Kernthemen

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Genossenschaft

Genossenschaften kennen wir als besondere Wirtschaftsformen vor allem aus der Landwirtschaft als Winzergenossenschaften oder als andere Produktions- oder Vertriebsorganisationen, vielleicht auch aus dem Bereich moderner Technologien, in denen es ebenfalls genossenschaftliche Organisationsformen gibt. Ist die Genossenschaft nur eine wirtschaftliche Organisationsform, also etwas Ähnliches wie eine GmbH, oHG, KG, AG?

Nein. Sie unterscheidet sich zum einen im Grundgedanken des Zusammenschlusses, zum anderen im Zweck, der nicht auf erfolgreiches Wirtschaften allein beschränkt ist. Der Grundgedanke des Zusammenschlusses ist der der Gleichheit. Die Genossen verabreden einen Zweck, den sie verfolgen, geben materielle Einlagen nach ihren individuellen Möglichkeiten und Entscheidungen und haben bei Beschlüssen zur gemeinsamen Sache gleiches Stimmrecht. Unabhängig von ihrer Einlage. Also grundverschieden von einer Aktiengesellschaft, in der die Größe des Aktienpaketes über das Stimmengewicht entscheidet.

verschieden, aber gleich

Der Zweck des Zusammenschlusses ist zwar oft eine wirtschaftliche Aktivität. Es geht dabei aber nicht primär um das Erzielen von Gewinn, sondern um das Ermöglichen und Organisieren von gemeinschaftlichen Aufgaben. Das kann landwirtschaftlicher Vertrieb, Wohnungsbau, eine neue Technik oder die Gründung einer gemeinsamen Bank zur Kreditvergabe für gemeinschaftliche, soziale oder kommunale Projekte sein, wie das beim Vater der modernen Genossenschaftsbewegung Friedrich Wilhelm Raiffeisen der Fall war. Es gibt sogar einen ganzen Staat, der sich als Genossenschaft versteht, die Schweizer Eidgenossenschaft.

Denn das Genossenschaftsprinzip ist die Urform der Demokratie. Alle Mitglieder haben unterschiedliche Fähigkeiten, leisten unterschiedliche Beiträge, qualitativ wie quantitativ, und haben „trotzdem“ gleiche Rechte bei den Entscheidungen, die die gemeinsame Sache betreffen. Die genossenschaftliche Organisation ist in verschiedenen Detailausprägungen eine uralte Form der menschlichen Aktivitäten in ihrem Zusammenleben. Elinor Ostrom hat sie untersucht bis in ihre vorgeschichtlichen Wurzeln und ihre weltweite Verbreitung. In Kenia werden manche landwirtschaftlichen Produkte bis zu drei Vierteln in Genossenschaften hergestellt, in Brasilien sind 40 % der gesamten Landwirtschaft genossenschaftlich organisiert und in Bolivien ist jeder dritte Bürger Mitglied einer Genossenschaft. Um nur einige Beispiele (Stand ca. 2015) zu nennen.

Hier soll aber nicht die wirtschaftliche Bedeutung hervorgehoben werden, sondern: die politische: Genossenschaft ist der Gegensatz von Herrschaft. Das sind die zwei grundlegenden und grundverschiedenen Formen der menschlichen Zusammenarbeit, die sich durch die ganze Geschichte der Menschheit ziehen. Man könnte sie als die beiden Hauptmöglichkeiten der gesellschaftlichen Organisation bezeichnen, die der Mensch hat. Als die beiden Pole, zwischen denen die Geschichte real verlaufen ist in immer unterschiedlichen Mischungen. Man kann die These wagen, dass die genossenschaftliche Form der Zusammenarbeit der Natur des Menschen näher liegt. Jeder Einzelne braucht dabei ein höheres Maß an Verantwortungsbewusstsein als es bei dem Modell Herrschaft – Untertan erforderlich ist. Dieses Verantwortungsbewusstsein wird durch das genossenschaftliche Leben selbst gefördert.

Auch Herrschaft kann wirtschaftliche und politische Aktivitäten umfassen. Viele Wirtschaftsunternehmen sind Organisationen der Herrschaft, was sowohl mit dem Eigentumsrecht, als auch mit funktional erforderlichen Hierarchien begründet sein mag. Nicht-genossenschaftlich organisierte Unternehmen erscheinen im Rahmen der Gewerbefreiheit wie kleine Königreiche oder wie eine Oligarchie. Allerdings darf der Unterschied nicht übersehen werden, dass in der Demokratie die Bürger auf dem Weg der Gesetzgebung wichtigen Einfluss auf die unternehmerische Freiheit nehmen und sie mit sozialer Verantwortung „belasten“ können.

Demokratie kann als die Anwendung des Genossenschaftsprinzips auf alle öffentlichen Angelegenheiten verstanden werden. Die politische Bedeutung der Genossenschaft besteht darin, dass sie ein anderes Bewusstsein für das menschliche Zusammenleben schafft: Das Denken ist hier „aus einem anderen Holz geschnitzt“. Wer sich beruflich, in seiner Gemeinde oder gar in seinem ganzen Staat als Genosse bewegt, dem fällt es schwerer, Herrschaft ertragen oder ausüben zu wollen. Der hat dafür kein Verständnis. Ebenso wenig will er Herrschaft erleiden. Er will unter sich keinen Sklaven sehn und über sich keinen Herrn, sang einst Bertold Brecht. Weil der Mensch ein Mensch ist. Nicht zufällig ist die Eidgenossenschaft Schweiz auf internationaler Ebene neutral (auch wenn dieses Prinzip labiler wird) und unkriegerisch. Alle paar Jahre wählen gehen zu dürfen, ist eine schwache Prävention gegen Herrschaftsdenken. Alltägliche gleichberechtigte und wirkungsvolle Teilnahme am öffentlichen Leben wirkt in stärkerem Maß anti-herrschaftlich. Demokratisch eben.

Herrschaft

Das Wort Herrschaft ist als Gegensatzbegriff zu Genossenschaft genannt worden. Was bedeutet Herrschaft im Zusammenhang mit Demokratie aber genau? Man beherrscht Sachen, Vorgänge – oder Menschen?

Im politischen Raum muss man Herrschaft wohl so verstehen, dass Menschen den Eingriffen von anderen Menschen unterworfen werden, ohne dass ihr eigener Wille berücksichtigt wird, oder dass Menschen Regeln beachten müssen, an denen sie nicht mitwirken konnten. In diesem allgemeinen Sinn ist Herrschaft zunächst wohl weder gut noch schlecht. Denn schließlich gelten auch im besten demokratischen Gemeinwesen Regeln und Gesetze, an denen nicht jeder Betroffene mitwirken konnte – weil sie schon lange bestehen. Und auch in einer Demokratie müssen manchmal persönliche Eingriffe akzeptiert werden, mit denen nicht jeder lückenlos einverstanden ist.

Man könnte also sagen, dass auch in einer genossenschaftlich organisierten Gesellschaft Herrschaft unvermeidlich ist, zumindest so lange, bis die Regelungen auf genossenschaftliche Art, also einvernehmlich oder mit Mehrheitsentscheid, verändert wurden. Ja, das ist so, denn die Alternative wäre das tägliche Faustrecht. Der Unterschied besteht darin, ob die Regeln und Gesetze mehrheitlich aufgestellt werden (Demokratie) oder ob sie von einer Minderheit (Oligarchie) oder einem Alleinherrscher (Monarchie, Autokratie) aufgestellt werden – oder ob Regeln gar nicht verbindlich existieren, womit eine Anarchie dann komplett willkürlich wäre. Für den Einzelnen kann das auch in einer funktionierenden Demokratie bedeuten, dass er sich von fremden Regeln „beherrscht“ fühlt, wenn er den vereinbarten Regeln mit seiner Minderheitsmeinung ablehnend gegenübersteht. Insoweit steckt in jeder Genossenschaft auch ein Stück Herrschaft, die man aber wohl als legitim oder als Preisgeld für das friedliche Zusammenleben bezeichnen kann. Man sollte aber nicht vergessen, dass in vielen (sicher nicht allen) Regeln und Gesetzen, die man als einzelner Erden- und Staatsbürger vorfindet, auch tiefe Weisheiten und Erfahrungen eingeschrieben sind, für die man dankbar sein muss!

Sobald wir uns das klargemacht haben, entdecken wir neue Unklarheiten im Detail: welche persönlichen Freiheiten dürfen per Mehrheitsentscheid denn eingeschränkt werden? Also: wie weit darf die Herrschaft der Mehrheit gehen? Diese Frage spielte unter Staatsrechtlern zeitweise eine große Rolle, wobei vor allem konservative Theoretiker aus dieser Frage gern ihren Honig gegen allzu viel Demokratie saugten. Gerne verweisen sie darauf, dass mit Mehrheitsentscheiden sogar diktatorische Verhältnisse gerechtfertigt werden können und warnen vor „Populismus“. Viele der dafür vorgebrachten historischen Beispiele taugen als Beleg bei genauerem Hinsehen allerdings kaum; auch die „Machtergreifung“ Hitlers basierte entgegen manchen Behauptungen nicht auf demokratischen Mehrheiten. Sondern auf den Stimmen ca. eines Drittels der Stimmbürger und vor allem auf der Entscheidung des monarchisch gesinnten Staatspräsidenten.

Trotzdem gibt es Überlegungen, die in eine andere Richtung weisen als nur auf Mehrheitsentscheide zu schauen. Zum Beispiel ist – zumindest mir – nicht klar, ob in manchen islamisch geprägten Ländern evtl. echte Mehrheiten dafür existieren, den Frauen nur mindere Rechte gegenüber den Männern zuzusprechen, evtl. sogar dann, wenn Frauen das Wahlrecht hätten. Ziemlich klar ist dagegen, dass in manchen Staaten der USA zumindest noch vor wenigen Jahrzehnten Mehrheiten dafür existierten, dass den Farbigen mindere Rechte gegenüber den Weißen zustünden. Oder einfachere, aktuellere Beispiele: darf eine politische Mehrheit vorschreiben, dass Frauen ein Kopftuch tragen müssen? Oder nicht tragen dürfen? Dass man sich gegen ansteckende Krankheiten impfen lassen muss – oder dass man ungeimpft von manchen öffentlichen Orten ausgeschlossen wird? Dass man seine Kinder zur Schule schicken muss? Und so weiter. In verschiedenen Gesellschaften gibt es je nach kulturellem Hintergrund unterschiedliche Antworten auf diese Fragen, die unter der Überschrift Freiheit ebenso gut platziert sind wie unter dem Thema Herrschaft.

Diese Fragen, die beliebig erweitert werden können, verweisen also darauf, dass nicht nur Mehrheiten, sondern auch individuelle Freiheits- und allgemeine Menschenrechte als Prävention gegen Herrschaftsverhältnisse geltend gemacht werden müssen. Mit gutem Grund sind daher in unserem Grundgesetz Grundrechte beschrieben, die keinem Mehrheitsentscheid unterliegen, sondern „ewig“ gelten. Und mit ebenso gutem Grund haben die Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg eine Menschenrechts-Charta verabschiedet, deren Inhalt unabhängig von anderen Mehrheitsentscheiden ein Maßstab für die demokratische Qualität eines Gemeinwesens bleibt. Die Überlegungen zu Herrschaft als Widerpart von Genossenschaft führen im Sinne eines menschengerechten politischen Systems also dazu, dass wir nicht nur die umfassende Beteiligung der Bürger an der Formulierung und Verabschiedung ihrer Gesetze, sondern auch den Maßstab der Menschenrechte und des Naturrechts (siehe hierzu Bibliothek) im Auge behalten müssen.

Leider folgen auch aus dieser Klärung weitere Unklarheiten – zumindest im praktischen Bereich. Denn wer interpretiert die Menschenrechte? Wer entscheidet, ob die Verfassung oder die Verfassungswirklichkeit eines Landes menschenrechtskonform ist – und wenn sie das nicht ist: was wäre dann zu tun?  Ist es „menschenrechtskonform“, dass andere Nationen, sei es mit, sei es ohne UNO-Mandat, in die Souveränität anderer Nationen eingreifen, um für Ordnung zu sorgen? Vielleicht sogar mit militärischem Einsatz? Dabei darf man nicht vergessen, dass die UNO durchaus kein demokratisch (also: genossenschaftlich) organisiertes Gremium ist.

