreich unterwegs gewesen war und sich nun für französischen Wein und Käse begeisterte. Die allmähliche Völkerverständigung geschah im Rahmen von intensivierten Wirtschafts- und Kulturbeziehungen – ohne politische Souveränitätsabgabe. Es war Frieden im Land Europa. Allmählich verschwanden sogar die südlichen Diktaturen. Später dann auch die östlichen.
Dieser natürliche Prozess der Völkerverständigung und Demokratisierung befindet sich schon seit längerem auf dem Rückzug. Und zwar ungefähr seit dem Aufbau der politischen EU und dem gleichzeitigen Ende der SU. Völkerfreundschaft wird immer weniger „an der Basis“ gepflegt, sondern statt dessen überlagert durch mehr oder weniger gewaltsame politische Zusammenschlüsse auf der großen politischen Bühne. Mit gewaltsam meine ich zum Beispiel die Ignoranz gegenüber den negativen Abstimmungen zu einer „EU-Verfassung“ in einigen Ländern oder die klammheimliche Abschaffung nationaler Souveränitätsrechte durch entsprechende Grundgesetzänderungen, die sich eine Mehrheit unserer Bundestags-Abgeordneten Anfang der 1990er Jahre erlaubt hat. Die Folge von inzwischen alltäglichen Gesetzgebungen durch zwei Dutzend nicht demokratisch gewählter Brüsseler Kommissare wird nun mit einer gewissen Verzögerung allgemein wahrgenommen. Aber nicht allgemein goutiert.
Das Wiederaufleben von Nationalismen verlief also nach dieser Friedensperiode mehr oder weniger parallel zur legislativen Ermächtigung einer zentralen Kommission in Brüssel, wo keine Gewaltenteilung bekannt ist (denn das EU-Parlament ist keine Legislative und wird nicht einmal durch gleiche Wahlen gebildet), wo kein „europäischer Souverän“ jemanden ermächtigt hat (denn den gibt es nicht), wo die Richtlinien-Verfasser oft nicht einmal die Sprache der Länder sprechen, für die sie legislativ tätig sind. Sie kennen oft die Rechtssysteme der betroffenen Länder kaum und interessieren sich wenig dafür. Souveräne Gesetzgebung im eigenen Land – und zwar nicht nur für international relevante Themen – wird seit vielen Jahren EU-weit nur noch nur geduldet, wenn sie den Richtlinien aus Brüssel nicht widerspricht. Ist Protest dagegen verwunderlich? Könnte Widerstand nicht vor allem Ausdruck demokratischer Gesinnung sein?
Ja, diese Bewegungen haben magnetisch auf rechtsradikale Kreise gewirkt. Diese haben sich mehr oder weniger lautstark dort eingenistet, auch wenn sie, bezogen auf die Wählerstimmen, zweifellos eine quantitative Minderheit bilden. Denn im zugrunde liegenden Anliegen der Mehrheit kommt ein urdemokratisches Anliegen zum Ausdruck: Wir wollen unsere öffentlichen Angelegenheiten selbst regeln – auch in Form von grenzübergreifenden Verträgen, wo das nötig ist; aber wir wollen nicht alle Details unserer öffentlichen Ordnung von einer fernen Zentrale mit kaum erkennbarer demokratischer Legitimation vorgesetzt bekommen.
Aufgabe von Demokraten wäre es, dem in diesen Bewegungen vorhandenen demokratischen Gedankengut programmatisch in die erste Reihe zu verhelfen – statt die Bewegungen nur für eine Ausgeburt des alten braunen Sumpfs zu halten. Mit dieser selektiven Sicht wird die falsche Seite weiter aufgebaut. Den braunen Sumpf in diesen Bewegungen trockenzulegen gelingt nur, wenn man sich die Mühe positiv-demokratischer Aufklärung macht. Dazu gehört zwingend eine demokratische Kritik an der Europäischen Union einschließlich einer demokratischen Perspektive zu internationaler Zusammenarbeit ohne nationalen Souveränitätsverlust. Ja, das ist anspruchsvoller als das übliche Rechtsradikalen-bashing. Aber nur so könnte man den derzeit inflationären Begriff „Respekt“ mit demokratischem Sinn füllen. Nationalismus-Schelte taugt dafür ebenso wenig wie EU-Propaganda. siehe dazu auch den Zwischenruf vom 05.08.2023
04.09.2023 Nachtrag zur multipolaren Demokratie
Im Anschluss an die abschließende Radio Eriwan-Antwort vom Zwischenruf 01.09.23 könnte man ein historisches Beispiel ergänzen: Mit dem Münsteraner Friedensschluss von 1648 hat es schon einmal einen Versuch gegeben, Frieden im Sinne von Nichtangriffs-Pakten zwischen den europäischen Mächten zu schließen. Die Fürstentümer sollten ihre Grenzen achten und sich gegenseitig in Ruhe lassen – was sie natürlich nicht getan haben. Denn es waren Fürstentümer und keine Demokratien. Und Fürsten haben in der Regel andere Interessen als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Im besseren Fall wurde die Machtpolitik durch Heiraten bewerkstelligt; das war billiger als Kriege zu führen. Aber „wenn nötig“, musste es eben Krieg sein. Zunehmend herausgehalten aus den europäischen Kriegen hat sich die Schweizer Eidgenossenschaft, auch wenn sich ihre Bürger gelegentlich noch als Söldner verdingt haben.
Übrigens hat der Frieden in Europa nach dem 2. Weltkrieg gut funktioniert, solange es Demokratien und keine mehr oder weniger gewaltsame Zentralisierung durch einen EU-Aufbau bei gleichzeitigem Demokratie-Abbau gab. Seit das geschieht haben nicht nur Kriege in Europa – gegen Nicht-EU-Mitglieder – wieder Platz gegriffen, sondern sogar innerhalb der EU-Mitgliedschaft wachsen auseinanderdriftende Entfremdungen. Innenpolitisch wie außenpolitisch. Man will sich seine politische Identität nicht nehmen lassen. Warum auch?
Heute finden „Eroberungen“ überwiegend durch Handelsbeziehungen, aber auch durch Rohstoff- und Landnahme und zunehmend übrigens durch Raubbau an qualifizierten Arbeitskräften statt, natürlich friedlich. Jeder weiß aber, dass es leider nicht immer friedlich „möglich“ war; das hat die älteste moderne Demokratie in den letzten 100 Jahren ausreichend bewiesen – was Fragen bezüglich ihrer demokratischen Qualität aufwirft. Dürfen wir von den jetzt aufstrebenden global Playern auf Dauer viel besseres erwarten? Sie werden von vielen der ehemaligen Opfer von Kolonisation und Imperialismus gern als Alternative gesehen. Aber auch sie verfolgen eigene Interessen und schaffen Abhängigkeiten. Was berechtigt zu der Annahme, dass hier internationale Beziehungen auf gleicher Augenhöhe praktiziert werden, nach Maßgabe von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, wenn diese Prinzipien innenpolitisch bei diesen neuen Bündnispartnern in unterschiedlicher Weise kaum gelebt werden? Krieg wird ja für eine neue Weltordnung bereits aktiv geführt von Russland nach Westen und vorbereitet von China nach Osten. Beides ist nicht (nur) Verteidigung.
Der antiimperialistische Kampf wurde vor 60 Jahren von einem gescheiterten Revolutionär mit der Parole geführt „Schafft zwei, drei, viele Vietnam!“. Ich würde statt dessen die Parole empfehlen „Schafft zwei, drei, viele Switzerland!“ – natürlich national verschieden, aber ungefähr so genossenschaftlich wie dort.
01.09.2023 Wie demokratisch ist multipolar?
Seit einigen Jahren hören wir von einer entstehenden multipolaren Weltordnung als „Nachfolgerin“ der unipolaren US-Dominanz. Für eine auch heute noch unipolare US-Welt wird gern das 1997 erschienene Buch „Die einzige Weltmacht“ (Originaltitel: The Grand Chessboard) von Brzezinski als Zeuge bemüht, obwohl Brzezinski 15 Jahre später in seinem Buch „Strategic Vision“ selbst ein Konzept für eine multipolare Zukunft vorgestellt hat. Freilich darf man davon ausgehen, dass Großmächte auch eine multipolare Welt nur mit sich selbst als Primus inter pares verstehen wollen.
Scheinbar lassen sich heute alle mehr oder weniger auf etwas Multipolares ein, wobei vor allem den USA unterstellt werden kann, dass dies wohl eher ein neuer Schlauch für den alten Wein ist, wenn man deren Worte und Taten betrachtet. Die interessante Frage ist, ob durch BRICS-Staaten inkl. der bevorstehenden Erweiterung sowie durch die Shanghai Cooperation Organisation und ggf. noch andere Staatenbünde etwas wirklich wesentlich anderes repräsentiert wird.
Natürlich leuchtet sofort ein, dass „flache Hierarchien“ zwischen Staaten und Staatenbünden, also multipolare Strukturen, demokratischer sind als Abhängigkeiten zwischen großen Starken und kleinen Schwachen. Es ist unbedingt zu begrüßen, wenn internationale Vormundschaften abgebaut und durch gleichwertige zwischenstaatliche Partnerschaften ersetzt werden. Aber findet das mit der gegenwärtig auflebenden „Multipolarität“ tatsächlich statt?
Ist von Staaten wie China, Saudi-Arabien, Iran, Ägypten ein Voranschreiten in eine demokratischere Welt zu erwarten? Sind Indien, Russland, Argentinien, Brasilien, Südafrika, Äthiopien mit ihren reichhaltigen Traditionen in Korruption, sozialer Ungleichheit und verschieden ausgeprägten Klassenherrschaften – wenn nicht sogar Kastenwesen bis zu religiös-rassistischen Erscheinungen – bei gleichzeitigem Fehlen demokratischer Traditionen Vorbilder auf dem Weg in eine globale Demokratie?
Natürlich steht es hier nicht zur Debatte, wie andere Völker sich selbst politisch organisieren – sofern es denn tatsächlich die anderen Völker sind, die darüber entscheiden… Sondern hier geht es nur darum, ob oder wie wir in diesem Prozess eine hoffnungsvolle Entwicklung auch für uns sehen wollen. Denn ein Wechsel von der US-Dominanz zu echter Multipolarität wäre ja durchaus wünschenswert. Aber wir müssen die reale Multipolarität genauer betrachten und dürfen nicht der Gefahr erliegen, dass wir wünschenswerte Zukunftsentwicklungen in die Realität nur hineinprojizieren.
Chinas Road & Belt-Initiative, um nur ein Beispiel zu nennen, ist sicherlich eine begrüßenswerte Maßnahme gegen die US-Dominanz, aber dennoch kein selbstloses Projekt für andere. Es gibt von China initiierte sinnvolle Infrastrukturprojekte, aber es gibt ebenso bereits Staaten, die deshalb bei China hochverschuldet – und damit abhängig – sind, zum Teil auch wegen Projekten mit sehr zweifelhaftem Sinn. Es gibt in Südasien und Afrika umfassende Beispiele dafür, dass gewachsene (land-)wirtschaftliche Strukturen massiv gestört werden ohne dass die einheimischen Bevölkerungen Kompensation erleben oder auch nur mitentscheiden dürfen. Kriegerische Expansionen sind von China aus noch nicht zu beobachten, aber Vorbereitungen dafür, z.B. Richtung Taiwan, durchaus. Ein anderer BRICS-Partner – Russland – führt auch im Namen einer besseren Weltordnung nun schon jahrelang blutigen Krieg im Nachbarland. Das zukünftige Mitglied Äthiopien hat kürzlich durch blutige Bürgerkriege inkl. Krieg mit seinem Nachbarland Schlagzeilen gemacht. Die zukünftigen Mitglieder Ägypten und Argentinien sind für ihre korrupten Regierungstraditionen bekannt und Länder wie Iran, Saudi-Arabien und VAR stehen in Sachen demokratischer Strukturen wohl eher auf unteren Ebenen.
Ist von diesen Beteiligten auf der internationalen Bühne etwas zu erwarten, was bei ihnen zu Hause ziemlich unterentwickelt ist? Schön wär´s, möchte man da ganz unterkomplex antworten. Werfen wir doch einmal einen Blick auf uns selbst als Mitspieler; vielleicht bringen wir mit unseren „Werten“ ein demokratisches Gegengewicht ein? Schließlich verlangen auch bei uns nicht wenige sehr zu Recht mehr Unabhängigkeit von der „einzigen Weltmacht“. In diesem Sinne wird zumindest von den maßgeblichen Politikern, aber auch von vielen ihrer Wähler, die Stärkung des europäischen Blocks gefordert, der Verzicht auf nationale Kleinstaaterei etc., um international „mitreden“ zu können.