Mit diesen Fragen begibt man sich auf die Ebene der Politik und ihrer Machtspiele. Tatsächlich werden ja seit längerem nahezu alle Kriege, von denen wir täglich hören, mit einer Verteidigung der Menschenrechte begründet. Das gilt nicht nur für die Angriffskriege, die der Westen in Jugoslawien, in Afghanistan, in Irak, in Libyen, in Syrien etc. geführt hat, sondern es gilt inzwischen in etwas modifizierter Form auch für den von Russland geführten Angriffskrieg in der Ukraine: der Kreml hat seine Aktivitäten dort wiederholt damit begründet, dass in der Ukraine eine faschistische Regierung abgesetzt gehört und dass generell eine neue Weltordnung geschaffen werden müsse, damit die Werte, die der Westen zwar proklamiert, aber verraten habe, wieder zur Geltung kommen könnten.

Krieg als Mittel der Politik, sei es mit vorgeschobenen, sei es mit ehrlich gemeinten Begründungen, kann nicht der Weg zu menschengerechten Verhältnissen sein. Welcher denkende und fühlende Mensch will das angesichts der Ergebnisse von Kriegen ernsthaft bestreiten? Das war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest hierzulande schon einmal selbstverständlicher als nun im 21. Jahrhundert. Kriege – abgesehen von sehr eng zu fassender Selbstverteidigung und Notwehr – sind die härteste Form von Herrschaft, also von Unterwerfung von Menschen unter den Willen anderer Menschen.

Auch wenn es blauäugig und abgedroschen klingt: hier muss der Weg das Ziel sein. Herrschaft in dem angedeuteten negativen Sinn durch Genossenschaft zu ersetzen, geht wohl nur gewaltfrei, von unten, langfristig, scheibchenweise. Gewaltloser Widerstand und ziviler Ungehorsam sind die Themen, die hier zu vertiefen wären. Und inhaltlich müssen die Menschen am Ende doch selbst entscheiden, was ihre Menschenrechte konkret sind, wie weit öffentliche Regelungen bis in persönliche Bereiche eingreifen dürfen, wie sie also das Verhältnis von Genossenschaft und Herrschaft, also letztlich eine zivilisierte Freiheit für ihre Gegenwart austarieren.

Verfassung

Die Verfassung eines Landes ist die Grundregel, das Fundament, von dem aus das Gemeinwesen gestaltet wird. Ihre Entstehung geschieht oft nicht auf demokratischem Weg, auch wenn sie eine Demokratie begründen soll. Dieser Widerspruch liegt in der Natur der Sache. Wie soll eine demokratische Verfassung entstehen, wenn noch keine demokratischen Strukturen vorhanden sind?

Die amerikanische Verfassung ist von wenigen selbsternannten Verfassungsvätern geschrieben und nach einem Befreiungskrieg gegen England  in Kraft gesetzt worden. Die aktuelle französische Verfassung der V. Republik stammt im Wesentlichen aus De Gaulles Feder, der sie dann, legitimiert auch durch Wahlen, wirksam werden ließ. Das deutsche Grundgesetz wurde von einem Parlamentarischen Rat geschrieben, der immerhin von Landesregierungen gewählt worden war und dem die westlichen Sieger- und Besatzungsmächte nur wenig und nicht entscheidend reingeredet haben. Fast schon ein demokratisches Musterbeispiel ist die portugiesische Verfassung. Ein Jahr nach der Nelkenrevolution 1974 wurde eine verfassungsgebende Versammlung gebildet, zu der sich die demokratischen Parteien des Landes zur Wahl gestellt hatten. Ein weiteres Jahr später wurde die hier erarbeitete Verfassung beschlossen und später mit parlamentarischen Mehrheiten teilweise verändert.

Verfassung: Verbindlichkeiten für die Vielfalt des öffentlichen Lebens

Wichtiger als die erste Entstehung einer Verfassung ist es aber wohl, ob und wie das Volk weiterhin Einfluss darauf nehmen kann. Es gibt Verfassungen wie die der USA oder z.B. der Türkei, die sich von vornherein für fast immun gegenüber Veränderungen erklären und damit einen unumstößlichen Wahrheitsanspruch behaupten. Die US-Verfassung erlaubt zwar zahlreiche Zusatzartikel, aber nicht wirklich Korrekturen. Seit über 200 Jahren. Die Schweizer Verfassung hat dagegen seit ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert zahlreiche Veränderungen erfahren. Hier geschehen Änderungen grundsätzlich direkt durch Volksabstimmungen über einzelne Änderungen oder sogar als Gesamtrevision. Auch das deutsche Grundgesetz hat zahlreiche Änderungen erfahren, allerdings nicht durch Volksabstimmungen, sondern durch Parlamentsbeschlüsse mit Zweidrittelmehrheit. Das deutsche Grundgesetz kennt eine „Ewigkeitsklausel“ in Artikel 79, die sich auf die in den Artikeln 1 – 20 formulierten Grundrechte, nicht auf das GG als Ganzes bezieht. Damit steht das Grundgesetz Änderungen offen, allerdings keinen Änderungen, die die bürgerlichen Grundrechte oder die föderale Ordnung der Bundesrepublik in Frage stellen. Mit diesem partiellen Wahrheitsanspruch wurde eine Lehre aus dem Verbrechen Nationalsozialismus gezogen und gewissermaßen ein moderner Rütlischwur abgelegt. Das Thema Menschenrechte im Unterschied zu Bürgerrechten wird an anderer Stelle genauer betrachtet.

Gerechtigkeit mit Konsequenzen

Die  Änderungen des deutschen GG werden „repräsentativ“ im Bundestag mit Zweidrittelmehrheit meist ohne Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit beschlossen. Darin liegt die Gefahr einer fehlenden Bürgernähe der Verfassung, und zwar nicht nur theoretisch. Ein Beispiel soll das zeigen. Das deutsche Grundgesetz wurde in den 1990er Jahren in dem Sinne geändert, dass es zur Abgabe von Souveränitätsrechten an die Europäische Union benutzt und entsprechend umformuliert wurde. Als eine Basis dafür wurde gelegentlich Artikel 24(1) genannt, in dem es heißt „Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.“ Damit meinten die Verfassungsväter zum Beispiel Zollbehörden im Grenzverkehr. Allerdings sind „zwischenstaatliche“ Einrichtungen keine supranationalen Einrichtungen, wie es die EU-Institutionen sind. Artikel 24 gibt kein Recht zur generellen Souveränitätsabgabe, sondern eben zur „Übertragung“ (nicht: Abgabe!) von Hoheitsrechten. Die Souveränität bleibt beim Überträger, der das Übertragene selbstverständlich zurückholen kann.

Dennoch wurde auch mit solch falschem Bezug nach der Wiedervereinigung der Artikel 23 völlig neu geschrieben. Bis dahin regelte dieser Artikel lediglich, welche Bundesländer zum Bund gehören und dass weitere beitreten können. Auf dieser Basis war in den 1950er Jahren das Saarland nach einer Volksabstimmung beigetreten. Nach dem Beitritt der fünf ostdeutschen Länder erschien dieser Artikel als historisch überholt und wurde im Bundestag durch einen neuen Art. 23 ersetzt, der die Verwirklichung der Europäischen Union und die deutsche Beteiligung daran regelt. Der Beitritt der DDR geschah übrigens ohne Volksabstimmungen, obwohl im Grundgesetz, Artikel 29 (2), geschrieben steht: „Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes ergehen durch Bundesgesetz, das der Bestätigung durch Volksentscheid bedarf.“ Kann sich jemand erinnern, dass die Aufnahme der fünf „neuen Bundesländer“ durch Volksentscheid bestätigt wurde? Oder ist damit keine Neugliederung des Bundesgebietes geschehen?

Zurück zur Souveränitätsabgabe: In den Formulierungen des neuen Artikels 23 wurde faktisch die Auflösung der nationalen Legislative als souveräne Institution zugunsten einer suprastaatlichen Exekutive festgelegt. So heißt es dort: „Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union.“ Weiter wird ausgeführt, dass die Bundesregierung diese Stellungnahme, bzw. soweit die Gesetzgebungshoheit der Bundesländer betroffen ist, auch die Stellungnahme des Bundesrates, berücksichtigt. Also: Die Rechtsetzung, das Legislativrecht, geschieht durch die Europäische Union, konkret durch die Kommission und ihre Organe, die Bundesregierung wirkt daran mit und sie berücksichtigt bei ihrer Mitwirkung die Stellungnahmen unserer Legislative, im Fall der Bundesländer nicht einmal die von deren Legislativen, sondern die der Länderregierungen (denn diese bilden den Bundesrat). Was „Berücksichtigung“ heißt, kann man nicht nachlesen, aber man kann es sich denken: nichts Verbindliches.

Damit ist unser gewaltenteiliges föderales Gesetzgebungssystem abgeschafft worden. Wer diesen Satz für überzogen hält, muss sich den vorangehenden Abschnitt bitte noch einmal auf der Zunge zergehen lassen. Die Praxis bestätigt dies. Bereits in der Periode 1998 – 2004 hat der Bundestag zu 84 % Gesetze beschlossen (Auskunft des Bundesjustizministers), die auf Initiative der Europäischen Kommission eingebracht worden waren. Befürworter dieses Vorganges nennen das verschämt ein Demokratiedefizit. Tatsächlich ist es die Abschaffung der nationalen und föderalen Legislative zugunsten einer supranationalen Rechtsetzung. Gesetze, die noch auf nationalen oder föderalen Initiativen basieren, können nur Bestand haben, wenn sie europäischen Regeln nicht widersprechen. Dabei beschränkt sich diese Praxis keineswegs auf übergeordnete Themen, die national allein nicht geregelt werden könnten. Entscheidungen über die Form der Salatgurke oder das Verbot der Glühbirne sind allgemein bekannt. Über einen „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ sind inzwischen auch Haushaltsrechte supranational delegiert worden, denen leider auch das Bundesverfassungsgericht nach ein paar Korrekturen seine Zustimmung gegeben hat.

Als offene Provokation, die leider niemanden provoziert hat, muss man es bezeichnen, dass inzwischen auch die Präambel des Grundgesetzes geändert wurde. Früher hieß es dort: „…von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen…“. Der Passus „seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und“ ist in der Präambel gestrichen worden. Es gibt ihn nicht mehr. Kann man noch deutlicher zum Ausdruck bringen, dass unsere Repräsentanten eine deutsche Demokratie aufgegeben haben?

Schon seit langem haben sich politische Kräfte gebildet, die Regelungen für Volksentscheide auf Bundesebene erwirken und das Grundgesetz in diese Richtung ändern wollen. Es ist überfällig, Abstimmungen (Art. 20 GG), endlich als Gesetzgebung zu realisieren. Dazu ist tatsächlich eine Grundgesetzänderung nötig, denn Volksabstimmungen über Gesetze sind im Grundgesetz bisher nicht geregelt. Gesetzesinitiativen sind dort nur der Legislative und Exekutive vorbehalten. Nichts spricht aber dagegen, den Art. 76 GG entsprechend anzupassen. Allerdings verlagert der auf diesem Gebiet früher sehr aktive Verein „Mehr Demokratie“ seine Aktivitäten leider zunehmend auf die Bildung von „Bürgerräten“, was mit direkter Demokratie nur wenig zu tun hat.

Ob man über sinnvolle Grundgesetzänderungen hinaus den Verfassungsauftrag des Art. 146 heute realisieren sollte, ist eine schwierige Abwägung. Theoretisch wäre eine Verfassung mit klaren direktdemokratischen und besseren föderalen Institutionen wünschenswert. Eine demokratische Verfassung müsste klarer als bisher die nationale Demokratie mit subsidiärem Aufbau in den Mittelpunkt stellen. Tatsächlich wird aber eine Verfassungsdiskussion gelegentlich auch von den EU-Strategen aufgebracht, die andere Ziele als die hier vertretenen verfolgen und über große mediale Propagandainstrumente verfügen. Daher sollte sich die demokratische Optimierung unseres Grundgesetzes wohl eher auf einzelne Schritte beschränken. Vor allem sollten alle Akteure sich den Geist des Grundgesetzes wieder verinnerlichen statt ihn mit juristischen Winkelzügen anderen Machtinteressen anzudienen.