Ist das die richtige Perspektive? Die EU ist kein Ausweis für eine demokratische Zukunft wie an anderen Stellen auf dieser Website unter Kernthemen und Genauer betrachtet ausgeführt wird. Der Versuch, ein Machtzentrum zu schaffen – ja, das ist die EU. Aber das geschieht auf Kosten der Demokratie, wie man ohne jede Polemik oder Verschwörungsverdacht feststellen darf. Fügt sich das Projekt EU damit nicht bereits wunderbar in eine machtpolitisch geprägte, aber eben nicht demokratische neue Weltordnung ein? Wer soll in dieser vielleicht bald einmal chinesisch oder indisch oder meinetwegen auch EU-dominierten „multipolaren“ Welt die demokratische Fahne hochhalten? Etwa die lupenreinen EU-Demokraten?
Müssten wir nicht vielmehr unsere demokratischen Traditionen und Errungenschaften durch Stärkung der Dezentralität bewahren? Echter Föderalismus auf politischer und wirtschaftlicher Ebene ist die sichere Basis für wirtschaftliche Stärke und politische Unabhängigkeit, was man auch am Vergleich zwischen den Industrienationen Schweiz und (immer noch) Deutschland einerseits und z.B. dem industriell unterentwickelten Frankreich andererseits studieren kann. Zentralisierungen gehen oft nicht nur mit wirtschaftlichem Niedergang (außer für einige Großkonzerne), sondern auch mit demokratischem Verlust einher. Wenn die Multipolarität zu einer besseren Welt führen soll, dürfen die „vielen Pole“ nicht nur neu sortiert und veränderten Machtverhältnissen anders untergeordnet werden, sondern müssen sich selbständig souverän entwickeln und auf Augenhöhe miteinander handeln. Das geht auch in den Außenbeziehungen sicher nur, wenn es in den Innenbeziehungen funktioniert.
Die Frage „Ist multipolar demokratisch?“ würde Radio Eriwan wohl so beantworten: Im Prinzip ja, aber nur in dem Maß, in dem die vielen Pole selbst demokratisch sind.
21.08.2023 Irregeleitete „Selbst“bestimmung
Demokratie ist schön, kann aber auch zu grobem Unfug ermuntern, wenn man den Gedanken selbstbestimmter Souveränität nur individualistisch oder gruppenegoistisch und nicht gesamtgesellschaftlich versteht. Seit einiger Zeit erleben wir selbstbewusst auftretende Menschengruppen oder Individuen, die ihre partikularen Interessen gegen gesellschaftliche Verbindlichkeiten geltend machen. Damit meine ich nicht zu Recht vorgetragene Partikularinteressen, wie zum Beispiel notwendige Forderungen zur sozialen Existenzsicherung benachteiligter Gruppen oder Forderungen von Menschengruppen, die eine bisher verweigerte Gleichbehandlung verlangen, wie zum Beispiel Farbige in den USA, Frauen in vielen Gesellschaften oder Homosexuelle in noch mehr Gesellschaften dieser Welt.
Sondern ich meine Forderungen nach demonstrativem Respekt für Menschen(gruppen), die aufgrund ihrer Selbstdefinition eine angeblich aufgezwungene gesellschaftliche Rolle nicht annehmen wollen. Oder die gegen Unterdrückungsmechanismen kämpfen, welche nur dank intellektueller Anstrengung als Ausdruck früherer gesellschaftlicher Ungleichheiten erkennbar werden.
Als ein Beispiel für das Letztgenannte kann man den Versuch verstehen, die Sprache von ihrer patriarchischen Geschichte zu befreien. Ja, unsere Sprache legt streckenweise Zeugnis von einer männlichen Dominanz ab. Viele allgemein gemeinten Worte haben männliche Formen, auch wenn Frauen mitgemeint sind. Im Englischen ist gar das Wort für Mann und Mensch identisch, während die Frau nur ein Mensch mit Suffix ist. Aber kommt man der Geschlechtergleichheit einen Flohsprung näher, wenn man die Zuhörer und Zuhörerinnen zu unaussprechlichen Zuhörer*INNEn macht? Welcher Mann fühlt sich damit noch angesprochen? Hört und liest man mit derselben Konsequenz auch von Rassist*INNen und Rechtsradikal*INNen? Nein, denn es geht hier nicht um Gleichheit, sondern um eine sich als links verstehende politische Demonstration auf Kosten der Sprache. Man könnte darüber lächelnd den Kopf schütteln …
… wenn nicht eine weitere Etappe dieses Windmühlenkampfes weniger lustig wäre, sondern zeigt, dass es um mehr geht. Es geht darum, die Realität einer unsachgemäßen menschlichen Willkür zu unterwerfen. Die Rede ist von dem aktuellen Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG) und die dahinterstehende Geisteshaltung und politische Absicht.
Erwachsene Menschen sollen nach diesem Gesetz frei bestimmen können, welches Geschlecht sie haben, unabhängig davon, welches Geschlecht sie tatsächlich haben. Nein, sie müssen sich deswegen nicht operieren lassen, es genügt, wenn sie „selbstbestimmt“ behaupten: ich bin männlich, weiblich oder keins von beiden. Jugendliche ab 14 Jahren können diese Erklärung zusammen mit ihren Sorgeberechtigen abgeben, oder, wenn diese nicht einverstanden sind, mithilfe eines Familiengerichtes. Für Jugendliche unter 14 Jahren dürfen die Sorgeberechtigten allein diese Erklärung abgeben. Nach Ablauf gewisser Fristen können diese Eintragungen im Melderegister auch wieder geändert werden.
Jeder mag sich selbst ausmalen, welche Folgen im Alltag diese willkürlichen Entscheidungen haben können. Und werden. Man könnte zwar auf die Vernunft der Menschen vertrauen, sich an dieser politischen Kampagne mehrheitlich nicht zu beteiligen. Aber damit ist es leider nicht getan. Denn die politischen Aktivisten sind längst dabei, die Kinder und Jugendlichen systematisch damit zu belästigen.
(zum Beispiel: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus247015710/Schule-Nur-eine-Partei-protestiert-gegen-gebaerende-Maenner-Und-Eltern-haben-Mitspracherechte.html )
Lehrer und auch Eltern werden mancherorts schon länger und nun auch mit gesetzgeberischer Autorität dazu angehalten, Kinder und Jugendliche auf ihre Gefühlslage hinsichtlich ihrer Geschlechtszugehörigkeit zu verunsichern – in einer einmaligen Lebensphase, in der es darauf ankäme, sie mit ihrem Geschlecht vertraut zu machen. Das ist das Gegenteil des Bildungsauftrags an Schulen und der Erziehungsverantwortung von Eltern. Manchmal wird rechtfertigend behauptet, bei diesem Gesetz solle es nur um den Schutz der sehr seltenen Menschen gehen, die tatsächlich eine unklare Geschlechtlichkeit haben. Aber warum wird dann die Möglichkeit der Selbstbestimmung auch allen anderen Menschen eröffnet und nicht nur den biologischen Zwittermenschen? Eben: weil es ganz offensichtlich um etwas anderes geht.
Was hat dieses Thema auf einer „Demokratie-Website“ zu suchen? Demokratie steht (oder fällt) mit (nicht) gebildeten selbstbewussten Bürgern. Das sind Menschen, die für sich selbst und für ihre natürliche und gesellschaftliche Umwelt ein angemessenes Verständnis entwickeln konnten und pflegen. Das setzt eine angeleitete Orientierung in verschiedenen Sachgebieten und vor allem eine „menschengerechte“ Persönlichkeitsentwicklung voraus. Denn jeder Mensch ist Teil einer von uns unbeeinflussbaren Natur. Unsere Freiheit besteht darin, das zu erkennen, um dann im Rahmen unserer Möglichkeiten gestalterisch für unser eigenes Leben und für das unserer Umgebung tätig werden zu können. Je größer meine Ignoranz gegenüber den natürlichen und vorgefundenen Gegebenheiten ist, desto mehr wird meine Tätigkeit eine (selbst)zerstörerische und keine konstruktive sein. Wenn die Persönlichkeitsentwicklung gestört wird, was aufgrund vieler Irrtümer im Erziehungsbereich leider sowieso häufig genug und aus Versehen geschieht, diese Störung aber einem systematischen Konzept folgt, dann ist das ein Angriff auf die Bildung freier selbstbewusster Bürger und damit auf die Demokratie.
Das Selbstbestimmungsgesetz zur Geschlechtsidentität ist ein vorläufiger (?) Höhepunkt einer destruktiven politischen Kampagne. Die Verunsicherung bereits von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich ihrer persönlichen Identität ist ein Meilenstein auf dem Weg zur propagandistischen Fremdbestimmung. Denn die Geschlechtsentwicklung ist ein sehr wichtiger und sehr empfindlicher Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Jeder junge Mensch muss hier behutsam auf seine natürliche Geschlechterrolle vorbereitet werden, natürlich mit Respekt auch vor homosexuellen Neigungen, damit er /sie ein selbstbewusstes und konstruktives Individuum werden kann. Die heute behaupteten zahlreichen angeblich existierenden Geschlechtlichkeiten würden einem Kind oder Jugendlichen nicht einmal im Traum einfallen. Sie damit zu belästigen grenzt an sexuellen Missbrauch und ist etwa so, als gösse man einer Blume Essig statt Wasser an die Wurzeln. Die jungen Menschen werden in ihrer Gefühlsentwicklung verunsichert, misstrauisch gegenüber ihrem natürlichen Gefühl und so konditioniert, dass sie später auch andere Unsinnigkeiten, die an sie herangetragen werden, bereitwilliger für reale Probleme halten. Er /sie verliert Vertrauen in das natürliche eigene Gefühl und wird nicht nur als Individuum in der Persönlichkeitsentwicklung geschädigt, was schlimm genug ist, sondern damit auch besser manipulierbar für andere politische Kampagnen gemacht. Was könnten sich diktatorische Herrscher Besseres wünschen?
05.08.2023 Nation ist kein Verbrechen
Man muss vorsichtig sein, wenn man heute dem Begriff Nation etwas Positives abgewinnen will. Ich setze aber auf die Intelligenz und Sachorientierung meiner Leser und tue es trotzdem, wohl wissend, dass alles was in diesem Zusammenhang assoziiert wird, rasch unter Begriffe wie Rassismus, Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit, Menschenverachtung, Rechtsradikalismus etc. untergeordnet wird. Ja, Menschen mit solchen Haltungen beziehen sich auch positiv auf Nationales. Ich halte es aber für erschreckend fehlgerichtet, bösartigen Nationalisten dieses Feld zu überlassen.
An anderen Stellen dieser Website wird das Thema ebenfalls angesprochen, bei dem Button Kernthemen unter „Nationale Vielfalt“ und „Europäische Union“, bei dem Button Genauer betrachtet unter „Vereinigte Staaten von Europa“, „Nationalismus“, „Freund und fremd“. Auch in anderen Kapiteln steht einiges dazu zwischen den Zeilen. Im Folgenden sollen ein paar Gedanken konzentriert zusammengefasst werden.
Der Begriff Nation wird manchmal verkürzt mit souveräner Staatlichkeit identifiziert, etwa, wenn im Rahmen von EU-Entscheiden die „nationalen Sonderwege“ kritisiert werden. Kulturgeschichtlich verstehen sich Nationen aber oft nicht identisch mit Staatsgrenzen. Dazu gibt es zahlreiche, auch aktuelle Beispiele. Katalonien strebte zeitweise nach nationaler Unabhängigkeit, ebenso wie Schottland; Südtiroler haben es noch vor gut 60 Jahren auch mit Waffengewalt getan, ebenso wie Nordiren, spanische Basken und andere, teilweise sogar mit guten Gründen. Belgien ist ein Musterbeispiel für einen Staat, der sich nicht als Nation versteht. Und der Ukrainekrieg wird von russischer Seite unter anderem mit falschen Staatsgrenzen hinsichtlich nationaler Identitäten begründet. Willkürliche Staatsgrenzen, die wenig mit Kulturräumen, bzw. gewachsenen Nationen zu tun haben, sind z.B. in Afrika und Teilen Asiens fast die Regel.
Heißt das aber, dass Staatsgrenzen als Markierung von Rechtsräumen generell aufzuheben seien? Oder dass sie entlang von irgendwie definierten Kulturräumen neu zu ziehen sind? Wie sollte im ersten Fall – Paradebeispiel Europäische Union – ein demokratisch organisierter Rechtsraum funktionieren, in dem die Bürger nicht nur das Gefühl, sondern die Realität der Selbstbestimmung inkl. gerechter Gewaltenteilung haben? Wie und durch wen sollten im zweiten Fall neue Grenzen gezogen werden, ohne dass permanente Kriege die Folge wären?
Wer an Demokratie interessiert ist, sollte die Staatsgrenzen so lassen wie sie sind, außer die Beteiligten einigen sich mehrheitlich friedlich auf etwas anderes. Er sollte auch die Souveränitätsrechte in diesen Einheiten belassen, denn zur Souveränität gehört es, dass man mit anderen Partnern kooperieren, Verträge schließen kann, über gleiche Gesetze, über gemeinsame Projekte, über alles… ohne dass man dafür seine Selbstbestimmung aufgeben muss. Man behält dann auch die Freiheit, das eine oder andere Projekt wieder zu beenden, wenn der Souverän, die betroffene Bürgerschaft, das so will. Wer entscheidet aber im Fall der Souveränitätsabgabe? Eine ferne Zentrale, deren Entscheidungsträger vielleicht nicht einmal die Sprache des Landes verstehen, für das sie entscheiden?
Frieden und Demokratie erfordern dezentrale souveräne Einheiten, die nur nach dem Subsidiaritätsprinzip Entscheidungsbefugnisse delegieren. Soweit Nationen als kulturgeschichtliche Räume nicht mit Staatsgrenzen übereinstimmen, lassen sich immer auch innerstaatliche Autonomieregelungen finden, wenn man will. Man mag diese staatlichen Rechtsräume oder auch nicht staatliche Kulturräume Nationen nennen oder anders, wenn einem dieser Begriff von der deutschen Geschichte zu belastet erscheint. Aber die Belastung durch die deutsche Geschichte darf nicht dazu führen, dass man mit der Nation auch die Selbstbestimmung, also die eigene Rechtssetzung und Rechtsprechung abgibt. Mit einer Entsorgung einer als Nationalismus diffamierten demokratischen Souveränität würden wir gerade diese entsorgen. Diesen Gefallen sollten wir den antidemokratischen Nationalisten nicht tun.
28.07.2023 Ziel verfehlt und doch getroffen
Politische Propaganda und Wahrheitssuche rudern selten in dieselbe Richtung. Dabei werden oft ähnliche Denkvermeidungsfiguren auch mit unterschiedlichen propagandistischen Absichten verwendet. Ein Musterbeispiel ist der „Antisemitismus“. In Deutschland wird sehr zu Recht Wert darauf gelegt, dass die Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Kultur gegen Beleidigungen und Angriffe geschützt werden. Dieses Anliegen wird jedoch nicht selten missbraucht, um Kritik an der Politik des israelischen Staates zu vermeiden. Und zwar dann, wenn nach der Versicherung, dass Kritik selbstverständlich möglich sei, diese, kaum ausgesprochen, mit dem Verdacht auf einen Antisemitismus des Kritikers diskreditiert wird: Gespräch beendet bevor es begonnen hat. Jeder kennt diese Gesprächsfigur aus Talkshows oder dem persönlichen Bereich.
Ähnliches gibt es aber auch bei anderen Themen, wenn auch weniger auffällig. Zur Zeit kritisieren manche öffentlichen Stellungnahmen die deutschen Waffenlieferungen in das ukrainische Kriegsgebiet – meines Erachtens sehr zu Recht und viel zu selten. Manche der Kritiker verbinden das mit einem allgemeinen Verständnis für die russische Seite, da der Westen ja sowohl aktuell als auch historisch provokative und völkerrechtswidrige Taten gegenüber Russland begangen habe, was zweifellos stimmt. Manchmal wird diese Stellungnahme gegen die westliche Politik aber auch mit einem mehr oder weniger undeutlich ausgesprochenen Verständnis für die russische „Spezialoperation“ verbunden.
In diesem Zusammenhang geschieht es, dass der Kritik am russischen Angriff mit einer „Russophobiekeule“ begegnet wird. Wer den russischen Angriffskrieg entschieden kritisiert, leidet in den Augen dieser Leute vielleicht an einem tief in der Geschichte verwurzelten Russenhass (bzw. wörtlich: Russenangst) – so wie Kritiker der israelischen Politik wahrscheinlich an einem tief verwurzelten Antisemitismus leiden. Gespräch auch hier beendet bevor es begonnen hat.
Zwar stimmt es, dass weitherum eine irrationale Ablehnung alles Russischen bis hin zur Musik von Tschaikowsky stattfindet als sei die russische Kulturgeschichte für die Kremlpolitik verantwortlich (ausgerechnet Tschaikowsky, der aus zeitgemäßer LBGTQ-Sicht ja vor Diskriminierung geschützt werden müsste!). Aber ist man umgekehrt russophob, wenn man den vom Kreml geführten Krieg beim Namen nennt und kritisiert? Interessanterweise wird die Denkvermeidungsfigur „Russophobie“ hauptsächlich von denen verwendet, die ihrerseits oft Opfer der Antisemitismuskeule sind. In beiden Fällen werden die Kritiker persönlich getroffen und zum Schweigen gebracht, statt dass vorurteilsfrei über die Sache gesprochen wird.
23.07.2023 In diesem Krieg gibt es nur Aggressoren
Kriege werden seit über 50 Jahren nicht mehr offiziell erklärt und auch kaum noch mit Vertrag beendet. Man praktiziert Waffengänge und Zerstörungen als seien es selbstverständliche Bestandteile von Politik. Da waren selbst die „Kabinettskriege“ des 18. und 19.Jahrhunderts zivilisierter. Auch der Krieg in der Ukraine ist – aus Sicht eines Akteurs – nur eine „Spezialoperation“. Völkerrechtlich gibt es zwar einen Aggressor und einen Verteidiger, denn der Krieg findet auf dem Territorium der Ukraine statt. Trotzdem sind nur Aggressoren zu erkennen, wenn man genauer hinschaut.
Die ukrainischen und befreundeten westlichen Regierungen haben seit 2014 völkerrechtlich vereinbarte demokratische Entscheidungen für mehr Autonomie in der Ostukraine („Minsk“) verhindert und statt dessen gewaltsame Behinderungen der dortigen russischsprachigen Bevölkerung durchgesetzt. Das waren keine militärischen, aber massive zivile Angriffe. Auf diese Provokation haben Teile des ukrainischen Militärs mit einseitiger Autonomieerklärung für den Donbass reagiert und diese militärisch durchzusetzen versucht – mit mehr oder weniger verdeckter Hilfe durch den Kreml. Damit begann die militärische Auseinandersetzung, auf die Kiew seinerseits massiv militärisch reagiert hat. Es folgten acht Jahre lang bewaffnete Auseinandersetzungen, die man nicht als Bürgerkrieg bezeichnen kann, weil sie zwischen Teilen des ukrainischen Militärs stattfanden, unterstützt von Waffenhilfe aus Russland einerseits und finanzieller amerikanischer Hilfe andererseits. Nach dem Beginn der russischen „Spezialoperation“ 2022 hat Kiew dann zwar zuerst einer Verhandlungslösung zugestimmt, diese Zustimmung aber auf Druck seiner westlichen Verbündeten wieder zurückgezogen.
Seitdem führt die NATO „verdeckt“ Krieg in der Ukraine und auf deren Rücken, nicht in, aber gegen Russland. Diplomatische und intellektuelle Leichtgewichte wie die deutsche Außenministerin machen aus ihren martialischen Absichten kein Geheimnis und verhalten sich entsprechend. Die Ukraine wird zunehmend mit Waffen versorgt, was man für eine berechtigte Unterstützung ihrer Verteidigung halten könnte, wenn man die vorangegangenen Provokationen, Völkerrechtsverletzungen und Verhandlungsabbrüche ignoriert. Aber auch umgekehrt kann nicht von Verteidigung gesprochen werden:
Wer darauf hinweist, dass der Krieg ja nicht erst 2022, sondern schon 2014 begonnen habe mit militärischen Angriffen gegen den Donbass durch ukrainisches Militär, darf den vorangegangenen bewaffneten Separatismus durch andere Teile des ukrainischen Militärs nicht vergessen. Solches würde kein Staat hinnehmen und auch die betroffene Bevölkerung ist von den Separatisten nicht gefragt worden, ob sie Teil und Opfer eines solchen Krieges werden möchte. Dieser „Bürgerkrieg“ von abtrünnigem ukrainischem Militär wäre gewiss keine acht Jahre lang ohne mehr oder weniger verdeckte russische Kriegsbeteiligung möglich gewesen; das ist jedem klar, der einen Blick auf die Landkarte wirft. Nicht nur Kiew führt mit westlicher Hilfe in der Ostukraine seit 2014 Krieg, ukrainische Truppen selbst haben mit russischer Hilfe seit 2014 Militäraktionen gegen die Zentralmacht begonnen. Das ist keine Rechtfertigung, für niemanden, sondern eine Beschreibung.
Die Aktionen des Kremls könnte man höchstens dann wohlwollend als präventive(!) „Verteidigung“ Russlands verstehen, wenn ein Angriff der Ukraine oder der NATO auf Russland bevorgestanden hätte. Das war aber nicht der Fall und es wird selbst von Militärexperten, die sehr NATO-kritisch eingestellt sind wie z. B. Scott Ritter, deutlich in Abrede gestellt; demnach sei die NATO (und erst recht die Ukraine) auf absehbare Zeit weder in der Lage noch willens gewesen, Russland militärisch anzugreifen. Und es geschieht bis heute nicht.
Zweifellos hat der Westen seit langem einen Wirtschaftskrieg und auch einen politischen Krieg gegen Russland geführt. Es gab und gibt völkerrechtswidrige Sanktionen und ebenso unnötige wie provokative Aufnahmen russischer Nachbarn in die NATO. Es gab einen finanziell und personell unterstützten prowestlichen Putsch in Kiew. Man stelle sich vor, russische Regierungsmitglieder hätten zum Beispiel bewaffnete Rassenunruhen in den USA finanziell mit Milliarden $ unterstützt, also befeuert, und an Demonstrationen dort teilgenommen – so wie der damalige US-Vizepräsident Biden persönlich auf dem Maidan erschienen ist. Die massive US-Einmischung in Kiew 2014 ist eine Tatsache, deren internationale Folgen einkalkuliert, wenn nicht gewollt waren. Wer das verneint, erklärt das Personal im Weißen Haus in Washington D.C. für verantwortungslos kurzsichtig.
Aber ist ein provozierter militärischer Einmarsch Russlands in die Ukraine deshalb eine zwingende oder auch nur eine berechtigte Folge? Ist unschuldig, wer sich provozieren lässt? Hätte der Kreml die westlichen Sanktionen vielleicht auch mit eigenen Sanktionen ohne Krieg beantworten können? Hätte es ohne den russischen Einmarsch einen jahrelangen Krieg mit hunderttausenden Toten und Geflüchteten, zerstörten Städten und Landschaften, lebendigem Hass auf Generationen hinaus und einer vertieften Spaltung Europas und der Welt gegeben? Hätte es all das oder Schlimmeres ohne den Einmarsch gegeben? Wer unterstellt, diese Folgen seien nicht absehbar gewesen, erklärt das Personal im Kreml für verantwortungslos kurzsichtig. Zum Zeitpunkt des Einmarsches gab es in Kiew übrigens eine demokratisch gewählte Regierung, die vom Kreml allerdings als faschistisch und illegitim bezeichnet wurde und wird und deren Beseitigung als ein Grund für die Militäraktionen angegeben wird.