Nationale Vielfalt

Nicht nur in Europa, überall auf der Welt gibt es lange Geschichten von kulturellen und wirtschaftlichen Einheiten, die die Menschen in ihren Lebensbereichen entwickelt haben. Wirtschafts- und Kulturräume mit mal mehr, mal weniger definierten Grenzen, standen immer auch mit anderen Einheiten in Kontakt – oft friedlich, leider oft auch gewalttätig. Die Gewalttätigkeiten füllen die Geschichtsbücher, womit aber die Realität nicht repräsentativ abgebildet ist, denn das tägliche friedliche Zusammenleben ist zu wenig spektakulär, zu selbstverständlich, um in die Schlagzeilen der Geschichtsbücher zu geraten. Seit einiger Zeit erleben wir, dass der Begriff der Nation in Verruf geraten ist, weil Nationen etwas egoistisches seien und sogar Kriege geführt haben. Ja, das haben sie zu allen Zeiten, aber Nationen, oder sagen wir: politische Einheiten sind auch der Ort, bzw. die Orte, wo Rechtsstaatlichkeit existieren kann. Diese kann nicht grenzenlos sein. Dazu ein paar kurze Anmerkungen:

Man kann es als eine Eigenschaft unserer menschlichen Natur bezeichnen, dass wir kooperativ leben und arbeitsteilige Zusammenschlüsse zum gemeinsamen Leben sowie Regeln und Traditionen dafür entwickeln. Anders können wir nicht existieren. Das kann man gut an der Entwicklung der Sprachen ablesen, die ja ein wesentliches Merkmal kultureller Einheiten sind. In der Frühzeit der Menschheit mögen sich verschiedene Sprachinseln gebildet haben, weil die wenigen Menschengruppen verstreut gelebt haben. Aber das ist nicht der Hauptgrund. Selbst heute gibt es zum Beispiel auf Neu-Guinea unter den 11 Millionen Menschen über 1.000 Sprachen, von denen sich viele untereinander nicht verstehen. Oder: in Zimbabwe gibt es heute 16 gleichberechtigte Amtssprachen, die ebenfalls verschiedenen Sprachfamilien angehören. Gerade dort, wo schon lange Menschen leben, besteht die größte Sprachenvielfalt: Neu-Guinea ist seit über 50.000 Jahren besiedelt, Zentral- /Ost-Afrika noch länger. In dieser langen Zeit haben sich hier und auch anderswo gerade keine Einheitssprachen entwickelt. Für Anthropologen ist die Sprachenvielfalt einer Region ein wichtiger Hinweis auf das Alter ihrer Besiedlungsgeschichte. Je größer die Sprachenvielfalt, desto älter die Besiedlung. Alte Nachbarschaften führen nicht notwendig zur Vereinheitlichung, sondern zur Abgrenzung von Gruppen – was nicht notwendig Feindseligkeit oder Kontaktvermeidung bedeutet, sondern eigene Identitätsbildung. Dieses Thema wird unter Freund und fremd_genauer betrachtet.

Das ist ein wichtiges Indiz für eine Erkenntnis zur menschlichen Natur: Wir Menschen brauchen als soziale Wesen nicht eine unendlich große Gruppe, sondern einen mehr oder weniger überschaubaren Kulturraum. Die Abgrenzung zu anderen Kulturräumen muss nicht feindselig sein und je nach technischer Entwicklung bestehen mehr oder weniger intensive Beziehungen zu anderen Kulturräumen. Diese sind im Verlauf der Geschichte und der technischen Entwicklungen natürlich größer geworden, aber:

Ein Weltbürgertum im Sinne einer global einheitlichen Zivilisation ist trotz der heute enorm gestiegenen Mobilität und Kommunikationsmöglichkeit weder entstanden noch kann das unser Ziel sein. Vertraute Lebensräume sind in verschiedenen Weltgegenden und verschiedenen Geschichtsabläufen immer unterschiedlich gestaltet. Auch globalisierter Welthandel trifft auf unterschiedliche Zivilisationen mit ihren Rechtsordnungen. Das mag den Handeltreibenden missfallen, weil es ihre Geschäftsabläufe verkompliziert (siehe Europäische Union unten), ändert aber nichts daran, dass ein propagiertes „Weltbürgertum“ immer nur als Respekt vor den verschiedenen Einheiten verstanden werden kann, nicht als eine alles umfassende Einheitskultur. Auch wenn es gute Gründe gibt, verschiedene politische Systeme als mehr oder als weniger menschengerecht zu bewerten, kann es nicht erlaubt sein, ein vermeintlich besseres politisches oder kulturelles System zu „exportieren“. Derartiges ist ja nicht nur stets gescheitert, sondern hat bei genauerem Hinsehen nie stattgefunden; vielmehr handelte es sich bei solchen Proklamationen in aller Regel um propagandistisch garnierte Machtpolitik.

Wer „Weltbürgertum“ in Sinne eines global gültigen Rechts- oder gar Kultursystems anstrebt, handelt wie jemand, der eine Einheitsuniform allen Menschen verpassen will: die gleiche Konfektionsgröße für Dünne, Dicke, Kleine, Große, dieselbe Kleiderordnung für die Breitengrade 10 und 60. Die seit einigen Jahrzehnten beliebte Propaganda, im Namen der Menschenrechte in anderen Ländern für Ordnung zu sorgen, hat immer zu umfangreichen Zerstörungen von menschlichem Leben und Kulturen geführt. Das ist kein Argument gegen die Verteidigung der Menschenrechte, sondern gegen deren propagandistischen Missbrauch. Die Alternative zum aggressiven Nationalismus ist eben nicht ein zentralisierter Einheitsstaat, sondern der friedliche Umgang der Nationen miteinander, der Respekt vor anderen politischen Systemen und Rechtsordnungen. Das schließt nicht aus, dass wir für das Bessere werben. Friedlich. Durch eine bessere Praxis als Vorbild. Und durch das Wort.

Tatsächlich gibt es ja nicht „die“ Demokratie, sondern es gibt Demokratien. Gewiss gibt es auch Nationen, die den Namen Demokratie nicht verdienen. Wir sehen eine Bandbreite unterschiedlicher politischer Systeme, von denen manche einem demokratischen Ideal näher kommen, andere dem Gegenteil davon und viele irgendwo dazwischen liegen. Was Demokratie ist, scheint auf den ersten Blick am einfachsten definiert mit der Parole, die gegen die Apartheid in Südafrika gerichtet war: „one man one vote“. Aber dann fangen die Fragen erst an: wer ist stimmberechtigt? wie oft wird gewählt? wer oder was wird gewählt? vor allem: was darf der Gewählte tun, ohne mich wieder zu fragen? über welche Themen darf ich direkt abstimmen? Das sind die Fragen der Verfassung einer politischen Rechtsordnung. Darüber müssen die Menschen in ihrem Lebensraum unter ihrer eigenen Regie ihre Entscheidungen treffen. Denn wir reden von Demokratie, von „Volksherrschaft“.

Hinweise auf verschiedene demokratische Systeme, in denen die unterschiedlichen Ergebnisse historischer Prozesse deutlich werden, sollen diese Vielfalt im Folgenden etwas illustrieren. Dieser sehr knappe Überblick versteht sich nicht annähernd als repräsentativ oder gar vollständig, sondern als ein Plädoyer für den Respekt vor der Verschiedenheit der Kulturen, der Nationen, der politischen Systeme, der Rechtsordnungen.

Deutschland

Die deutsche Geschichte ist bekanntlich gekennzeichnet durch politisch-geografische Zersplitterung. Das beinahe tausendjährige „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ (961 – 1806) war niemals ein einheitlicher Staat. Es gab einen Kaiser, manchmal auch zwei, ohne allzu große Macht, und viele mehr oder weniger kleine Fürstentümer. Das zweite deutsche Kaiserreich (1871 – 1918) war geprägt von der Vorherrschaft der Preußen, musste aber auch anderen deutschen Königen, Herzögen etc. Raum lassen.

In der Bundesrepublik ist diese Geschichte als föderale Gliederung aufgenommen worden. Mehrere der heutigen Bundesländer sind nach dem 2. Weltkrieg vor der Bundesrepublik gegründet worden. Und die Bundesländer sind bis heute eigene Staaten mit eigener Verfassung, eigener Legislative, Exekutive und Judikative. Diese föderale Ordnung, die der Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes unterliegt (!), bringt gut zum Ausdruck, dass Demokratie etwas von unten Organisiertes ist, auch wenn die Frage, was Bundes- und was Ländersache sei – trotz klarer Regelungen im Grundgesetz – immer wieder neu diskutiert wird. Die „unterste“ Ebene, die Gemeinde, die eigentlich Ausgangspunkt demokratischer Entscheidungen sein sollte, ist in Deutschland nicht sehr selbständig; „Gemeindeautonomie“ muss aufgrund der fiskalischen Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden fast als Fremdwort gelten, siehe Genauer betrachtet_Direktere Demokratie_Die Gemeinde.

Die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, eine klassische Forderung seit dem 18. Jahrhundert, ist sowohl auf Länder- wie auf Bundesebene im Grunde gut verankert, auch wenn es zum Beispiel gelegentlich Kritik wegen der Mitsprache der Exekutive an der Ernennung von Richtern gibt. Es gibt zwei Kammern zur Gesetzgebung, den von den Bürgern gewählten Bundestag und die Länderkammer Bundesrat, die eine Vertretung der Länderregierungen ist und die zu Bundesgesetzen mit entscheidet, wenn Länderkompetenzen betroffen sind. Die Bundesländer sind im Bundesrat nicht gleichberechtigt vertreten und auch nicht nach Einwohnerzahl unterschieden, sondern mit einer Zwischenform vertreten. Die Exekutive des Bundes (die Regierung) ist von der Legislative (Bundestag) abhängig, sodass sie eigentlich keine „unabhängige“ Gewalt ist; in anderen Ländern wird der Regierungschef mehr oder weniger direkt gewählt. Aber es ist wohl besser, dass die Exekutive von der Legislative abhängig ist als umgekehrt.

Das Wahlsystem mit einer Mischung aus Persönlichkeitswahl und Parteienproporz ist ein Versuch, möglichst viel der unterschiedlichen Interessen im Volk in der Legislative abzubilden. Allerdings hat sich daraus im Lauf der Jahrzehnte eine Vorherrschaft von Parteien, ggf. in Koalitionen, gebildet, unterstützt von Entscheidungen des Verfassungsgerichtes und flankiert von der Macht der Medien und ihrem Einfluss auf die Meinungsbildung, die es „abweichenden“ Positionen schwer macht, Gehör zu finden. So ist die Parteienlandschaft in Deutschland durch das Proporz-Wahlsystem lebendiger als in Staaten mit reinem Mehrheitswahlsystem, allerdings ist die Persönlichkeitswahl durch die Bevorzugung der Parteien zunehmend zur Formalität degradiert, siehe Genauer betrachtet_Direktere Demokratie_Die Parteien oder den Zwischenruf vom 25.02.2023.

Formen der direkten Demokratie, also Abstimmungsmöglichkeiten zu Sachfragen, existieren zwar auf Landes- und Gemeindeebene und werden auch genutzt, aber nicht auf Bundesebene, obwohl das Grundgesetz das vorsieht. Aber auch auf Landes- und Gemeindeebene sind die Abstimmungsmöglichkeiten erschwert, weil es – föderal unterschiedlich – mehr oder weniger hohe Quoren gibt und weil längst nicht zu allen Gegenständen abgestimmt werden darf, zu denen die Abgeordneten abstimmen dürfen. Vor allem die besonders wichtigen fiskalischen Fragen stehen der direkten Abstimmung durch die Bürger nicht offen.