Das Argument, Russland in seinen heutigen Grenzen habe sich verteidigen müssen, wird übrigens vom Kreml selbst kaum bemüht. Noch vor zwei Monaten bestätigte Putin auf einer Petersburger Konferenz, dass Russland nicht existenziell bedroht sei. Der Kreml begründet seine Spezialoperation vielmehr mit der Wiederherstellung einer russischen Einheit, zu der aus Kreml-Sicht auch Teile der Ukraine gehören, die vom westlichen / faschistischen Joch befreit werden müssten. Durch diese Brille betrachtet handelt es sich tatsächlich nicht um einen Einmarsch, sondern um die Verteidigung eines als größer verstandenen Russlands, das zur Zeit leider zu enge Grenzen habe. Wer dieses „Argument“ akzeptiert, unabhängig davon, ob es historisch zutrifft, muss allerdings einen permanenten Weltkrieg für richtig halten, denn historisch „ungerechte“ Grenzen lassen sich vielerorts finden. Das verpflichtet die Menschheit aber doch wohl zu anderen Schlussfolgerungen als zur Kriegsführung! Als zweites Argument wird vom Kreml immer wieder eine im Aufbau begriffene neue multipolare Weltordnung genannt, die die vom Westen selbst verratenen Werte besser bewahre als der absteigende westliche Kontinent. Nicht nur die Taten, sondern auch die Reden belegen also, dass der Kreml aktiv-offensiv und nicht reaktiv-defensiv unterwegs ist.
Dazu passt der kürzlich vorgetragene Verhandlungsvorschlag von Medwedew, die Ukraine sei aufzuteilen in einen zu Russland gehörenden östlichen und einen anderen EU-Staaten anzugliedernden westlichen Teil. Erst ein Verschwinden der Ukraine als Staat sichere den Weltfrieden. Das war ernst gemeint. So gerne man Verhandlungslösungen sehen möchte: dieser Vorschlag ist nichts als eine weitere aggressive Provokation, aber keine Gesprächsbasis. In der Ukraine werden Bandera-Statuen aufgestellt. Schlimm genug. Aber in Russland nimmt die Stalin-Verehrung wieder zu.
Fazit: der Westen führt auf dem Rücken der Ukraine und mit ihr als Handlanger fürs Grobe einen Stellvertreterkrieg gegen Russland als Ergänzung seines jahrelangen Wirtschaftskrieges. Russland führt auf dem Rücken der Ukraine – nach eigenem Bekenntnis – einen Krieg erstens gegen Regierung und Staat Ukraine und zweitens für eine neue antiimperialistische multipolare Welt. Deren Antlitz wird sich mit solchen Methoden allerdings nicht von der alten imperialistischen unipolaren Welt unterscheiden. Braucht eine – gewiss wünschenswerte – neue Weltordnung denn Krieg als Geburtshelfer? Der Weg zum Frieden, zu einer besseren Weltordnung, wird nicht leichter, wenn die Entscheidungsträger auf allen Seiten Krieg als Mittel der Politik für legitim halten. Aber die Projektion des eigenen Friedenswillens auf die eine oder die andere aggressive Seite hilft auch nicht weiter. Auch unsere Regierung und der größte Teil unseres Parlaments ist Teil einer Gewaltmaschinerie und ebenso wenig verhandlungsbereit wie die russische Seite. Das betrifft nicht nur die Taten, sondern auch die zugehörigen Denkweisen und Propagandareden, die auf allen Seiten von Feindbildern durchtränkt sind.
Es mag naiv klingen, ist aber dennoch wahr: Eine bessere Weltordnung beginnt mit dem Frieden oder es wird keine bessere. Als der Psychologe Alfred Adler 1916 nach seinem Einsatz als Arzt im Krieg von Freunden in Wien gefragt wurde, was es Neues gäbe, antwortete er: „Mir scheint, was die Welt zurzeit am meisten braucht, ist Gemeinschaftsgefühl.“ Das ist auch nach einem Jahrhundert noch eine tagesaktuelle Nachricht.
01.07.2023 Digital oder analog?
Es gibt Ignoranten, die am liebsten nicht einmal einen E-Mail Account nutzen. Und es gibt umgekehrt auch Fanatiker, die von einer bargeld- und papierlosen Welt träumen und alles elektrifizieren wollen, vom Verkehr über die Heizung bis zur Kommunikation und der Bildung. Da freut man sich zum Beispiel über den kritischen Kommentar von Klaus Zierer, der das Thema unter verschiedenen Aspekten und auch aus pädagogischer Sicht behandelt.
https://www.nzz.ch/meinung/unheilvolle-turbodigitalisierung-im-schulischen-bereich-ld.1736731
Zunächst weist Zierer auf die fehlende Nachhaltigkeit der überall vorangetriebenen Elektrifizierung hin. Der Strombedarf all der Geräte von den Whiteboards in den Klassenzimmern über Tablets und Beamer bis hin zu den immer leistungsfähigeren Smartphones, die den Kindern immer wieder neu zur Verfügung gestellt werden, wächst immens. Dass beim Bau dieser Geräte seltene Materialien unter menschen- und umweltschädlichen Bedingungen gewonnen werden, wird nahezu ausgeblendet oder schulterzuckend akzeptiert. Dass es nahezu unmöglich ist, den explodierenden Strombedarf einschließlich massiver Infrastrukturinvestitionen „klimaneutral“ zu decken, ebenso. Vor allem „grüne“ und „liberale“ Politiker scheinen sich in ihrer Digitalisierungswut ausnahmsweise einmal einig zu sein. Wieso eigentlich?
Mindestens ebenso wichtig ist die absehbare menschliche Entwicklung – zum Negativen. Zierer beleuchtet hier die Digitalisierung im Bereich Kommunikation und Bildung. Die Lernleistungen gehen seit über zehn Jahren zurück, soziale Auffälligkeiten, psychosoziale Erkrankungen, Spielsucht, Fettleibigkeit, Kurzsichtigkeit und andere Gesundheitsschäden nehmen zu, Lese- und vor allem Schreib- und Rechenkompetenzen nehmen ab. Denn Gedächtnisleistungen hängen auch von ausreichender und unterschiedlicher körperlicher Bewegung ab, sodass sie zu verkümmern drohen, wenn die körperliche Bewegung sich aufs leichte Tippen und Wischen beschränkt. Der zunehmende Abschied von der handwerklichen Erfahrung und der praktischen Auseinandersetzung mit der physischen Welt führt auch zum geistigen Abschied aus der realen Welt. Unterstützt wird dieser Trend durch das Angebot von unendlichen Phantasiewelten im weltweiten Netz.
Ja, es gibt Ausnahmen, zum Teil in gutsituierten Familien, wo man mit den neuen Techniken intelligent umzugehen lernt; aber auch in anderen Kreisen, wo noch menschliches Verständnis lebt, ist man in der Lage, Kinder dosiert mit mit den Datenfluten umgehen zu lassen und ihnen mindestens gleichrangig die Beziehung zu Menschen und auch zu realen Dingen zu lehren. Trotzdem gibt es viel zu viele weniger glückliche Opfer, die kaum noch in der Lage sind, halbwegs anspruchsvolle Berufe auszuüben – weshalb man ja eine neue Form des Kolonialismus einführt: die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte, die anderswo ausgebildet wurden und dort auch gebraucht werden würden.
Was ist das Ziel der Digitalisierungsanstrengungen? Nur ein wohlgemeinter Plan zur Erleichterung des Lebens? Banales Profitdenken von Medienkonzernen? Ein Programm zu zentralisierender Kontrolle über alle gesellschaftlichen und privaten Vorgänge? Ein bisschen von allem? Wir müssen aufpassen, dass mit rücksichtsloser Digitalisierung nicht die menschliche Natur nachhaltig beschädigt wird. Wir müssen lernen, wie jeder Einzelne von uns technische Entwicklungen zur Verbesserung des menschlichen Lebens, nicht zu seiner Zerstückelung, nutzen kann.
21.06.2023 Eisbrecher für eine schöne neue Welt
Sergej Karaganov, ein prominenter russischer Politologe, hat in einem Interview die mittel- und langfristigen Ziele der „militärischen Spezialoperation“ des Kremls in der Ukraine erklärt. So soll die Welt aussehen, für die sich Russland einsetzt – GlobalBridge
Mir ist nicht bekannt, welche offizielle Funktion Karaganov in Russland hat, aber seine Erklärungen passen inhaltlich sehr gut zu dem, was wir aus den Stellungnahmen von Kremlführern kennen. Es geht um die Befreiung der Welt vom westlichen Joch; Russland stehe mit seiner Spezialoperation, die nur ein kleiner Teil im Rahmen der anstehenden Weltveränderungen sei, an der Spitze dieses Kampfes wie ein Eisbrecher gegen das Resteis des neokolonialen Systems westlicher Vorherrschaft. Die Zukunft liege im Osten, was viele Staaten ja zunehmend sähen und praktizierten. Der kleine Teil Ukraine-Operation habe in diesem globalen Transformationsprozess das Ziel einer vollständig entmilitarisierten, am besten aufgeteilten oder jedenfalls prorussischen Ukraine; nur eine völlig andere Ukraine als jetzt würde einen gerechten Frieden sichern. Der Kampf dort habe das Ziel, dass die Menschen menschlich bleiben können.
Gegenüber einer solchen Aussage sind selbst ironische Kommentare fehl am Platz. Da fehlen einfach die Worte. Das ist Machtpropaganda as usual: Krieg als Treibmittel für den Aufbau einer schönen neuen Welt. Die Toten rechts und links am Wegesrand kommen bei Karaganov mit keiner Silbe vor und werden nicht einmal mit einem leider notwendig gewürdigt. Sie sind einfach nicht der Rede wert. Ebenso wenig ist davon die Rede, dass Russland sich gegen eine Bedrohung oder gar gegen einen Angriff wehren müsse. Selbst Putin hat kürzlich bei einem Wirtschaftsforum in Petersburg eine existenzielle Bedrohung Russlands erneut in Abrede gestellt. Denn darum geht es nicht. Nein, es geht um das große Ziel: wir sind auf dem Weg zu einer besseren, einer bunteren, einer menschlicheren Welt; deshalb haben wir Russen uns aufopferungsvoll und sozusagen aus freien Stücken auf diesen beschwerlichen Weg gemacht.
Ich habe dazu eine Frage: Warum muss diese bessere Welt, die gemäß Karaganov aus den Ruinen des untergehenden riesigen Kontinents westlicher Zivilisation sowieso gerade entstehe, mit einer solchen Spezialoperation im Nachbarland beschleunigt werden – wohl nach dem alten Motto des Stärkeren: was sowieso fällt, das soll man kräftig stoßen? Diese Frage wird von Karaganov und seinesgleichen nicht einmal gestellt, geschweige denn, beantwortet. Aber wenn die Vision von einem weltpolitischen Ziel nicht nur von Absichtserklärungen, sondern von den Taten auf dem Weg dorthin geprägt wird, dann reproduziert der Weg zu dieser schönen neuen Welt lediglich die schlechteren Teile der alten.
Historische Vergleiche funktionieren immer nur oberflächlich, aber hier darf man doch einmal an Napoleon denken, der als Erbe einer Revolution für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit diesen weltpolitischen Prozess mit ähnlichen Spezialoperationen beschleunigen wollte. Und es tatsächlich auch getan hat. Aber um welchen Preis? Fallen uns keine besseren Spezialoperationen ein auf dem Weg zu einer menschlicheren Welt? Nein, auch unseren Politikern fällt zur Zeit leider nichts anderes dazu ein als Panzer um Panzer und Kopf um Kopf. Deshalb sind wir alle aufgefordert, uns etwas Besseres zu überlegen, wenn wir es ernst meinen mit einer menschlicheren Welt.
05.06.2023 Demokratie ist Frieden
Die große Mehrheit der Menschen lebt friedlich und kooperativ. Man sorgt sich um sein eigenes Leben und das seiner Nächsten, seiner Familie, und hat in der Regel kein Interesse daran, Nachbarn und Kollegen zum Teufel zu jagen. Gelegentlicher Ärger oder auch mal Gemeinheiten kommen vor, erklären aber nicht den Menschen von Grund auf zu einem Bösewicht, der von morgens bis abends nur gewalttätigen Egoismus praktiziert. Wenn ein solches Menschenbild realistisch wäre, hätte die Menschheit nicht auf 8 Milliarden angewachsen können, sondern wäre längst ausgestorben. Unter „Freund und fremd“ wird dieser Gedanke genauer betrachtet.
Die größeren Gemeinheiten, die über Raubzüge im Innern und nach außen bis hin zur Kriegsführung reichen, werden von Minderheiten praktiziert und veranlasst. Sie füllen die Geschichtsbücher während der konstruktive, aber unspektakuläre Alltag eher im Dunkeln bleibt. Doch die Aggressionen der machthungrigen Minderheiten füllen leider nicht nur die Geschichtsbücher, sondern belasten allenthalben das Alltagsleben der Mehrheit. Schon Michel de Montaigne wusste, dass nicht die Armut, sondern der Reichtum die Habsucht gebiert; daher lässt sich die Habsucht – und damit Raubzüge und Kriege – logischerweise dadurch vermeiden, dass ein Übermaß an Reichtum, konzentriert in den Händen weniger Bandenmitglieder, vermieden wird.
Der Leser darf sich die Bandenmitglieder gerne als solche vorstellen, die auf den ersten Blick nicht im kriminellen Milieu anzutreffen sind, sondern an den Schalthebeln von großen Wirtschaftseinheiten, in Think tanks und in politischen Ämtern. Das ist kein Argument gegen große Wirtschaftseinheiten oder politische Ämter. Sondern eines für die Notwendigkeit, damit einhergehende Versuchungen zu unterbinden. Wie das geht? Das ist die Sisyphos-Aufgabe der Menschheit seit sie an demokratischen Verkehrsregeln arbeitet. Es ist nicht nur eine organisatorische Aufgabe, das auch, sondern vor allem eine mentale, eine intellektuell-gefühlsmäßige: Es geht darum, die den Menschen immer und überall selbstverständlichen kooperativen Umgangsformen auch von den potenziell räuberischen Minderheiten zu verlangen, die in einflussreichen Positionen sitzen – durch wirksame Gesetze und durch persönlichen Einsatz.
Wenn Demokratie darin besteht, das gesellschaftliche Leben nach dem Willen der Mehrheit zu gestalten und wenn die Mehrheit in ihrem Alltag mit unspektakulärer Kooperation vertraut ist und nur so leben kann, dann muss dieser Mehrheitswille auch zu einem Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit und zu friedlichem Umgang im öffentlichen und internationalen Leben führen. Umgekehrt: Wo soziale Ungleichheit und Kriegsbereitschaft wachsen, muss man das Funktionieren von Demokratie in Frage stellen und die kooperative Praxis als alternativlose Aufgabe nicht nur ins Bewusstsein, das auch, sondern in die Realität zurückholen.
29.05.2023 Bürger-Räte-Republik?
Seit weinigen Jahren forcieren bestimmte politische Kräfte „Bürgerräte“ als neues Demokratieformat. Angeregt und ermutigt wurde das durch eine Kampagne in Irland, mit der dort die gleichgeschlechtliche Ehe und die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs durchgesetzt wurde. Die Themen, die seitdem in verschiedenen EU-Ländern lanciert werden, befassen sich ebenfalls mit „Gendergerechtigkeit“ und vor allem „Klimaschutz“.
Die Bürgerrat-Kampagne wird unter dem Button genauer betrachtet; hier nur so viel: Angeblich repräsentativ werden aus öffentlichen Melderegistern 160 Bürger ausgewählt und zu einem mehrtägigen Treffen zu einem vorgegebenen Thema eingeladen. Unter Mithilfe von beigestellten Experten erarbeiten sie Empfehlungen, die die Politik bitte beachten möge. Manche Aktivisten fordern bereits „Gesellschaftsräte“ zum Thema Klimaschutz, die verbindliche Entscheidungen erarbeiten sollen, welche vom zuständigen Parlament (Bund, Land oder Gemeinde) umzusetzen wären. Bezahlt werden diese millionenschweren Aktionen von interessierten Stiftungen, vom Verein Mehr Demokratie e.V. und unter wohlwollender Mithilfe von gewählten Volksvertretungen bis hin zum Bundestag.
Die Sprecherin von Mehr Demokratie e.V., Claudine Nierth, wurde von der Zeitschrift Cicero zum Thema Direkte Demokratie und Bürgerräte interviewt.
Sie betont zuerst die Notwendigkeit von Volksabstimmungen, die auch unser Grundgesetz – auf Bundesebene bisher vergeblich – vorsieht und wofür der Verein, für den Frau Nierth spricht, tatsächlich seit 30 Jahren gekämpft hat. Im weiteren Verlauf des Interviews wechselt das Thema über zu den Bürgerräten, für die der Verein seit wenigen Jahren eintritt und die er auch mit Hilfe des Deutschen Bundestages in zunehmendem Maß organisiert und finanziert. Dieser Themenwechsel im Interview entspricht ziemlich genau dem Themenwechsel, den der Verein in seiner praktischen Arbeit vornimmt. Frau Nierth plädiert für das Format Bürgerrat als einer wichtigen Ergänzung für die demokratische Meinungsbildung und wünscht sich dafür eine intensivere Praxis und eine größere Verbindlichkeit. Der Interviewer weist mit kritischen Fragen darauf hin, dass die Bürgerräte immer bestimmte Themen vorgegeben bekommen (Klimaschutz, Gendergerechtigkeit, Ernährungsvorschriften) und dass zu diesen Themen auch mit der Auswahl von Experten das Ergebnis gesteuert werde.
Als überzeugter Demokrat kann man diese kritischen Fragen zwar begrüßen, darf sie aber auch getrost als zu harmlos bezeichnen. Angemessen wäre es, diese Bewegung als das zu charakterisieren, was sie ist: eine politische Kampagne, die mit demokratischem Anschein und Unterstützung von gleichgesinnten Mandatsträgern bis in höchste Ebenen, aber an demokratischen Institutionen vorbei, bestimmte zeitgeistige Themen durchsetzen will. Das Engagement für eine echte Institutionalisierung, Stärkung und Nutzung direktdemokratischer Verfahren wird praktisch immer weiter auf ein Abstellgleis geschoben. Die Aktivisten haben wohl erkannt, dass sie ihre eigenen politischen Ziele besser durchsetzen können, wenn sie es nur mit kleinen ausgewählten Gruppen zu tun haben statt mit einem unberechenbaren Volk. Geht es also um „Mehr Demokratie“ oder um mehr Effektivität für die eigenen Ziele von Interessengruppen?
27.05.2023 Was verhandeln?
Die Forderungen nach Verhandlungen statt Waffenlieferungen im Ukrainekrieg sind gut gemeint und aller Ehren wert. Aber wer soll auf welcher Basis was verhandeln?
Selenski weist entsprechende Empfehlungen sogar des Papstes zurück, solange nicht das ganze ukrainische Staatsgebiet inkl. Krim zurückerobert ist. Putin macht nicht nur die Zugehörigkeit von Krim und Donbas zu Russland zur Vorbedingung von Verhandlungen – sondern er lässt sich aktuell dabei filmen wie er eine Karte aus dem 17. Jahrhundert studiert, auf der es die Ukraine als eigenen Staat nicht gibt. Man könnte das für einen schlechten Witz halten – wenn er damit nicht seine Reden vor und während des Krieges inhaltlich in Erinnerung rufen würde und wenn sein Vertrauter und Expräsident Medwedew nicht gleichzeitig Vorschläge für eine „Friedensordnung“ machen würde, und zwar:
Die Ostukraine gehört sowieso zu Russland, die Westukraine wird verschiedenen EU-Staaten zugeschlagen und der zentrale Bereich darf darüber abstimmen, dass er auch zu Russland gehört. Nur bei einem solchen Szenario seien weitere Kriegshandlungen ggf. bis zum Weltkrieg vermeidbar. Kurz: Frieden mit Russland nur unter der Voraussetzung, dass es keinen Staat Ukraine gibt. Das ist keine bösartige Unterstellung, sondern die klar und wiederholt ausgesprochene Zielsetzung der Kremlführung.
Was soll ein denkender und fühlender Mensch sich da wünschen, wenn zwei bewaffnete und kompromisslose Mächte beide einen Staat für sich beanspruchen, der Mitglied der UNO ist? Es besteht kein Zweifel, wer Angreifer und wer Verteidiger ist. Aber was bleibt übrig an Verteidigungswertem? Wünschen kann man sich da wohl nur noch, dass wenigstens alle Waffen ihren Dienst verweigern, wenn die „verantwortlichen“ Führer auf allen Seiten sich weigern, etwas anderes als Waffen sprechen zu lassen. Wer denken und fühlen kann, dem bleibt mal wieder nur die Utopie.
05.05.2023 Zauberlehrlinge
Die künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Schon heute können nicht nur Lehrer an Schulen nicht mehr unterscheiden, ob ein Text von einem Schüler oder einer Maschine verfasst wurde, sondern auch Professoren an Hochschulen unterscheiden kaum noch, ob eine Seminar- oder Bachelorarbeit von einem Menschen oder von einem mit ein paar Stichworten gefütterten Computerprogramm verfasst wurde. Dichtung und Wahrheit verschmelzen untrennbar miteinander – aber nicht nur im Kopf eines Künstlers, sondern außerhalb aller menschlichen Köpfe. Maschinen präsentieren uns virtuelle Welten, die über das hinausgehen können, was wir schon lange als gezielte Propaganda gewöhnt sind. Es geht viel weiter. Die Neue Zürcher Zeitung berichtet von einem „godfather“ der KI-Entwicklung, Geoffrey Hinton, der nun die Firma google verlassen hat, auch um über die Gefahren der von ihm maßgeblich mitentwickelten Technik zu warnen.
Er findet es vorstellbar, dass künstliche Intelligenz nicht nur in der Lage ist, selbst einen Computer-Code zu entwickeln, sondern diesen auch in Eigenregie anzuwenden. Das kann sich zum Beispiel auch auf autonome Waffensysteme beziehen, sprich: ohne menschliches Eingreifen könnte eine künstliche Intelligenz einen Waffengang aktivieren… Hinton hat selbst neuronale Netzwerke mitentwickelt, die zu einem „Deep Learning“ führen, das heißt zu der Möglichkeit, dass neuronale Netzwerke mit Hilfe von Algorithmen und großen Datensätzen eigenständig denken lernen. Bei der Geschwindigkeit heutiger Rechner, Datenmengen zu verarbeiten, ist dieses Denken mit all seinen Verknüpfungen und Assoziationsmöglichkeiten, dem menschlichen Gehirn inzwischen überlegen.
Welche Algorithmen, welche Datensätze werden solchen Netzwerken zur Verfügung gestellt? Oder können sie das bald selbst entscheiden? Auf Basis eines welchen „Moral-Algorithmus´“? Wer kontrolliert diese Systeme noch, wenn sie sich in denselben Datenwolken bewegen wie wir Bürger und wie unsere politischen Entscheidungsträger? Niemand wird mehr unterscheiden können, welche von den Computern verbreiteten Informationen einen Realitätsbezug haben oder fiktionale Welten präsentieren. Das wird nicht nur unsere eigenen menschlichen Entscheidungen auf fatale Weise beeinflussen und in die Irre führen, sondern künstliche Systeme selbst werden Entscheidungen treffen können, die unser reales Leben beeinflussen.
Ein konsequenteres Ende der menschlichen Freiheit ist kaum denkbar. Und ein Zaubermeister, der das mit seinem Spruch wieder zur Ordnung ruft, ist nicht in Sicht.
27.04.2023 Die Waffen nieder!
Es war einmal, da empörten wir uns über die vom Westen geführten Kriege. Da es auch innenpolitisch ausreichend Gründe zu Protesten gab, war unsere Orientierung klar: wir sind Opposition. Die Ungerechtigkeiten im Osten haben den einen oder anderen zwar auch interessiert, aber der Osten war zumindest tendenziell schwächer und weniger expansiv; das machte ihn irgendwie sympathischer. Und er berief sich ja auf Stammväter, auf die viele von uns sich damals auch beriefen. Das hat schon damals viele von uns dazu verleitet, mit zweierlei Maß zu messen, eine Haltung, die unter dem Stichwort Nationalismus genauer betrachtet wird.
Aber es hat sich etwas geändert. Teile der einst linken und überwiegend friedfertigen Opposition haben kurz vor der Jahrtausendwende Regierungsverantwortung übernommen. Seitdem sind für viele, die ihr politisches Hemd nicht wechseln wollten, die Aggressionen des Westens zu einem Kampf für das Gute geworden. Krieg als Mittel der Politik ist auch für sie wieder vorstellbar, wenn nicht sogar notwendig, natürlich mit einem wohlfeilen „leider“ versehen.