United Kingdom

Das Vereinigte Königreich besteht aus Großbritannien und Nord-Irland, Großbritannien besteht wieder aus England, Schottland und Wales. Alle vier verstehen sich als eigene Nationen, haben zum Beispiel vier Fußballnationalmannschaften, aber nur einen Premier-, einen Außen-, einen Verteidigungsminister und einen konstitutionellen Monarchen. Es gibt außerdem autonome Inseln wie die Isle of Man, die Kanalinseln, die Bahamas, Gibraltar, die zwar zur Krone, aber nicht zum United Kingdom gehören. Außerdem gibt es das tausendjährige Reich der „City of London„, eines autonomen exterritorialen Gebildes, welches aus einer frühmittelterlichen Tradition heraus nur dem Monarchen untersteht und wie ein eigener Stadtstadt mit eigener Regierung, eigener Polizei und ohne demokratische Gesetze im modernen Sinn ausgestattet ist. Vor allem unter Margaret Thatcher wurde diese auf alter Tradition beruhende Struktur genutzt, um sie als Sitz mächtiger Banken auszubauen, die heute ohne demokratische Zugriffsmöglichkeiten die Finanzströme dieser Welt kontrollieren. Diese Quadratmeile im Zentrum Londons hat heute (2023) ca. 10.000 Einwohner, aber ca. 100.000 Arbeitsplätze.

UK ist eine historisch einmalige Konstruktion von geteilten Souveränitäten, was auf eine komplexe Geschichte verweist. Dass zum Beispiel auch Australien und Kanada noch demselben Staatsoberhaupt, zur Zeit (2023) King Charles III, unterstehen, sei nur am Rande erwähnt.

Davon abgesehen herrscht auf dieser Inselwelt eine eigenartige Form von Föderalismus. Das Parlament in London hat zwar Gesetzgebungskompetenz für das ganze UK, aber es gibt auch Parlamente in Schottland und Nordirland mit eigener Legislativkompetenz und ein Parlament für Wales ohne echte Legislative und kein Parlament für England; dieses fällt mit dem für UK zusammen. Vor allem in Schottland gibt es immer wieder starke Bestrebungen zur Unabhängigkeit; auch die Unabhängigkeitskämpfe in Nordirland, einem Restposten des jahrhundertealten englischen Kolonialismus, liegen noch nicht allzu lange zurück; sie haben durch den Brexit neue Nahrung bekommen. Das Parlament in London besteht aus einem Ober- und einem Unterhaus, wobei nur letzteres von den Bürgern gewählt wird; die Sitze im Oberhaus wurden früher vererbt, heute werden die Mitglieder vom Premierminister vorgeschlagen und vom Monarchen ernannt. Während das Oberhaus früher die mächtigere Instanz war, hat es heute nur noch eine schwache kontrollierende oder verzögernde Funktion bei der Gesetzgebung. Seine Funktion als Oberster Gerichtshof hat es aber erst im 21. Jahrhundert verloren. Zum Unterhaus wird ein reines Mehrheitswahlrecht praktiziert (the winner takes it all), welches es kleineren politischen Strömungen fast unmöglich macht, dort vertreten zu werden.

In der Rechtsprechung gibt es ebenfalls Besonderheiten, da diese sich nicht nur auf kodifizierte Gesetze stützt, wie das bei uns selbstverständlich ist, sondern oftmals auf ein „common law“, das heißt auf Präzendenzfälle, die auch aus fernerer Vergangenheit hervorgeholt und auf aktuelle Fälle bezogen werden können, selbst wenn es keine Gesetzesregelung dafür gibt.

Diese wenigen Hinweise mögen zum Vergleich genügen, um zu verdeutlichen, wie verschieden politische Systeme sein können, obwohl wir kaum zögern würden, auch UK als Demokratie zu bezeichnen. Oder?

USA

Nachdem 13 englische Kolonien in Nordamerika nach einem Krieg 1776 ihre Unabhängigkeit von der englischen Krone erklärt und nach einem längeren Krieg auch erhalten haben, erarbeiteten eine Handvoll Politiker nach längeren Beratungen 1787 eine Verfassung, mit denen sich diese Kolonien als Vereinigte Staaten von Amerika gründeten. In der Zwischenzeit blieb es eine Zeitlang offen, ob und welche Staaten sich zu dieser Union überhaupt zusammenschließen wollten. Auch in der Folgezeit war die Aufnahme neuer Staaten im Zuge der Landnahme nach Westen nicht immer selbstverständlich. Es gab Kräfte, die vor einer zu groß werdenden und dann nicht mehr demokratisch-föderalen Union warnten. Bekannt ist auch die Sezession (Austritt aus der Union) einer Conföderation (Südstaaten) in den 1860er Jahren und deren Rückeingliederung in die Union nach einem blutigen Krieg.

Die Verfassung war vom Gedankengut der damaligen Zeit geprägt, was sich zum Beispiel in der starken Stellung des Präsidenten zeigt. Revolutionär war die Tatsache, dass dieser, im Unterschied zu den europäischen Monarchen, (ab-)gewählt werden konnte. Der Versuch, ein Gleichgewicht zwischen Präsident und Parlament herzustellen, hat sich erst im Lauf der Zeit konkretisiert. Auch die Tatsache, dass der Präsident nur zwei Perioden amtiert, ist nichts als ein Gewohnheitsrecht, welches durch das Vorbild George Washingtons begründet wurde, der sich nicht zum dritten Mal wählen lassen wollte. Davon abgewichen ist nur Präsident Franklin D. Roosevelt während des 2. Weltkrieges. Die Verfassung ist weitgehend unverändert geblieben, aber durch Zusatzartikel oft erweitert worden.

Heute gibt es zwei Kammern im Kongress: das bundesweit gewählte Repräsentantenhaus und den Senat, in dem jeder Staat unabhängig von seiner Einwohnerzahl mit zwei Senatoren vertreten ist. Die Vertreter in beiden Kammern werden von den Bürgern gewählt und beide Kammern müssen allen Gesetzen zustimmen. Das zeigt das föderale Selbstverständnis; nicht umsonst heißt es Vereinigte Staaten: Die USA bestehen aus 50 Staaten mit eigenen Rechtsordnungen. Die Wahlen finden in den Einzelstaaten sowohl für den Senat als auch für das Repräsentantenhaus und für den Präsidenten nach teilweise unterschiedlichen Wahlsystemen statt. Insofern sind die Stimmen der Bürger unionsweit nicht gleich gewichtet. Allerdings gibt es in vielen Staaten Möglichkeiten zur Volksabstimmung über manche Sachthemen, die auch genutzt werden.

Der Präsident wird direkt gewählt – denkt man hierzulande. Tatsächlich wird er von „Wahlmännern“ gewählt, die ihrerseits in den einzelnen Staaten nach unterschiedlichen Systemen und zum Teil mit nur beschränkter Verbindlichkeit bezüglich der Stimmenbindung gewählt werden – ein System, das aus der Zeit stammt als Bürger in einem großen dünn besiedelten Land mit schwach entwickelter Infrastruktur kaum die Möglichkeit hatten, anders ihre Stimme in Washington abzugeben als durch eine Delegationen an reisefähige Vertreter, die sich auf den Weg machen mussten nachdem die Ernte eingebracht war (deshalb wird heute noch im November gewählt).

Wer wählen darf, hat sich in der langen Geschichte ebenfalls verändert. Anfangs waren es nur ca. 10 % der Bevölkerung; zeitweise konnten im 19. Jahrhundert in einigen Staaten sogar Schwarze oder Frauen wählen, auch wenn das bald wieder abgeschafft wurde. Allgemeines Frauenwahlrecht wurde nach dem 1. Weltkrieg eingeführt, ebenso wie in Deutschland. Sklaven hatten in der Anfangszeit eine Art makabres Stimmrecht: eine Sklavenstimme zählte 3/5 der Stimme eines freien Weißen. Natürlich durfte der Schwarze seine Stimme nicht selbst abgeben sondern das tat sein Besitzer. So sicherten sich die Sklavenhalter der südlichen Baumwollstaaten längere Zeit Mehrheiten. Die Diskussion zum Thema Sklavenhaltung und Menschenrechte zog sich über alle Jahrhunderte hin, in denen es Sklaverei in Nordamerika gab; aber abgeschafft wurde die Sklaverei in der amerikanischen Republik erst als es in den europäischen Monarchien, sogar im zaristischen Russland, schon keine Leibeigenschaft mehr gab. Der Völkermord an den Ureinwohnern („first nations“) und deren politische Unterdrückung sei hier nur erwähnt; er wäre mehr als ein eigenes Kapitel wert.

Das Thema Rassismus prägt bis heute die politische Tagesordnung in den USA. Der Traum Martin Luther Kings, dass Menschen gerade nicht nach ihrer Hautfarbe oder ihrem Geschlecht etc. bewertet werden mögen, ist auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod ein Traum. Zu den immer noch lebendigen „alten“ rassistischen Bewertungen kommen aktuell neue „antirassistische“ Spaltpilze im Namen politischer Korrektheit hinzu, die man wohlwollend als phantasievoll, weniger wohlwollend lieber gar benennen möchte. Man hat ja Respekt vor fremden Kulturen…solange sie bleiben, wo sie sind.

Auch das allgemeine Wahlrecht funktioniert nicht so, wie wir es gewöhnt sind. Die Bürger bekommen nicht etwa vom Staat eine Wahlbenachrichtigung zugeschickt, sondern müssen sich selbst aktiv in einem Wahllokal registrieren lassen. Diese Wahllokale sind nicht überall gleichmäßig verteilt und nicht beliebig lange geöffnet, was oftmals kein Zufall ist und vielen der sozial Schwächeren die Wahl erschwert oder verwehrt. Dass nur die sozial Stärkeren (vorsichtig ausgedrückt) eine Chance haben, in gewisse Ämter gewählt zu werden, ist ein anderes Ergebnis der US-Geschichte.

Soviel in Kürze zur ältesten der modernen Demokratien, der man – so viel darf gesagt sein – mehr ihr Alter als ihre Modernität ansieht.

Frankreich

Frankreich ist bekannt für seine zentralistische politische Struktur. Das mag man auf den Absolutismus der frühen Neuzeit zurückführen, als das Königtum von Paris aus das restliche Frankreich – zeitweise auch weitere Gebiete – eroberte. Dabei wurden mehrere kulturell eigenständige Gebiete wie Burgund, die Provence, Aquitanien, die Bretagne, Korsika einverleibt und mehr oder weniger französisiert. Auch die Französische Revolution hat am Zentralismus festgehalten und das Land sehr gleichmäßig und ohne historische oder kulturelle Rücksichten in Departements als Verwaltungseinheiten eingeteilt. Das blieb seitdem bestehen, sowohl durch monarchische als auch republikanische Zeiten hindurch. Heute gibt es 96 Departements (plus einige überseeische im indischen Ozean, Südamerika und der Karibik).

Als Zwischenebene gibt es die Regionen; diese wurden 2016 von 22 auf 13 (plus einige überseeische) reduziert. Auch das sind nur Verwaltungseinheiten ohne politische Selbständigkeit und ohne eigene Legislative etc. Nur Korsika hat eine gewisse Autonomie und in geringerem Maß die Bretagne. Kurz: alle Ebenen unterhalb der Zentralregierung – also Regionen, Departements, Gemeinden – sind fiskalisch und legislativ abhängig von Paris und dienen nur der Verwaltung der von dort ausgehenden Beschlüsse. Es gibt zwar einen Senat als „Oberhaus“, in dem die Gemeinden, Departements und Regionen vertreten sind, der aber keine legislativen Kompetenzen und kaum Machtbefugnisse gegenüber der Nationalversammlung (Legislative) hat, sondern nur ein begrenztes Veto.

Die zentrale Entscheidungsebene hat allerdings im Lauf der Zeit verschiedene Veränderungen erfahren. Im 19. Jahrhundert noch monarchisch regiert, wurde Frankreich nach dem verlorenen deutsch-französischen Krieg 1871 republikanisch; die Republik änderte ihre Verfassung mehrfach. Seit 1958 hat die von De Gaulle begründete 5. Republik das System der 4. Republik mit schwachem Präsidenten und starkem Parlament umgekehrt und einen starken Präsidenten geschaffen. Er wird von den Bürgern direkt gewählt. Die Bürger wählen in einem anderen Wahlgang die Legislative, die Assemblée nationale. Für beide Wahlen gilt ein Mehrheitswahlrecht, bei dem der Sieger immer die absolute Mehrheit erreichen muss, ggf. in einer Stichwahl.

Eine Gewaltenteilung ist in der 5. Republik nicht konsequent realisiert. Der Präsident ist formal zwar weder Exekutive noch Legislative, aber er ernennt den Ministerpräsidenten (also den Chef der Exekutive) oder beruft ihn ab, er präsidiert selbst dem Ministerrat, er kann das Parlament auflösen und Gesetze dorthin zurückverweisen, wenn er sie nicht unterschreiben will. Der Präsident kann auch das Volk zu einem Referendum über Gesetzesvorlagen aufrufen. Seit 2008 steht dieses Recht auf ein Referendum auch dem Parlament selbst zu, wenn 20 % der Abgeordneten plus 10 % aller Wahlberechtigten dieses Begehren unterstützen. Etwas ironisch könnte man dies als eine „Direkte“ Demokratie von oben bezeichnen.

Dieser starken Stellung der zentralen Macht mit alle fünf Jahren stattfindenden Wahlen des Präsidenten und danach den Wahlen zur Assemblée nationale stehen über diese Wahlen hinaus kaum formalisierte Volksrechte gegenüber. Statt dessen ist Frankreich bekannt für seine informellen Protestbewegungen, die vor allem früher von starken Gewerkschaften und /oder Parteien organisiert wurden und sich auch heute noch in Streiks und Demonstrationen Ausdruck und manchmal auch Wirkung verschaffen. Für diese Demonstrationen und Streiks gibt es weitaus weniger Regulierungen, d.h. mehr Freiheiten, als in Deutschland.

Schweiz

Die Schweiz ist bekannt für ihr hochentwickeltes demokratisches System. Ein Irrtum wäre es aber, die direkte Demokratie der Schweiz als eine Alternative zur sogenannten repräsentativen Demokratie anderer Länder zu sehen. Die direktdemokratischen Möglichkeiten sind vielmehr eine Ergänzung dazu, allerdings eine wichtige. Aber auch die Schweiz hat ein repräsentatives System und eine Gewaltenteilung: Es gibt ebenso wie in anderen Demokratien die Institutionen Legislative, Exekutive, Judikative.

Historisch geht manches auf jahrhundertealte Traditionen zurück, gerade die direkten Abstimmungsmöglichkeiten, bei denen alle Bürger (bzw. lange Zeit nur die waffentragenden Männer) in der Landsgemeinde offen über ihre Angelegenheiten abgestimmt haben und das zum Teil noch heute tun. Föderalistische Elemente wurden bei der Gründung der modernen Schweiz 1848 auch vom amerikanischen Vorbild angeregt. Die eigenen Traditionen wurden später durch die Einführung von Referendum (Volksabstimmung über ein Parlamentsgesetz) und Initiativrecht (Vorschlag aus der Bürgerschaft für ein Gesetz) in zeitgemäße Formen gebracht.

Die Legislative besteht auch in der Schweiz aus zwei Kammern, dem Bundesrat, der direkt vom Volk gewählt wird und dem Ständerat, in dem jeder Kanton mit zwei ebenfalls vom Volk gewählten Personen vertreten ist. Beide Kammern müssen den Bundesgesetzen mehrheitlich zustimmen. Gegen jedes Gesetz kann mit einer unter den Bürgern gesammelten Stimmenanzahl ein Referendum erhoben werden. Mit einer größeren Mindestanzahl von Stimmen kann eine Volksinitiative einen Gesetzesvorschlag zur Abstimmung bringen, welches das Parlament im Erfolgsfall umsetzen muss. Verfassungsänderungen müssen auf jeden Fall immer „vors Volk“.

Diese Abstimmungsmöglichkeiten und die jeweils vorausgehenden Diskussionsprozesse führen zu einem hohen Maß an politischer Bildung und befestigen eine politische Kultur, in der argumentiert und zugehört wird. Auch die Regierung, die seit Jahrzehnten aus einer Art großen Koalition besteht, hört zu und achtet auf den Volkswillen, weil sie um dessen institutionalisierte Möglichkeiten weiß. Diese Möglichkeiten beschränken sich nicht auf Nebensächlichkeiten, sondern umfassen auch fiskalische Fragen. Die Bürger bestimmen auf diesem Weg zum Beispiel selbst, ob sie eine Zeit lang mehr oder weniger Steuern zahlen – denn sie können diesen eine zweckgebundene Bestimmung geben.

Konsequenter als anderswo ist auch der Föderalismus organisiert. Die Gemeinde verfügt über ein relativ hohes Maß an Autonomie, erhebt eigene Steuern und bestimmt in gewissem Maß, was an die höheren staatlichen Ebenen (Kantone, Bund) abgegeben wird. Vieles geschieht auf Gemeindeebene ehrenamtlich, was damit zusammenhängen mag, dass die Möglichkeiten für den Einzelnen, sein Gemeinwesen mitzugestalten, eben vorhanden und bekannt sind und von früh auf vermittelt werden. Damit sind Viele ermutigt, mitzumachen. Die Kantone werden als die eigentlichen politischen Einheiten, als die Staaten empfunden, die umfassende Kompetenzen und Aufgaben einschließlich finanzieller Möglichkeiten haben. Der Bund ist von den unteren Ebenen abhängig. Er hat noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur über geringe finanzielle Mittel für übergeordnete Aufgaben verfügt und ist heute zwar umfassender ausgestattet, aber nicht so mächtig wie die zentralen Institutionen in anderen Ländern. Das Erfolgsmodell Schweiz wird an anderer Stelle genauer betrachtet.

Soweit zumindest die „Theorie“ der Eidgenossenschaft, auch wenn manche Politiker sich in jüngerer Zeit durch ihre Entscheide gelegentlich den Unsitten anderer Länder annähern und die jüngere Generation nicht mehr überall so vertraut ist mit diesen Errungenschaften oder andere Prioritäten setzt als die Beteiligung am Gemeinwesen.

Europäische Union

Die Europäische Union ist zwar weder eine Nation noch ein Staat; sie soll hier aber mit betrachtet werden, weil ihre Protagonisten sie gern zu einem solchen machen würden. Und weil ja bereits seit Jahrzehnten Strukturen aufgebaut werden, die den Anschein von Staatlichkeit haben. Eine entscheidende Voraussetzung, nämlich ein europäisches Staatsvolk, also ein demokratischer Souverän, existiert allerdings nicht, bzw. hat sich bis heute in keiner Weise konstituiert. Die Institutionen der EU sind ursprünglich auch nicht für eine Staatlichkeit geschaffen worden, sondern es waren zunächst Verwaltungsorgane für die Montanunion und dann für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Zwar waren das von Anfang an die ersten Salamischeiben eines politischen Projektes zur Überwindung der Nationalstaaten; das ändert aber nichts daran, dass die Strukturen bis heute höchstens oberflächliche Ähnlichkeit mit Demokratie haben.

Das Europäische Parlament ist 1952 gegründet worden mit damals wohl recht eingeschränkten wirtschaftlichen Kontrollaufgaben zwischen den sechs Staaten der damaligen Gemeinschaft. (Wikipedia hält sich zur damaligen Funktion des Parlamentes vornehm zurück.) Seit 1979 kann das Parlament von den Bürgern der Mitgliedsstaaten direkt gewählt werden, jedoch mit unterschiedlichen Wahlsystemen in jedem Land und mit stark unterschiedlichen Stimmrechten für die unterschiedlichen Länder. Bürger in kleineren Staaten haben ein Mehrfaches an Stimmengewicht gegenüber größeren Ländern. Es sind also keine gleichen Wahlen. Noch wichtiger ist aber die Tatsache, dass man das Parlament nicht als Legislative bezeichnen kann: es hat kein Initiativrecht für Gesetze, sondern es kann die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Gesetze beraten und bestätigen oder verzögern. Und es kann den Präsidenten der EU-Kommission wählen. Aber ihn nicht selbst vorschlagen. Wie hätte man eine solche Institution genannt, wenn man sie im einst sozialistischen Ostblock vorgefunden hätte?

Die mächtigere Institution ist die Europäische Kommission. Es gibt so viele Kommissare wie es Mitgliedsländer gibt, für jeden ist ein Fachressort geschaffen worden. Diese Kommission erarbeitet Richtlinien, die in den Mitgliedsländern in nationale Gesetze umzusetzen sind. Dabei kennen die Fachkommissare nicht einmal die Sprachen der meisten Nationen, für die sie Gesetzesvorlagen schaffen. Die Kommission, deren Vertreter von den nationalen Regierungen bestimmt werden, ist die eigentliche europäische Legislative, nicht etwa eine Exekutive. Wenn oben vom notwendigen Respekt vor unterschiedlichen Kulturen, politischen Systemen etc. gesprochen wurde, so kann das wohl kaum für dieses System gelten, welches als lebensfernes Gebilde von einer politischen „Elite“ geschaffen wurde, die dazu in vieler Hinsicht nicht demokratisch legitimiert war. Denn wer hat unseren Bundestagsabgeordneten oder unserer Regierung erlaubt, Souveränität an eine supranationale Institution abzugeben? Der Souverän, die Bürgerschaft? Nein, sie ist dazu nicht einmal befragt worden. Soweit in wenigen Staaten einmal demokratische Abstimmungen zu einer „EU-Verfassung“ stattfanden, gingen diese negativ aus – was dazu führte, dass dieselben Pläne dann in Form eines Lissaboner Staatsvertrages zwischen den Regierungen trotzdem Gestalt annehmen. Das politische System EU, dessen weiterer Aufbau zu einem Superstaat seit langem nicht nur propagiert, sondern aktiv betrieben wird, gehört auf den ersten Blick nicht in die Reihe der demokratischen Systeme. Was sagt uns der zweite Blick?

Europäische Union

Europa ist ein Kontinent mit einer langen und vielgestaltigen Geschichte, mit unterschiedlichen Kulturen, mit einem Reichtum an technischen Innovationen, an politischen Systemen und an philosophischen, künstlerischen und religiösen Traditionen. Leider auch mit einer Vielzahl kriegerischer Auseinandersetzungen, aber auch mit zahlreichen Beispielen für friedliche Kooperationen zwischen den Staaten und für eine überragende Vielfalt an technischen Entwicklungen. Unterschiedliche Nationen pflegen verschiedene Lebensweisen und haben verschiedene politische, soziale, juristische Systeme (siehe oben Nationale Vielfalt) bis heute.

Wollen wir wirklich Vielfalt durch Einfalt ersetzen? Wer will das?

Seit einigen Jahrzehnten treten andere geografische Zentren in den Vordergrund, die den europäischen Traditionen ferner stehen, China, Indien, die islamische Welt. Das wird gern als ein Grund dafür genommen, dass die europäischen Länder sich zusammenschließen und ihre angeblich zu kleinteiligen staatlichen Ordnungen überwinden müssten, um als Machtblock, als Europäische Union, global bestehen zu können. Ist eine solche machtpolitische Begründung allein nicht schon ein falsches Signal im Sinne einer demokratischen Ordnung?

Gern wird argumentiert, der supranationale Zusammenschluss EU diene dem Frieden. Man hört aber auch das ehrlichere Argument, große staatliche Einheiten seien stärker als kleine, deshalb müssten die kleinen Einheiten überwunden werden. Stärker für was? Die Schweizer Eidgenossenschaft ist eine der global konkurrenzfähigsten Nationen mit der höchsten Industrieproduktion pro Kopf der Bevölkerung weltweit und einem der höchsten Lebensstandards für die breite Bevölkerung. Sie ist wehrhaft, immer noch halbwegs neutral und friedlich. Die EU-Staaten dagegen schlingern durch wirtschaftliche Krisen und haben bewaffnete Soldaten und Panzer in anderen Kontinenten stehen. Man kann auch Island erwähnen, ein Land mit uralter demokratischer Tradition und gutem Wohlstand – und ohne EU-Mitgliedschaft. Wer jetzt denkt: die Schweiz, Island… das sind eben kleine Länder, da mag das gehen – der sollte den Gedanken zu Ende denken: relativ kleine Entscheidungseinheiten, also Dezentralität, sind offenbar gerade Kennzeichen für Wohlstand, Demokratie und Frieden.