Andere, die diese Wendung nicht mitgemacht haben und weiter unsere Seite als die aggressive kritisieren, haben inzwischen ebenfalls – wenn nicht schon immer – Verständnis für Krieg als Mittel der Politik. Allerdings sind sie ihrer Oppositionshaltung gegen unsere Seite treu geblieben und pflegen weiterhin Sympathien für die andere Seite. Der russische Krieg in der Ukraine wird von ihnen auch nach 14 Monaten, einer halben Million Toten, unzähligen Verwundeten, Geflüchteten und anderen Zerstörungen als ein – natürlich leider – notwendiger Verteidigungskrieg Russlands (!) deklariert, bei dem doch immerhin die Zivilbevölkerung geschont werde… Wer die Kremlpolitik kritisiert wird der Russophobie verdächtigt, ungefähr so wie jemand des Antisemitismus verdächtigt wird, der die Politik Israels kritisiert.
Während wir uns also früher über- damals illegale! – Waffenlieferungen in Krisen – geschweige denn in Kriegsgebiete empörten, empören sich die einen heute, wenn man zu wenig Waffen nach Kiew entsendet; und die anderen, wenn man den russischen Angriff auch nur beim Namen nennt. Sie alle meinen wohl, man müsste heute realistisch sein und sich globalstrategisch positionieren angesichts des westlichen Abstiegs und des asiatischen Aufstiegs. Die einen wollen mit allen Mitteln den „Westen“, also die extrem nationalistische und korrupte Ukraine verteidigen, die anderen wollen lieber den asiatischen Aufstieg flankieren und deuten diesen Krieg als antiimperialistischen Kampf für einen gerechteren Frieden. Für beide Seiten ist es klar, dass man dabei über manch Unerfreuliches hinwegsehen müsse. Muss man das? Was sagen die Betroffenen dazu, von denen die meisten nicht gefragt wurden?
Es sind wenige geworden, die ungeachtet der großen globalstrategischen Bewegungen für Niemanden Verständnis haben, der gewalttätige machtpolitische Entscheidungen über die Köpfe von Betroffenen hinweg fällt. Es sind wenige, die an der – meinetwegen utopischen – Idee eines friedlichen und menschengerechten Zusammenlebens festhalten; und zwar nicht erst nach einem dafür angeblich mal wieder notwendigen Krieg, sondern unbedingt vorher und statt dessen. Ohne Stimmen, die dieses aus vollem Herzen in alle Richtungen fordern, wird es nie ein Ende der Gewalt und auch keine bessere Welt geben.
20.04.2023 Wem gehört Taiwan?
Die Insel Taiwan ist seit der letzten Eiszeit besiedelt; damals bestand aufgrund des niedrigen Meeresspiegels eine Landbrücke zum Festland. Die Insel gilt als ein Hauptausgangspunkt der Menschen, die in den nachfolgenden Jahrtausenden die Inselwelt des Pazifiks besiedelt haben. Reste der Urbevölkerung sprechen heute noch Sprachen, die mit den polynesischen Sprachen verwandt sind. Immer wieder gab es zwar in historischer Zeit Einwanderungen vom Festland aus, aber die Kultur der Insel entwickelte sich zu etwas Eigenständigem.
Erst als die Niederländer im 17. Jahrhundert den Süden der Insel besetzten, geriet diese direkter in den Einflussbereich auch der chinesischen Dynastien und wurde vor allem aus militärischen Gründen von dort aus vereinnahmt. Es folgten drei Jahrhunderte chinesischer Besatzung einschließlich einer Besiedlungswelle vom Festland aus. Nach einem chinesisch-japanischen Krieg Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Insel von 1895 -1945 japanisch besetzt. Das ging zum Teil mit blutiger Unterdrückung der taiwanesischen Bevölkerung, aber auch mit einem gewissen wirtschaftlichen Aufschwung einher.
Der Bürgerkrieg auf dem Festland führte von 1945 – 1949 dazu, dass die unterlegenen Truppen von Tschiang Kai-schek nach Taiwan flüchteten und dort die politische Macht übernahmen – zum Teil mit Gewalt gegenüber der einheimischen Opposition. Diese „Republik China“ versteht sich als Nachfolger der von Sun Yat-sen 1912 ausgerufenen bürgerlichen Republik, die damals das chinesische Kaiserreich beendet hatte. Die Machtübernahme der Kommunisten auf dem Festland 1949 gilt in dieser Sicht als unrechtmäßige Usurpation. Bis zum Tod Tschiang Kai-scheks 1975 handelte es sich auf Taiwan um eine Ein-Parteien-Herrschaft, die danach schrittweise liberalisiert wurde. International war im Rahmen des Kalten Krieges nur diese Republik (Insel Taiwan) als Vertretung Chinas anerkannt und hatte einen Sitz in der UNO, die kommunistische Volksrepublik (das ganze Festland) jedoch nicht. Dass die politische Führung in Taiwan nicht viel demokratischer regierte als die in Peking, interessierte dabei kaum: schließlich waren es keine Kommunisten…
Das änderte sich 1971 als die USA (Nixon und Kissinger) aus globalpolitischen Gründen mit dem Diktator Mao Tse-tung und seiner aufstrebenden Volksrepublik offizielle Kontakte aufnahmen und deshalb die Republik (Taiwan) fallen lassen mussten. Seitdem ist Peking, nicht mehr Taiwan, in der UNO vertreten. Taiwan wird heute nur noch von wenigen Kleinstaaten, vor allem aus dem pazifischen Raum, diplomatisch anerkannt. Politisch ist es einmal mehr Opfer ausländischer Großmachtpolitik geworden.
Trotz quantitativ umfassender Besiedlung durch Chinesen in den letzten Jahrhunderten hat Taiwan eine eigene Kultur- und Politik-Geschichte. Peking beruft sich heute darauf, dass seine „Ein-China-Politik“ international anerkannt sei, die Insel also zur Volksrepublik gehöre. Das mag man so sehen, wenn man Großmachtpolitik, sei es von Peking, sei es von Washington D.C., sei es aktuell von Paris höherstellt als demokratische Prozesse. Aber wie wäre es, wenn man die Bevölkerung von Taiwan einmal nach ihrem eigenen politischen Willen hinsichtlich ihrer Souveränität befragen würde?
14.04.2023 Von der Banalität des Tiefen Staates
Seit einiger Zeit treten politische Aufklärer mit dem Argument auf, unsere Demokratie verschwinde zunehmend zugunsten eines Tiefen Staates, dessen demokratische Fassade die dahinter liegende Diktatur finanzmächtiger Oligarchen verberge. In dieser Sichtweise treffen sich manche ideologisch Rechte wie Linke zu einer Quer- (nicht queer-) Front – während andere Rechte oder vor allem Linke sich umso entschiedener vom Gegenüber als falschem Aufklärer abgrenzen. Sie sind sich aber weitgehend einig in der Ansicht, dass es eine ebenso unsichtbare wie bestimmende Macht gäbe, die ein klares und stringentes Ziel verfolge, vorbei am Volkswillen oder anderen guten Absichten.
Liest man noch einmal beim „Erfinder“ des Begriffes Tiefer Staat nach, bei Mike Lofgren, einem Kenner des Innenlebens der politischen Kultur der USA, dann entsteht ein anderes Bild (zitiert aus Mies, Wernicke: Fassadendemokratie und Tiefer Staat, Wien 2017):
„Meine These ist keine Verschwörungstheorie, das möchte ich betonen. Es ist viel schwieriger, die ganze Gewöhnlichkeit des Tiefen Staates zu beschreiben. Er ist die Vektorsumme aller kleinkarierten bürokratischen Agenden aller Behörden, von Großkonzernen und Think Tanks, die alle wie eine Ameisenkolonne marschieren, um ihren Vorteil zu maximieren. Der Tiefe Staat ist ein Hybrid aus Max Webers eisernem Käfig der Bürokratie, in dem die bürokratische Routine stereotypes Verhalten menschlicher Akteure verursacht, und Robert Musils ehernem Gesetz der Oligarchie, wonach demokratische Institutionen schließlich eine permanente Führungsschicht mit Top-down-Kontrolle und geringer Verantwortlichkeit entwickeln. … Wie es der amerikanische Schriftsteller Upton Sinclair feststellte: Es ist schwierig, einen Mann dazu zu bringen, etwas zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, es nicht zu verstehen.“… „Noch ein Wort zur US-Präsidentschaft: Auch wenn manche meinen, es handle sich um eine Wahl-Monarchie oder Quasi-Diktatur, nichts davon trifft zu. Der Präsident übt erhebliche Macht aus. Aber: Im Tiefen Staat ist er Primus inter Pares und kein ungebundener Autokrat. … Zu den Schlüsselelementen von Konzern-Amerika gehören der militärisch-industrielle Komplex, Wall Street und Silicon Valley. … Washington ist der wichtigste Knoten des Tiefen Staates, aber es ist nicht der einzige. … Es gibt auch Hilfsorganisationen des Tiefen Staates: Die Steuervermeidungs- und Pseudo-Wissenschafts-Stiftungen…“ Und so weiter. Alle diese Einflüsse verfolgen ihre eigenen Ziele.
In diesem Sinn sitzt im Zentrum des Tiefen Staates nicht ein Gott, der die Dinge nach seinem unumstößlichen Willen gestaltet, sondern es gibt ein Netzwerk von Beziehungen, das von niemandem maßgeblich beherrschbar ist, weder von Bill Gates oder Baron Rothschild noch von demokratischen Wahlen oder dem US-Präsidenten. Die Vektorsumme, die aus diesem Handlungsgeflecht entsteht, ist in ihrer realen Form so von niemandem geplant oder gewollt. Was heißt das, wenn man Demokratie dennoch nicht aufgeben will? Man muss Menschen dazu bringen, etwas zu verstehen, auch wenn es für die eigene Bequemlichkeit besser wäre, nicht zu verstehen. Und man muss sie dazu bringen, aus diesem Verständnis Teil des Handlungsgeflechtes werden zu wollen, ein möglichst effektives. Dazu können demokratische Institutionen hilfreich sein, mehr als es in Diktaturen der Fall ist, aber vor allem ist persönliche Aktivität gefragt, von jedem Einzelnen, sei es allein, sei es als Teil einer Gruppe. Damit verlassen wir die politische Ebene und sind bei der Aufgabe der persönlichen Charakterbildung, also bei der Erziehung. Einschließlich einer guten Bildung. Demokratie ist Stärkung der Persönlichkeit.
13.04.2023 Wahlrechtsreform – zum Dritten
Der Vorschlag, die Personen-Überhangmandate bei der Bundestagswahl nur einmal bundesweit und nicht 16mal landesweit auszugleichen (siehe unten 18.03.2023), führt zu partei-gerechten und personenbezogenen Ergebnissen sowie zu einem deutlich kleineren Bundestag. Diese konsequente Vernachlässigung von Länderinteressen bei der Bundestagsbildung muss auf der anderen Seite eine größere Konsequenz für die Landesvertretungen erzeugen. Bislang ist die Länderkammer auf Bundesebene (Bundesrat) nur ein Ausschuss der Länderregierungen, halbherzig so vertreten, dass weder die Bundesländer noch die einzelnen Bürger gleichstark repräsentiert sind. In den konsequenter gestalteten föderalen Staaten USA und später Schweiz sind die Einzelstaaten, bzw. Kantone gleichstark durch direkt gewählte Personen vertreten, unabhängig von der Einwohnerzahl der Einzelstaaten. Diese waren damals (USA 1788, Schweiz 1848) historisch älter als der zunächst nur als schwache Klammer darüber gebildete Bund.
Auch in Deutschland sind die Bundesländer meist etwas älter als der Bund und als selbständige Staaten mit Verfassung, Legislative, Exekutive, Judikative organisiert. Der Zuschnitt dieser Staaten geschah zwar nach dem Zweiten Weltkrieg etwas willkürlich durch die alliierten Auslandsmächte; dennoch ist darin eine lange föderale Geschichte auf deutschem Boden abgebildet, die später mehrfach durch Volksabstimmungen über den Länderzuschnitt bestätigt oder korrigiert wurde.