Zentralisierung ist also nicht der Weg zu Frieden und allgemeinem Wohlstand, wenn man das Projekt EU nicht im selben Atemzug als Fehlschlag bezeichnen will. Tatsächlich geht es ja auch nicht darum, sondern es geht beim Aufbau der EU um das Wachstum wirtschaftlicher Großeinheiten, deren Geschäfte grenzenlos sein sollen, und die ggf. mit militärischer Flankierung zu unterstützen sind. Früher nannte man das Imperialismus. Kriegsbeteiligungen von EU-Staaten – nicht untereinander, sondern nach außen – und verstärkte Rüstungsaktivitäten sind im Verlauf des EU-Aufbaus jedenfalls stärker geworden. Seit 2022 massiv stärker. Je mehr Geltungsraum man beansprucht, desto militärischer wird das Ganze. Auch die Geschichte der USA seit dem frühen 19. Jahrhundert illustriert diese bittere Wahrheit (siehe Bibliothek, Jill Lepore).

Für den Zweck des freien Verkehrs findet eine Gleichschaltung der Gesetzgebung statt. Nationale Gesetze werden in hohem Maße aus EU-Richtlinien gespeist, die national umgesetzt werden müssen. Nationale Gesetze, die dem widersprechen, werden „angepasst“ oder kassiert. Das betrifft nicht nur übergeordnete Themen, die national allein nicht regelbar sind, sondern nahezu alles, was irgendwie das Wirtschaftsleben tangiert, siehe hierzu auch das Kernthema Verfassung. Sogar in der Rechtsprechung hat sich der EU-Gerichtshof schon Einspruch in die kommunal geregelte Verteilung der Sozialhilfe angemaßt. Die Beispiele aus allen Lebensbereichen können eine ständig wachsende Bibliothek füllen.

Hauptmotiv des EWG- und später des EU-Aufbaus waren anfangs eher wirtschaftliche Absichten. Es sollten vor allem die vier Freiheiten – die für den Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften – Produktion und Handel grenzüberschreitend einheitlicher und flüssiger machen. Diesen Freiheiten sollen keine altmodischen Strukturen, Traditionen, nationale Gesetze etc. im Wege stehen. Möglichst alles wird zur Ware gemacht, indem einheitliche Messlatten und Etikettierungen daran gelegt werden, sodass Vergleichbarkeit und damit Handelbarkeit entsteht. Der gemeinsame Nenner für nahezu alle gesellschaftlichen Vorgänge wird – das Geld.

Karl Marx ahnte kaum, wie umfassend recht er behalten würde, als er 1859 den ersten Satz seines „Kapital“ schrieb: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform.“ Was kann heute nicht alles Ware sein oder dazu gemacht werden? Produkte und Dienstleistungen, gesellschaftliche Aktivitäten aller Art werden in Waren verwandelt, um Gegenstand von Handel und Profit sein zu können. Schüler und Patienten werden zu Kunden. Die supranationale „Optimierung“ des Warenverkehrs durch das Abschleifen nationaler Besonderheiten und das Schaffen neuer Geschäftsfelder durch Verwandlung möglichst aller Aktivitäten in einen Warenverkehr gehen Hand in Hand. Etikettierungs-, Zertifizierungs- und Kontrollprogramme für alle möglichen Waren und Dienstleistungen haben umfassend neue Berufe geschaffen, die sich mit dem „Tauschwert“ der Dinge beschäftigen, während der „Gebrauchswert“, also zum Beispiel produktive Berufe vor allem im Handwerk, in Pflegediensten, aber auch in akademischen Bereichen verlorengeht. Qualifiziertes Personal fehlt oder wird zunehmend aus dem Ausland bezogen. Man schafft offene Grenzen, um auf das zuzugreifen, was man im eigenen Bildungs- und Ausbildungssektor gespart hat, siehe hierzu auch das Kernthema Bildung.

Die manchmal noch geäußerte Kritik, dass die Öffnung zu einem europäischen Markt inkl. gemeinsamer Währung deshalb ein Fehler sei, weil ja zuerst die politische Einheit hätte hergestellt werden müssen, greift zu kurz. Die Absicht ist eine andere. Eine politische Einheit im demokratischen Sinne ist von den EU-Akteuren gar nicht angestrebt: die geschaffenen Strukturen ohne Gewaltenteilung und ohne Volkssouveränität zeigen es ja. Angestrebt ist ein Wirtschaftsraum, der möglichst ohne politische Prozesse im Sinne öffentlicher Meinungsbildung und demokratischer Entscheidung funktioniert. Angestrebt ist ein Wirtschaftsraum, der ein öffentliches Leben im bürgerlich-demokratischen Sinn gar nicht mehr braucht.

Göttervater Zeus wirft die schöne Königstochter Europa ab, statt sie, wie die Sage erzählt, in Liebe zu entführen. Eine Metapher dafür, wie die EU mit der Demokratie umspringt? (Foto: Keramik-Skulptur von Ute Naue-Müller, Foto von Olaf Hais, Beschriftung von Christian Fischer)

Es geht nicht um ein besseres oder größeres politisches System der Demokratie, sondern um die Konstruktion einer großen europäischen Firma, in der politische Systeme nur noch im Sinne von Verwaltungsapparaten zur Durchsetzung zentraler Entscheidungen gebraucht werden. 2012 wurde unter dem Arbeitstitel „Europäischer Stabilitätsmechanismus“ ein weiterer geradezu absolutistisch verfasster Vorstand mit weitreichenden Kompetenzen installiert. Ob man dem neuen System eines Tages den Namen Vereinigte Staaten von Europa geben wird, ist für Demokraten ohne Belang: Diese Staaten sind dann keine Demokratien mehr, sondern unselbständige Verwaltungsapparate. Vereinigte Staaten von Europa werden an anderer Stelle genauer betrachtet, in einen historischen Zusammenhang von Nation, Demokratie und Frieden gestellt, während Nationalismus ebenfalls genauer betrachtet und davon abgegrenzt wird.

Gegenentwurf: Es gab und gibt immer Möglichkeiten, die Zusammenarbeit der Nationen konstruktiv zu organisieren, ohne dabei deren Souveränität aufzugeben. Die Mitglieder der leider geschrumpften Freihandelszone EFTA verfügten lange und zum Teil bis heute über prosperierende Wirtschaften – ohne die Aufgabe von Souveränität oder eigener Währung. Wer an einem demokratischen Europa interessiert ist, könnte auch den Europarat stärken im Sinne eines Ortes, an dem die souveränen Staaten sich über bessere demokratische Lebensformen austauschen, um diese dann einzeln, souverän und ohne supranationalen Mehrheitsentscheid auf ihrem eigenen kulturellen Boden zu realisieren. Europa kann und muss ein Kontinent der souveränen Demokratien bleiben. Wieder werden.

Eine Vision: ein fröhliches Europa auf Basis demokratischer Strukturen (Foto: Keramik-Skulptur von Ute Naue-Müller, Foto von Olaf Hais, Beschriftung von Christian Fischer)

Föderalismus

Es entspricht der Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen, die gemeinsamen öffentlichen Angelegenheiten in dem Rahmen zu regeln, in dem sie sie ihre Wirkung entfalten. Man nennt das auch Subsidiarität, die „unteren“ Ebenen entscheiden – und zwar auch darüber, wie sie sich mit benachbarten Einheiten koordinieren oder welche Entscheidungsbefugnisse sie an höhere Ebenen abgeben. Dieses Prinzip ist in einer komplex vernetzten Welt natürlich nicht mehr so einfach zu handhaben wie es noch vor 100 Jahren der Fall war, als kaum jemand ein Auto oder ein Telefon hatte und die Lebensmittelpunkte der meisten Menschen viel stabiler und überschaubarer waren als heute. Das subsidiär-demokratische Prinzip gehört damit aber nicht auf den Müllhaufen der Geschichte, sondern stellt uns „nur“ vor anspruchsvollere Aufgaben.

In Deutschland ist der Föderalismus in den unveränderlichen Kapiteln des Grundgesetzes verankert. Der Bund besteht aus 16 Bundesländern, die eigene Staaten sind und eine Gesetzgebungskompetenz haben, die auch im Grundgesetz festgeschrieben ist. Die föderale Ordnung wurde nach dem 2. Weltkrieg zwar etwas willkürlich festgelegt, basiert aber auf der dezentralen Geschichte unseres Landes, die auch dazu geführt hat, dass es viele dezentrale Wirtschaftsschwerpunkte gibt. Das kann man unter dem Gesichtspunkt ähnlicher Lebensverhältnisse wohl als Vorteil gegenüber zum Beispiel dem zentralisierten Frankreich bezeichnen. Die Gesetzgebung ist grund(ge)sätzlich Ländersache. Welche Gegenstände auf Bundesebene gesetzlich zu regeln sind, ist in Artikel 73 GG einzeln festgelegt, welche Gegenstände Bund und Länder „konkurrierend“ behandeln in Art. 74 GG. Eine wichtige hoheitliche Aufgabe der Bundesländer ist zum Beispiel das Schul- und Bildungswesen.

Die föderale Ordnung unterliegt oft einer Kritik als eine altmodische, nicht mehr in die Zeit passende Regelung. Natürlich hat es in den Gründungsjahren der Bundesrepublik noch nicht die Mobilität gegeben, sei es physisch, sei es digital, die es heute gibt. Aber der Fortschritt mit all seinen technischen Innovationen ist nicht das Subjekt der Geschichte. Sondern es sind die Menschen, die trotz gestiegener Mobilität ihre Lebensorte und ihre unveräußerliche Entscheidungshoheit haben. Natürlich wird heute niemand bestimmen wollen, dass in seiner Gemeinde, seinem Kanton, keine Autos fahren dürfen oder dass andere Verkehrsregeln gelten oder Ähnliches. Aber wie wir ortsspezifische Entscheidungen oder landesspezifische Regelungen gestalten, sollten wir schon selbst entscheiden dürfen. Die Länderhoheit im Schulwesen mag ärgerlich sein, wenn eine Familie von Bayern nach Bremen umzieht oder umgekehrt. Aber daraus entsteht auch der Vorteil, dass man nicht gleich jeden Fehler von zum Beispiel Schulreformen bundesweit verbreitet, sondern verschiedene Erfahrungen machen, beobachten, daraus lernen kann. Für länderübergreifende Aufgabenstellungen gibt es neben der Bundesgesetzgebung ja auch den Bundesrat, in dem die Länderinteressen für bundesrelevante Gemeinschaftsaufgaben koordiniert werden (sollen).

Bundesrat

Dazu ist allerdings zu sagen, dass dieses Gremium über eine merkwürdige Konstruktion verfügt. In den USA und der Schweiz, werden die entsprechenden Kammern (Senat, Ständerat) direkt von den Bürgern in den jeweiligen Staaten / Kantonen gewählt mit jeweils 2 Personen, unabhängig von der Bevölkerungszahl. Damit sind nicht die Bürger, sondern die Staaten / Kantone gleichberechtigt vertreten. Das ist dort aus den jeweiligen historischen Zusammenhängen zu erklären, in denen der Bund erst nach den Staaten entstanden ist, die damit einen Teil ihrer Souveränität bewahrt haben. Das entspricht einem föderal-demokratischen Prinzip. Auch in Deutschland sind die Länder zum Teil etwas älter als der Bund. Das ist hier auf die Nachkriegsordnung zurückzuführen als die West-Alliierten in ihren Besatzungszonen die Bundesländer gründeten, zum Teil mit, zum Teil ohne angemessene historische Bezüge. Über die Art der Gliederung in Bundesländer gibt es übrigens die Möglichkeit der Volksabstimmung (Art. 29 GG), die bereits mehrfach genutzt wurde. Baden-Württemberg wurde einmal umgestaltet und einmal wurde darüber negativ entschieden. Das Saarland wurde nach Volksentscheid neu aufgenommen, Berlin-Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen wurden nach Volksentscheid nicht umgestaltet.

3 – 6 Sitze je nach Bundesland

Die gesetzgebende Länderkammer wird aber nicht, wie in USA und Schweiz, von den Bürgern gewählt, sondern Vertreter der Länderregierungen (oder die Ministerpräsidenten selbst mit weiteren Personen) bilden den Bundesrat. Die Länder haben je nach Größe 3 bis 6 Stimmen, sodass weder die Bürger noch die Länder gleichberechtigt vertreten sind; es ist ein Kompromiss. Die Tatsache, dass die Bundesländer nur durch ihre Regierungen und nicht durch gewählte Vertreter vertreten sind, spiegelt eine alte Geschichte wider: auch im längst untergegangenen mittelalterlichen deutschen Reich gab es einen Bundesrat, in dem die Landesherren, die Fürsten, gegenüber dem Kaiser vertreten waren.

Es wäre an der Zeit, ein demokratischeres Prinzip einzuführen, indem man die Koordination der Länderinteressen auf Bundesebene in die Hände von direkt gewählten Vertretern legt. Denn heute wird der Bundesrat eher als eine Nebeninstanz wahrgenommen, in der der Parteienproporz des Bundestages durch den Parteienproporz auf Länderebene etwas korrigiert werden kann. Nicht anders verhält er sich ja auch. Das verweist auf das Thema der Parteienherrschaft. Warum führt man nicht eine Persönlichkeitswahl für den Bundesrat ein, sodass die Bürger einen direkteren Bezug dazu haben? Eine Persönlichkeitswahl, die so ausgestaltet sein müsste, dass sie möglichst wenig von Parteien dominiert werden kann. Zum Beispiel könnte jeder Bürger 3 oder 4 Stimmen haben, die er auch auf verschiedene Parteien verteilen kann, wenn deren Kandidaten ihm besser gefallen. Aus jedem Bundesland werden jeweils 3 oder 4 Kandidaten mit den meisten Stimmen gewählt. Das ergäbe 48 oder 64 Bundesrat-Abgeordnete statt jetzt 69, die vor allem eine größere Nähe und Verantwortlichkeit zwischen Bürgern und Entscheidungsträgern bewirken könnte. Auch hier müsste es möglich sein, dass parteilose Kandidaten antreten dürfen und eine adäquate staatliche Unterstützung dafür erhalten.

Wir haben das Glück, dass wir in Deutschland föderale Grundstrukturen haben, die besser institutionalisiert sind als in vielen anderen Ländern. Aber sie sind nicht optimal ausgestaltet und im Zuge einer etablierten Parteienherrschaft beinahe ihres Sinnes beraubt worden. Das ist nicht allzu schwer zu korrigieren. Wenn man denn will.

Gemeinde

Mindestens ebenso große Mängel sehen wir auf der Ebene der Gemeinde, die eigentlich die Basis der demokratischen Ordnung ist. Weitere Hinweise zu unseren Gemeindeordnungen und -funktionen finden sich unter „Genauer betrachtet_Föderalismus_Die Gemeinde„.

Nimmt man das Wort Gemeindeselbstverwaltung ernst, so müsste es in der Entscheidungsgewalt jeder Gemeinde liegen, ihre innere Ordnung selbst zu bestimmen, statt sie vom Landesparlament vorgegeben zu bekommen. Das betrifft jedoch zunächst nur die innere Ordnung der Gemeinde, nicht ihre finanzielle Autonomie. Diese hängt von der Verteilung des Steueraufkommens zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ab und würde heute in Deutschland Entscheidungen auf allen diesen Ebenen erfordern, wenn es zu einer Neuaufteilung kommen soll. Das Idealbild, dass die Gemeinde grundsätzlich der erste Ort für die Steuererhebung ist, von der aus entschieden wird, was an höhere staatliche Ebenen abgegeben wird, ist, historisch bedingt, bei uns nicht gegeben.
Um in diese Richtung Veränderungen zu bewirken, müssten auf allen drei Ebenen gleichgerichtete Bürgerinitiativen tätig werden, da von den Landes- und Bundespolitikern sicher keine freiwillige «Entmachtung» zu erwarten ist. Das betont einmal mehr die demokratische Notwendigkeit von niederschwelligen Volksentscheiden auf allen Ebenen – und zwar gerade auch zu unmittelbar finanzrelevanten Themen, die bisher von Volksentscheiden ausgenommen sind. In diesem Sinne hört man bisher kaum Stimmen im politischen Raum.
Größere finanzielle Autonomie würde es auch erlauben, die kommunalen Aufgaben und Besitztümer nicht «outzusourcen», also «das Tafelsilber» aus Liquiditätsgründen abzustoßen, sondern in der eigenen Entscheidungsgewalt zu belassen. Zum Beispiel stehen den Gemeinden zurzeit zwar 80 % der Gewerbesteuer zu, aber nur 15 % der Einkommenssteuer und 2,2 % der Umsatzsteuer – obwohl doch jeder einzelne Arbeitsplatz in einer Gemeinde angesiedelt ist und jede einzelne Kaufaktion in einer Gemeinde stattfindet. Aus den restlichen Einnahmen erhalten die Gemeinden zwar Zuweisungen von den höheren staatlichen Ebenen, aber sie sind darin eben abhängig und nicht selbstbestimmt.

Das Bewusstsein in der Bürgerschaft über die Bedeutung größerer Gemeindeautonomie war historisch bedingt über weite Strecken nicht allzu stark entwickelt; es ist durch Eingemeindungen und Zusammenschlüsse in den letzten Jahrzehnten eher gesunken. Die Zahl der Gemeinden wurde seit 50 Jahren halbiert, viele Gemeinden sind damit vergrößert worden. In größeren Gemeinden, das zeigen Untersuchungen sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz, ist die Bereitschaft der Bürger zur aktiven Beteiligung am politischen Leben aber eher geringer. Diese Erkenntnis ist grundlegend und betrifft alles, was überhaupt mit Demokratie zu tun hat. Institutionelle Strukturen, die eine Beteiligung der Bürger am politischen Leben erleichtern, werden diese Beteiligung auch befördern. Und eine direktere Beteiligung der Bürger am politischen Leben wird Tendenzen bei den politischen Akteuren, die sich nicht am Gemeinwohl und der ehrlichen Vermittlung verschiedener Interessen orientieren, erschweren. Das ist die Perspektive für eine nachhaltige Demokratie. Und für den Frieden.

Direktere Demokratie

In manchen politischen Diskussionen wird der Eindruck erweckt, als seien direkte und repräsentative Demokratie eine Alternative. Tatsächlich hat jedes demokratische System repräsentative Organe; auch die Schweiz hat Parlamente, Regierungen, Gerichte, ebenso Polizeibeamte, Verwaltungsapparate etc., die alle im Namen des Volkes, also dieses „repräsentierend“, tätig sind. Direkte Einflussmöglichkeiten durch Bürgerinitiativen zu Sachfragen, bzw. Volksabstimmungen über Gesetzesvorlagen oder Verfassungsänderungen sind immer nur eine Ergänzung, die jedoch sehr unterschiedlich ausgestaltet sein kann. In der Schweiz ist das umfangreich der Fall; in einigen US-Staaten gibt es ebenfalls Abstimmungsmöglichkeiten, die zum Teil gut genutzt werden; in Deutschland haben wir auf Landes- und Gemeindeebene Abstimmungsmöglichkeiten mit mehr oder weniger eingeschränkten Kompetenzen; in Frankreich ist das so gut wie gar nicht institutionalisiert. Immerhin ist in Frankreich allerdings einmal ein Referendum über eine EU-Verfassung vom Staatspräsidenten (!) organisiert worden – mit negativem Ergebnis.

In Deutschland bestimmt das Grundgesetz Art. 20(2), dass die vom Volk ausgehende Staatsgewalt durch Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird. Auf Bundesebene ist für die Abstimmungen bis heute keine gesetzliche Regelung geschaffen, also der Wille des Grundgesetzes nicht realisiert worden. Viele Jahre lang hat sich der Verein „Mehr Demokratie“ für Abstimmungsregelungen eingesetzt, auf manchen Landesebenen auch erfolgreich, auf Bundesebene setzt er inzwischen andere Prioritäten: gelegentlich per Los einberufene „Bürgerräte“, die zu manchen Themen Empfehlungen erarbeiten. Das entspricht nicht dem Grundgesetzartikel zur Ausübung von Staatsgewalt, sondern eher einem Petitionsausschuss, der den Anschein von „mehr Demokratie“ erwecken soll, tatsächlich aber ein Propagandainstrument für bestimmte Ziele ist, siehe Genauer betrachtet_Bürgerräte. Die Partei „Die Grünen“ war einst mit basisdemokratischen Anspruch angetreten, hat diesen Grundgesetzauftrag aber 2021 aus ihrem Parteiprogramm gestrichen. Dennoch muss dieses wesentliche Element demokratischer Kultur auf der politischen Tagesordnung stehenbleiben und realisiert werden. In der politischen Landschaft sind es heute eher rechtsgerichtete Kräfte, die sich für diesen Grundgesetzauftrag stark machen und dafür Populisten genannt werden als wenn das ein Schimpfwort wäre. Linksgerichtete Kräfte sind mehr oder weniger offen für Elite-Ideologien, bei denen es dem einfachen Volk nicht zugetraut wird, ohne vorherige Aufklärung durch Besserwissende mit allzu viel Entscheidungsbefugnis belastet zu werden, siehe hierzu Genauer betrachtet_Demokratie als Erziehungsdiktatur?. Ich sehe dagegen für eine friedliche und gerechte Zukunft keine Alternative zu echten direktdemokratischen Regelungen, die natürlich mit Bildung, sachlicher Auseinandersetzung und gegenseitigem Respekt praktiziert werden müssen – hier und heute, nicht in einer fernen Zukunft.

Beim Thema Volksabstimmungen stellen sich sofort Fragen: Worüber darf abgestimmt werden? Wie viele Bürger müssen sich beteiligen (Quorum), damit eine Abstimmung wirksam ist? In der Schweiz, dem Musterland der direkten Demokratie, sind Mindestbeteiligungen auf kantonaler und Bundesebene gegeben, um eine Initiative zur Abstimmung zu bringen; ist das einmal erreicht, gibt es aber inzwischen keine Mindestbeteiligung mehr, wenn abgestimmt wird. Das ist eine vernünftige und gerechte Lösung, denn bei Wahlen gibt es schließlich auch keine Mindestbeteiligung. Vor allem gibt es in der Schweiz umfangreiche Kompetenzen, welche Fragen dem Volk direkt vorgelegt werden können. Verfassungsänderungen unterliegen dort sogar obligatorisch einer Volksabstimmung. Aber auch über fiskalische und andere Finanzfragen darf das Schweizervolk direkt abstimmen. Warum auch nicht; diese Praxis ist sowohl Ergebnis von als auch Bedingung für eine lebendige und verantwortungsvolle Demokratie.

In Deutschland gibt es auf Länder- und Gemeindeebene erstens mehr oder weniger hohe Hürden hinsichtlich des Quorums und zweitens starke Beschränkungen hinsichtlich der Gegenstände über die abgestimmt werden darf. Zum Beispiel regelt in Nordrhein-Westfalen die Verfassung in Art. 67 a und 68, dass ein Volksbegehren von mindestens 8 % der Stimmberechtigten unterzeichnet sein muss. Das sind in NRW ca. 1 Million Unterschriften. Wenn der Landtag dann dem Volksbegehren nicht folgt, muss innerhalb von 10 Wochen ein Volksentscheid herbeigeführt, also eine nächste Runde gestartet werden, wofür ebenfalls ein Quorum gilt. Das sind hohe Hürden für eine direkte Willensäußerung des Volkes.