Das spricht dafür, dass die Ländervertretung auf Bundesebene besser dargestellt werden muss als es bis heute tatsächlich der Fall ist. Der Bundesrat ist leider zu einem Ersatz-Korrektiv des Bundestages verkommen, der gelegentlich dort vorhandene Parteiproporze durch hier vorhandene Parteiproporze konterkariert. Nicht viel mehr und nicht viel weniger. Eine zweite Spielwiese für die Parteien, statt eine echte Ländervertretung. Wie diese aussehen könnte, wird unter Kernthemen / Föderalismus behandelt. Hier nur so viel:
Der Bundesrat sollte direkt gewählt werden als wäre er ein echtes Parlament – das soll er nämlich sein! Das Wahlsystem sollte so gestaltet sein, dass Partei-Einflüsse möglichst zurückgedrängt sind. Eine Persönlichkeitswahl müsste so ausgestaltet sein, dass sie möglichst wenig von Parteien dominiert werden kann. Zum Beispiel könnte jeder Bürger drei oder vier Stimmen haben, die er auf verschiedene Personen oder auch auf nur eine verteilen kann. Gewählt sind dann jeweils die drei bis sechs stärksten Kandidaten, falls es bei der jetzt bestehenden Gewichtung der Länder bleibt. Natürlich kann auch eine andere Gewichtung der Länder überlegt werden, die sich mehr an der Einwohnerzahl orientiert oder alle Länder gleich gewichtet. Wichtig ist, dass eine Direktwahl von Personen eine größere Nähe und Verantwortlichkeit zwischen Bürgern und Entscheidungsträgern bewirken kann. Ebenso müsste es möglich sein, dass parteilose Kandidaten antreten und eine adäquate staatliche Unterstützung dafür erhalten.
In diesem Bundesrat würden dann tatsächlich vom Bürger gewählte Landesvertreter sitzen, denen ihr Land hoffentlich nähersteht als ggf. eine Parteizugehörigkeit. Denn für die Landesinteressen auf Bundesebene sind sie ihren Wählern direkt verantwortlich und müssen sich entsprechend beweisen.
Zum besseren Föderalismus gehört auch, dass die im Grundgesetz bestimmte „konkurrierende Gesetzgebung“ zwischen Land und Bund wieder vermehrt in die Landesparlamente zurückgeholt wird. Demokratie lebt auf mit der Stärkung dezentraler Souveränitäten und die Beteiligung der Bürger daran lebt auf, wenn die Dezentralität institutionell gut organisiert ist. Oder in Anlehnung an ein Bibel-Zitat des Apostels Paulus: Gebt dem Bund, was des Bundes ist und dem Land, was des Landes ist.
18.03.2023 Wahlrechtsreform – nachher
Sie haben es getan. Die Regierungskoalition setzt eine Reform durch, die unser Wahlsystem zu einer Verhältniswahl mit nachgeordneter persönlicher Ergänzung macht. Es lebe die Parteienherrschaft! Nicht jeder persönliche Wahlsieger eines Wahlkreises muss schließlich Abgeordneter werden, oder? Warum so zögerlich, liebe Regierungskoalition? Warum nicht gleich die Persönlichkeitswahl ganz abschaffen? Schließlich müssen ja nicht die Bürger entscheiden, welcher Person sie das Gewissen zutrauen, das ganze Volk zu vertreten, das können nur die Parteien! Was macht es schon, wenn viele Wahlkreise einen persönlich gewählten Abgeordneten haben, andere aber nicht? Die haben dann eben Pech gehabt, na und?
Bleibt nur zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht erkennt, dass die grundgesetzlich vorgeschriebene Gleichheit der Wahl damit nicht mehr gegeben ist. Schade, dass die Damen und Herren Abgeordneten meinen Beitrag vom 25.02.23 oder den Reformvorschlag unter Genauer betrachtet nicht gelesen haben… Sie hätten sich und uns dann viel unnötigen Ärger erspart.
16.03.2023 Links? Rechts? Oder sachorientiert?
Es war einmal, die Älteren erinnern sich, da wusste man, was links oder rechts politisch bedeutet. Links war man für die sozial Schwachen, teils verbunden mit pseudowissenschaftshistorischen Theorien, man war tendenziell zwar antimilitaristisch, aber nur bedingt pazifistisch (das waren konsequent nur manche religiösen Gemeinschaften), tendenziell antinational-internationalistisch; viele glaubten, dass die Gleichheit der Menschen, tendenziell noch vor der individuellen Freiheit, das Ziel politischer Arbeit sein müsse. Rechts war man vor allem nationalbewusst bis hin zu tendenziellem Rassismus; Armut galt vor allem als von der Dummheit oder Faulheit der Betroffenen verursacht, weshalb man sich gegen alles Bedrohliche oder Minderwertige im Zweifel mit Gewalt wehren müsse. Denn natürlich seien die Menschen nicht gleich und selbst größere soziale Unterschiede auf der Basis individueller Freiheit deshalb berechtigt.
Wo stehen wir heute in diesem Spektrum? In den Wortmeldungen der Parteien oder politisch aktiver Bürger kann man ähnliche Aussagen in verschiedenen Varianten manchmal noch erkennen. Und in den Taten? Eine sozialdemokratische Regierung hat Anfang des Jahrtausends einen Sozialabbau vorangetrieben, der anderen kapitalistischen EU-Staaten als vorbildlich galt. Zusammen mit einer damals noch für links gehaltenen Grünen Partei wurde wieder Angriffskrieg von deutschem Boden aus geführt. Inzwischen empört sich erneut eine rot-grüne Regierung über jeden, der keine Waffen in Kriegsgebiete liefern will. „Klimaschutz“-Ziele, was auch mal eine eher linke Forderung war, obwohl die Quelle eine andere ist, werden aus globalpolitischen und militärischen Interessen faktisch aufs Abstellgleis geschoben. Eine sich dagegen noch als links verstehende Minderheit, die zumindest deutsche Waffenlieferungen ablehnt, ist zunehmend damit beschäftigt, sich mindestens so sehr von rechten Kriegsgegnern wie von linken Kriegstreibern abzugrenzen.
Auf einmal hört man Stimmen aus dem Militär (a.D.) und vom rechten Rand, die sich deutlich für Friedenspolitik aussprechen und deren Anhängerschaft engagiert für soziale Rechte von Benachteiligten eintritt. Soziale Besitzstände zu wahren ist (auch) zu einem „rechten“ Anliegen geworden, während die Linke mit dem „internationalistischen“ Migrationsthema um Verständnis für soziale Opfer wirbt. Die Idee der Gleichheit der Menschen wird von links mit einer Gender-Ideologie zerstört, deren Haupteffekt eine Spaltung in diverse Gruppen ist, wodurch einem tendenziell rassistischen Antirassismus der Weg geebnet wird. United we stand, divided we fall – das war einmal. Aber nicht nur bei sozialen und militärischen Themen laufen Linke und Rechte „Gefahr“, in einen Gleichschritt, wenn nicht in einen umgekehrten Gegenschritt zu kommen; auch bei der Ablehnung unserer demokratischen Institutionen ist Ähnliches schon zu beobachten.
Wäre es nicht besser, wir würden diese abstrakten Orientierungsmarken aus dem 19. Jahrhundert einfach mal vergessen und uns im sachlichen Gespräch um die anstehenden Aufgaben kümmern?
25.02.2023 Wahlrechtsreform – vorher
Der Verein Mehr Demokratie e.V. hat 2012 beim Bundesverfassungsgericht gegen gewisse Ungerechtigkeiten unseres Wahlsystems geklagt und erreicht, dass das Wahlgesetz angepasst werden muss. Die Politiker verbinden diese Aufgabe zugleich mit der Absicht, dass die Zahl der Abgeordneten, die durch Ausgleichs- und Überhangmandate immer größer geworden ist, zu reduzieren. Das ist auch gut so.
Im ersten Schritt hat man die Zahl der Wahlkreise etwas verringert und beschlossen, nicht alle Überhangmandate auszugleichen. Das ist nicht gut so, sondern schwammig willkürlich und wird nach allgemeiner Einschätzung wenig bewirken. Im aktuellen Regierungsentwurf sieht man vor, Personenstimmen (Erststimmen) zu streichen, wenn sie zu stark von den Parteistimmen (Zweitstimmen) abweichen. Das ist noch weniger gut, weil damit die Personenwahl abgewertet und die Parteienherrschaft zementiert wird; nicht jeder Wahlkreis würde dann einen persönlich gewählten Vertreter haben!
Unser Wahlsystem basiert auf der guten Idee, in jedem Wahlkreis einen persönlich zu wählenden Abgeordneten in den Bundestag zu schicken und durch eine ergänzende Verhältniswahl die Ungerechtigkeit eines reinen Systems „the winner takes it all“ zu vermeiden. Diese Idee lässt sich mit einer Begrenzung der Abgeordneten-Anzahl dann vereinbaren, wenn man wie folgt vorgeht: Alle Erststimmensieger in jedem Wahlkreis sind gewählt. Um das Verhältnis gemäß den Parteistimmen herzustellen, werden nur so viele zusätzliche Abgeordnete in den Bundestag geschickt wie für den Ausgleich der Erststimmen nötig sind. Es wird also nicht für jeden Wahlkreis ein weiterer Abgeordneter bestimmt. Dieser Ausgleich geschieht nicht in jedem Bundesland getrennt, sondern nur einmal auf Bundesebene. Die Parteien müssen also Bundes- (nicht Landes-)listen für den Ausgleich der Erststimmenergebnisse führen. Rein rechnerisch kann es damit – je nach Differenz Erst- /Zweitstimme – sowohl weniger als auch mehr Abgeordnete geben als 2 x die Wahlkreisanzahl. Bei einer nur bundesweiten (nicht landesweiten) Auszählung wird es aber einen Ausgleich in Richtung weniger Abgeordnete als 2 x 299 geben.
Dass dabei nicht jeder Wahlkreis auch mit einer Zweitstimme „repräsentiert “ wird, ist kein Problem, weil die Zweitstimme sich ja nicht auf eine Person, sondern auf eine Partei bezieht, sodass kein persönlicher Anspruch besteht. Und eine bundesweite (nicht landesweite) Parteilistenführung ist deswegen gerecht, weil es sich um eine Bundestagswahl handelt und jeder Abgeordnete das ganze deutsche Volk und nicht sein „Landesvolk“ auf der Bundesebene zu vertreten hat. (Für letzteres gibt es den Bundesrat.) Wie die Landesparteien sich auf eine Bundesliste einigen, ist deren Aufgabe; das gilt auch für CDU/CSU. Mit diesem System wird die Persönlichkeitswahl für jeden Wahlkreis gewahrt, das Parteienverhältnis als „Minderheitenschutz“ ebenfalls, und die Zahl der Abgeordneten wird mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich reduziert. Die Persönlichkeitswahl für jeden Wahlkreis muss auch deswegen beibehalten werden, weil damit nicht parteigebundene Personen eine Chance zum Wahlsieg behalten.
Diese Idee wird unter Direktere Demokratie_Reformvorschlag etwas genauer betrachtet.
12.02.2023 Wissen und Meinen und vor- ver- Urteilen
Anlässlich des Ukrainekrieges wird geredet und geschwiegen wie lange nicht mehr. Geredet wird – auf uns ein. Von Politikern und Journalisten, in Zeitungen, Fernsehen und „sozialen“ Medien. Geschwiegen wird – untereinander. Jedenfalls wird selten mit Freunden diskutiert in der Absicht, Unverstandenes zu verstehen, Informationen auszutauschen und sich darüber zu wundern. Vielmehr werden die Informationen aufgenommen, die eine längst gefasste Meinung bestätigen, andere beiseite geschoben oder mit Gegenbeispielen aus anderen Zusammenhängen konfrontiert, um sie zu relativieren. Ich höre zunehmend von verschiedenen Seiten, dass man mit Andersdenkenden oder sogar alten Freunden nicht mehr reden könne. Keiner will wirklich was wissen, weil er ja eh schon weiß, oder zumindest eine Meinung hat – und das darf man ja wohl in einer Demokratie…
Als würde das, was augenblicklich in der Weltpolitik geschieht, dank der gleichzeitig öffentlich zugänglichen Verlautbarungen und einsehbaren Dokumente ausreichend durchschaubar sein. Als wäre die Zeitgeschichte durch das gerade Sichtbare ausreichend erkennbar. Als hätte es in der Geschichtswissenschaft nicht immer schon Überraschungen gegeben, wenn scheinbar Klares durch erst viel später zugängliche Dokumente manchmal ganz andere Färbungen bekommen hätte. Sodass heute selbstverständlich Erscheinendes vielleicht mit ein oder zwei Fragezeichen zu bedienen wäre. Auf allen Seiten.
Aber für die einen ist es klar, dass die Verteidigung der angegriffenen Ukraine notwendig ist und nur mit noch mehr Waffen gelingen kann – egal, was an Verteidigungswertem hinterher noch übrig bleibt. Und für die anderen ist es klar, dass die Bedrohungskulisse durch den Westen Russland keine Wahl gelassen habe, als sich durch präventiven Angriff zu verteidigen, koste es was es wolle. Unter diesen Vor-Urteilen wird jede Information so oder so eingeordnet – eine Geisteshaltung, die unter dem Stichwort Nationalismus genauer betrachtet wird.
Festgefügte Meinungen lassen sich nur schwer durch Wissen heilen. Vor allem dann nicht, wenn eine ethische Basis fehlt, die besagt, dass Krieg niemals Mittel der Politik sein darf. Wenn beide Seiten diese Haltung hätten – und zwar unabhängig von der Haltung des anderen! – gäbe es keinen Krieg. Aber auch im vorliegenden Fall haben beide Seiten diese Haltung nicht. Dass gegen ungerechte Herrschaft auch ziviler Ungehorsam eine Möglichkeit wäre, die zweifellos mehr Mut und Intelligenz, aber sicher weniger Blutzoll fordert, ist den Entscheidungsträgern und ihren Gefolgsleuten auf allen Seiten keine Option. Und wenn das staunende Publikum außerhalb des Kriegsgebietes diese Haltung hätte, würde es den Kriegsakteuren hinter den Kulissen in den Arm fallen statt sich auf die eine oder andere Propagandaseite zu schlagen. Aber wer die Bomben nicht selbst einschlagen hört… Vielen fehlt es offenbar an Phantasie und Vorstellungskraft, die es braucht, um die einfachen Worte der Alten zu verstehen:
Cicero: der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der gerechteste Krieg. Oder noch einfacher Bertha von Suttner: Die Waffen nieder!
28.01.2023 Beliebte Politiker
Wie kommt es eigentlich, dass Habeck und Baerbock laut Umfragen immer noch die beliebtesten Politiker sind? Die rufen (abgesehen von Strack-Zimmermann) am lautesten nach Waffen gegen Russland, obwohl die Mehrheit der Deutschen dagegen ist, die benehmen sich offensichtlich wie blutige Anfänger in ihren Ministerien, tappen ständig in Fettnäpfchen und müssen korrigiert werden…
Interessante Frage. Pazifisten sind sie ja schon seit dem Jugoslawienkrieg nicht mehr, daran ist ihre Wählerschaft gewöhnt. Gewählt und geliebt werden sie dafür wahrscheinlich auch von anderen, die früher die Grünen nicht einmal mit Handschuhen angefasst hätten.
Ja aber dieser Dilettantismus, was ist denn daran attraktiv? Es gibt doch genug andere Kriegsbefürworter.
Vielleicht erscheinen die anderen nicht stramm genug, die Grünen lassen ja nicht den geringsten Zweifel an ihrer Haltung aufkommen. Und für den Dilettantismus werden sie wahrscheinlich von einer anderen Klientel gewählt und geliebt: von denen, die schon lange nichts mehr von der etablierten Politik wissen wollen und die Grünen immer noch für eine nicht etablierte Alternative halten. Mit dem Dilettantismus wird dieses Bild „wir sind nicht das alte Establishment, wir sind zwar nicht perfekt, aber wir sind die Anderen und wir zeigen allen mal, wo´s langgeht“ gefüttert.
Das klingt jetzt so, als würdest Du die Anhängerschaft von Donald Trump beschreiben.
Das hast Du gesagt.
Aber es stimmt ja nicht, Trump wollte ja provozieren, der war kein Dilettant.
Vielleicht weiß Baerbock als oberste Diplomatin (!) ja auch, was sie tut, wenn sie sagt, „Russland muss ruiniert werden … wir führen gegen Russland Krieg“, um dann wieder einen halben Schritt zurückgeholt zu werden, einen halben! Die ist ja nicht blöd. Und ihre teuren Berater auch nicht.
?
11.01.2023 …blowing in the wind
In seinem Alterswerk, dem Buch über 66 Songs, die ihn beeindruckt und beeinflusst haben, formuliert der Literaturnobelpreisträger von 2016 einige kluge Gedanken in seiner typisch flapsigen, aber treffenden Art. Er bezieht sich auf einen Song von Pete Seeger, der wegen seiner kritischen Anspielungen zuerst nirgends gesendet wurde, ein Jahr später, als die politische Wetterlage sich etwas gedreht hatte, dann aber doch. Damals, in den 1960er Jahren, habe es noch eine Öffentlichkeit gegeben, die all das aufmerksam wahrgenommen habe, auch wenn nicht jeden alles interessiert hat. Kriegsgegner und Kriegsbefürworter schalteten damals dieselben Fernsehsendungen ein, weil es gar nicht viele Auswahlmöglichkeiten gab.
„Wir hatten alle ein gemeinsames Grundvokabular. Menschen, die die Beatles in einer Abendsendung sehen wollten, mussten sich auch Flamenco-Tänzer, Komiker in weiten Hosen, Bauchredner und vielleicht sogar eine Szene aus Shakespeare anschauen. Heute ist das Medium so vielschichtig, man muss sich nur eine Sache herauspicken und kann sich ihr ganz ausschließlich auf einem spezialisierten Stream widmen… Anscheinend stopft man Menschen nicht dadurch am besten den Mund, dass man ihnen ihr Forum nimmt – man muss ihnen nur jeweils eine eigene Kanzel verschaffen. Zum Schluss hören sich die meisten nur noch an, was sie sowieso längst wissen, und lesen nur noch das, womit sie längst einverstanden sind. Sie verschlingen einen faden Abklatsch von Vertrautem und werden vielleicht nie entdecken, dass sie ein Faible für Shakespeare oder Flamenco haben. Das ist genauso, wie wenn man einem Achtjährigen die Entscheidung überlässt, was er essen möchte. Er wird nur noch Schokolade zu sich nehmen und irgendwann an Mangelerscheinungen leiden, schlechte Zähne bekommen und fünfhundert Pfund wiegen.“ (Bob Dylan: Die Philosophie des modernen Songs, München 2022, S. 337 f).
Diese Beobachtung über eine einseitig eingeschränkte Wahrnehmung aufgrund vielfacher Auswahlmöglichkeiten kann man auch auf die politische Welt beziehen. Es gibt heute Mainstreams und Antimainstreams, von manchen auch „Echokammern“ genannt, die sich zwar entfernt aufeinander beziehen, aber letztlich einen Verlust an Öffentlichkeit darstellen. Der politisch Andersdenkende wird schon noch wahrgenommen – als Gegner, aber im jeweiligen Publikum kaum als ernstzunehmender Gesprächspartner. Man hat ja seine eigenen Gesprächspartner auf diversen Kanälen. Dieser Verlust ist übrigens nicht nur in einem so genannten Mainstream zu beobachten, sondern auch in Antimainstream-Medien. Viele dieser Follower nehmen Mainstream-Medien nicht mehr selbst, sondern oft nur noch über Anti-Mainstream-Kommentare zur Kenntnis. Und umgekehrt. Nebenbei: als Leser in beiden Quellen fällt mir auf, dass „Mainstream“-Medien tendenziell über eine größere Meinungstoleranz verfügen als die Anti-Mainstream-Portale.
Wir haben es mit einem Paradoxon zu tun: mit einem Verlust von Öffentlichkeit aufgrund so vieler Möglichkeiten zu (halbwegs) öffentlichen Äußerungen. Man könnte auch sagen: die Öffentlichkeit zerfällt dank omnipräsenter Medientechnik zunehmend in private Zirkel und verschwindet als Ort gemeinsamer Auseinandersetzung. Oder in den Worten, die Jean Paul schon vor 200 Jahren sagte: „Bei Gott, alle Welt spricht und niemand kommt zu Wort.“ Ja, auch diese Website hier ist nur eine weitere „eigene Kanzel“, aber ich bemühe mich zumindest, dass für jede/n etwas dabei ist, was ihr / ihm nicht gefällt.
07.01.2023 …mehr Arbeit als man denkt
In der zurückliegenden Silvesternacht gab es mehr als sonst gewalttätige Ausschreitungen nicht nur gegen die Polizei, sondern sogar gegen Feuerwehr und Rettungskräfte. Die überwiegend jüngeren und jugendlichen Täter*Innen kommen aus verschiedenen Milieus, nicht nur aus migrantischen. Das zeigt, dass es eine wachsende Szene von jungen Menschen gibt, die jede staatliche Autorität ablehnen und bei Gelegenheit auch angreifen.
Diese Gewalttätigkeiten werden in unserer Presse zwar abgelehnt und es wird sogar offen ausgesprochen, dass gut die Hälfte der Täter einen Migrationshintergrund hat. Aber wenn man einen breiteren Blickwinkel nimmt, stellt man fest, dass gesetzwidriges Verhalten je nach Anlass mit zweierlei Maß bemessen wird. Wenn „Klimaschützer“ rechtswidrig handeln und manchmal gemeingefährlich gewalttätig werden, auch gegen die Polizei, zögern viele Kommentatoren und sogar politisch Verantwortliche mit ähnlich deutlichen Worten. Vor wenigen Jahren wurde monatelang ein 2 qkm großes Waldstück besetzt, teils sogar mit dem Argument, das Klima und die Artenvielfalt zu retten, obwohl in diesem Waldstückchen – tatsächlich ein menschengemachter Forst! – nach der Dauerbesiedelung durch Klimaschützer in Baumhäusern sicher keine bedrohte Tierart (mehr) dort zuhause war, weil diese sich zu Recht von den Besetzern bedroht fühlen musste. Aber darum ging auch nur propagandistisch am Rande, tatsächlich wollte man entgegen demokratischen Beschlüssen verhindern, dass dort eine letzte Tranche Braunkohle abgebaggert und dann verstromt wird. Dasselbe Ziel – Braunkohleabbau verhindern – haben zur Zeit auch die „Verteidiger“ eines Dorfes in derselben Gegend, ein Dorf, in dem niemand mehr lebt und um das es gar nicht geht. Die Rechtslage ist klar und demokratisch legitimiert, aber für die kleine Minderheit der aktiven Gegner des genehmigten Kohleabbaus wird öffentlich deutlich mehr Verständnis geäußert als für die Gesetzesbrecher in der Silvesternacht. Sogar für die zur Zeit aktiven Fanatiker der „letzten Generation“, die Kunstwerke demolieren oder sich unter Gefährdung der eigenen und der öffentlichen Sicherheit, auf Straßen und Flugbahnen kleben, um den Weltuntergang aufzuhalten, wird nach ein paar mahnenden Worten um Verständnis für deren berechtigtes Anliegen geworben. Das Amtsgericht Freiburg hielt es in einem Urteil vom 21.11.2022 für rechtens, dass eine Straßenblockade über eine Stunde lang den Verkehr aufhielt, weil der Autoverkehr ja CO2 ausstoße. Solche Toleranz für gelegentlichen Unsinn mag man vielleicht seinen heranwachsenden Söhnen gegenüber zeigen, die gestern Abend zu spät nach Hause gekommen sind und ein Bier zu viel getrunken haben…
Aber hier handelt es sich um Erwachsene, die bewusst und organisiert die demokratische Ordnung einschließlich der Rechtsstaatlichkeit nicht anerkennen und sich als diktatorische Besserwisser aufführen. Sie sind sicher (noch) keine reale Gefahr, da ist die Klugheit demokratischer Mehrheiten stärker. Man könnte also auch kopfschüttelnd darüber schmunzeln. Aber es ist ein Problem für die Pflege der demokratischen Kultur. Es ist ein Ausdruck von Missachtung demokratischer Entscheidungen und eine Einübung von minderheitsbasierten Zwangsmaßnahmen, wenn einem mehrheitsbasierte Entscheidungen nicht passen. Dagegen muss in Wort und Tat Stellung bezogen werden, denn es etablieren sich – damit schließt sich der Kreis zur Silvesternacht – Verhaltensweisen, die in einer Demokratie nichts zu suchen haben. Randale von Minderheiten darf nicht zum Mittel politischer Auseinandersetzung werden. Dass auch die politisch Verantwortlichen durch ihr zunehmendes Verständnis für Krieg als Mittel der Politik ein falsches Vorbild in dieselbe Richtung abgeben, steht auf einem anderen Blatt und macht die Sache nicht einfacher.