Worüber darf direkt abgestimmt werden? In NRW „nur auf Gebieten, die der Gesetzgebungsgewalt des Landes unterliegen.“ Das ist selbstverständlich. Aber dann: „Über Finanzfragen, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen ist ein Volksbegehren nicht zulässig.“ Warum nicht? Sind die Bürger, die sich für solche Fragen interessieren, weniger kompetent als die von ihnen gewählten Abgeordneten? Erleben wir nicht oft genug, dass die Abgeordneten über Themen abstimmen, zu denen sie kaum fünf Minuten lang sinnvolle Aussagen machen können? Auch in den anderen Bundesländern gibt es auf Landes-, Landkreis- und Gemeindeebene ähnliche Beschränkungen. Die Quoren sind dagegen sehr unterschiedlich geregelt, siehe hierzu Genauer betrachtet_Direktere Demokratie. Tatsächlich ist es im Sinne einer bürgernahen Demokratie nicht einzusehen, warum die Bürger nicht über alles das abstimmen dürfen, worüber die von ihnen gewählten Abgeordneten entscheiden dürfen. Ebenso wenig ist einzusehen, warum eine einmal mit einem gewissen Quorum zugelassene Abstimmung nicht mit einfacher Mehrheit ohne weitere Mindestbeteiligung gültig sein darf.

Beim Thema Direktere Demokratie müssen die Die Gemeinde als ein wichtiges Element demokratischer Ordnung sowie Die Parteien genauer betrachtet werden. Zur Rolle der Parteien in unserer Demokratie sei hier nur an das Grundgesetz erinnert, in dem es heißt, Art. 21: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.“ Weiterhin müssen sie die freiheitliche demokratische Grundordnung achten, worüber ggf. das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hat. Das ist alles was unsere Verfassung zu den Parteien zu sagen hat. Entspricht diese recht bescheidene Beschreibung der heutigen Verfassungswirklichkeit?

Führung

Nach direkter Demokratie soll nun von Führung die Rede sein? Womöglich sogar in einem positiven Sinn? Ist das nicht ein Widerspruch? Und darf man als Deutscher überhaupt noch das Wort Führung im politischen Zusammenhang in den Mund nehmen?

Man darf nicht nur, man muss! Denn man darf sich von einem diktatorischen Massenmörder, einem Führer ins Unheil, nicht das Kind mit dem Badewasser ausschütten lassen. Oder glaubst Du nicht, lieber Leser, dass es auch gute Führer gegeben hat und wahrscheinlich sogar geben muss? Man braucht nicht alles gut zu finden, was Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela und andere gedacht und getan haben; aber kann man bestreiten, dass diese Persönlichkeiten in vielerlei Hinsicht positive Führungsaufgaben übernommen haben? Und wenn man über den engeren politischen Rahmen hinausschaut: auch Albert Schweitzer, Friedrich Wilhelm Raiffeisen und viele andere haben als Führungspersönlichkeiten nicht nur praktisch, sondern auch über ihren Wirkungskreis hinaus als gedankliche Vorbilder positiv gewirkt. Wahrscheinlich gibt es in der Weltgeschichte viel mehr positive Führungspersönlichkeiten als negative, aber die Geschichtsbücher interessieren sich nun mal mehr für die negativen. Um es kurz zu machen: es kommt darauf an, wohin jemand führt.

Da muss man zunächst unterscheiden: im Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen heißt die Führung: Erziehung. Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, dass diese Art von Führung für junge Menschen erforderlich ist, wobei über die Erziehungsinhalte natürlich trefflich diskutiert werden kann, was hier aber nicht geschieht („modernere“ Tendenzen werden unter Bildung beleuchtet). Aber wir beschäftigen uns hier mit dem politischen Raum, also damit, was sich zwischen Erwachsenen in Bezug auf das öffentliche Leben abspielt. Da geht es natürlich nicht um Erziehung, auch wenn manche Elitetheorien das mehr oder weniger unausgesprochen so sehen wollen (das wird unter Demokratie als Erziehungsdiktatur? genauer betrachtet). Worum geht es also, wenn von Führung, aber nicht von Erziehung und schon gar nicht von Verführung die Rede ist?

es ist gut, wenn jemand die Führung übernimmt – sofern die Richtung stimmt

Jemand steht auf und macht einen Vorschlag, was bei der Organisation des öffentlichen Lebens besser gemacht werden sollte. Er spricht mit anderen darüber. Man entwickelt seine Vorschläge weiter. Man überlegt, wie man seine Ideen den Mitbürgern bekannt machen kann und findet auch Wege dafür. Es entsteht eine Kampagne. Wenn man Mehrheiten finden will, um die Vorschläge in dieser oder in einer veränderten Form umzusetzen, müssen nicht nur Argumente vorgetragen, sondern es müssen überzeugende Stimmen laut werden. Das muss nicht eine einzelne Person, ein einziger Sprecher sein, es können auch persönlich nicht festgelegte Organisationen, Parteien, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen etc. sein. Aber wenn eine oder mehrere Personen als überzeugende und glaubwürdige Repräsentanten für einen Vorschlag, für ein Programm erkennbar sind, ist das ein Vorteil. Man unterstützt lieber eine vertrauenswürdige Person als eine unpersönliche Organisation.

Auch im 21. Jahrhundert sind wir Menschen an persönlichen Beziehungen interessiert und richten unser Verhalten lieber an diesen aus als an Maschinen oder anonymen Organisationen. Im täglichen Leben sind vorübergehende Auf- und Abstiege von Gruppenaktivitäten, die von der Persönlichkeit, dem Charisma, einer oder weniger Führungspersonen abhängen, allgegenwärtig. Jeder weiß aus seiner Lebenserfahrung, dass man vielleicht nicht mehr so gern in einem Chor mitsingt, wenn der Dirigent gewechselt hat – obwohl das Musikprogramm dasselbe geblieben ist; oder dass man nicht mehr so engagiert in einer Partei oder in anderen Arbeitsgruppen mitarbeitet, wenn ein beziehungsreicher und kompetenter Leiter durch einen eher langweiligen, aber ebenso kompetenten Leiter ersetzt wurde – obwohl die Ziele der Partei oder der Arbeitsgruppe dieselben geblieben sind. Dieses Verhalten ist nicht dumm, sondern Ausdruck davon, dass man sich einer Person lieber anschließt als einer andern, vielleicht auch einem beziehungsreichen Menschen instinktiv mehr Erfolg für das ganze Projekt zutraut als einer „grauen Maus“.

Zwar ist es so, dass zumindest größere Organisationen (Firmen, Konzerne) über innere Gesetzmäßigkeiten verfügen, die personenunabhängig zu sein scheinen; aber wenn das Führungspersonal über eine gewisse Zeit nicht mehr angemessen voran- sondern eher auf der Stelle „schreitet“, werden Kunden oder das eigene Personal oder beide allmählich davonlaufen. Bei sozialen und politischen Bewegungen, die weniger verbindlich strukturiert sind, geht das viel schneller. Der derzeitige (2024) Bundeskanzler gilt als führungsschwach, sowohl innerhalb seiner Partei als auch innerhalb seiner Koalition: die Umfragewerte sinken in die Tiefe, obwohl seine Partei auf eine stolze und lange Geschichte zurückblickt. Überzeugende Persönlichkeiten hat diese Partei einmal gehabt… Man könnte auch die Partei Die Linke als Beispiel nennen. Sie wurde vom ehemaligen Vorsitzenden dieser stolzen Partei mitgegründet und hatte eine Zeitlang politische Erfolge mit ein paar interessanten Führungspersönlichkeiten, die sich aber teils aus Altersgründen, teils aus inhaltlichen Gründen ohne entsprechende Nachfolge verabschiedet haben – und eine dieser Persönlichkeiten gründet eine neue Partei, die bereits zu Beginn aussichtsreicher zu sein scheint als die verlassene Partei.

Bei den Auf- und Abstiegen, Neugründungen und endgültigen Untergängen von Gruppen, mögen auch inhaltliche Gründe eine Rolle spielen, aber ganz gewiss geht es um das Vertrauen, das (potenzielle) Wähler und Unterstützer in die Führung haben. Das mögen Projektionen eigener Wünsche sein, Hoffnungen, die auch enttäuscht werden können, aber die Funktionsweise ist die des Vertrauens in Personen, viel weniger in anonyme Programme und Absichtserklärungen. Einem vertrauenswürdigen Menschen zu folgen fällt oft leichter, als einem geschriebenen Text (auch diesem hier!). Denn wenn aus einer Theorie eine Praxis werden soll, müssen ja auch Personen tätig werden – aber wenn die nicht erkennbar oder überzeugend sind? Natürlich darf man Führern nicht blindlings folgen, nur weil sie einem persönlich sympathisch sind. Neben dem Vertrauen in die Person sind Information und kritische Auseinandersetzung und eine eigene ethische Haltung nötig. Aber da es sich bei sozialem und politischem Engagement nicht um Vergangenheitsbeweise, sondern immer um Zukunftsprojekte handelt, ist ohne Vertrauen (oder Misstrauen) in redende und vor allem handelnde (!) Personen nichts möglich. Glücklicherweise setzt gegenüber Führern, bei denen Worte und Taten nicht übereinstimmen, zumindest bei psychisch gesunden Menschen meist eine spontane Abwehr ein. Allerdings gibt es auch erfolgreiche Führer, deren Wort mit ihrer Tat übereinstimmt, beides aber weit entfernt vom Allgemeinwohl ist – und sie erfahren dennoch Zustimmung. Das ist ein Problem einer Gefolgschaft, der es eben auch nicht (nur) an Information, sondern (vor allem) an ethischer Haltung mangeln kann…

Trotz allen Fallgruben, die es tatsächlich gibt: Es ist gut, wenn jemand für eine gute Sache den Anfang macht und Verantwortung übernimmt. Nicht jeder ist dafür geeignet, eine erforderliche Mannschaft um sich zu sammeln und zum Laufen zu bewegen. Aber viele machen gerne mit, wenn einer vorangegangen ist. Wer sich selbst eine solche Führungsrolle nicht zutraut, ist oft dankbar, wenn ein anderer sie übernimmt. Das ist in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens so. Was ist dagegen einzuwenden? Was wäre alles nicht bewegt und entwickelt worden auf dieser Welt, wenn nicht jemand 1. eine Idee gehabt, 2. andere für diese Idee begeistert und 3. das dann (auch mit Hilfe anderer) umgesetzt hätte? Ja, dieser Ablauf gilt auch für schändliche Ziele und Aktionen. Aber er gilt eben auch für wichtige und notwendige Ziele und Aktionen. Wir Menschen sind soziale Individuen, die mit dem Denken und Handeln der anderen leben. Da gottlob nicht alle immer gleichzeitig dasselbe denken und tun wollen, sind gemeinschaftliche Aktivitäten nur im Austausch, mit Anregungen und Gefolgschaften oder auch Verweigerungen, aber immer in Beziehung zu den anderen möglich. Dabei besteht meist ein Gefälle zwischen den Menschen hinsichtlich ihrer Initiativen und Aktivitäten. Dies beschreibt keinen positiven oder negativen Tatbestand, sondern ist eine neutrale Beobachtung.

Nachtrag

Aus diesen Überlegungen folgt logisch ein kritischer Hinweis auf gefährliche aktuelle Tendenzen. Vieles wird in der modernen Welt entpersönlicht, technisiert, automatisiert, digitalisiert, gar einer „künstlichen Intelligenz“ überantwortet. Das muss hier nicht im einzelnen beschrieben, sondern braucht nur angedeutet zu werden. Unterricht und Bildung sind davon betroffen, nachdem die Erziehung durch Eltern und Lehrer ohnehin schon ideologisch in Misskredit gezogen wurde. Viele Bereiche der öffentlichen Verwaltung, des Gesundheitswesens, der Kreditwirtschaft bis hin zur Kriegsführung werden einbezogen; schließlich wird derzeit auch die unendlich große Welt der Informationsverbreitung, des Journalismus, ja, der „Informationserfindung“ selbst erfasst. Niemand kann bald mehr sagen, wer wirklich was gesagt gesagt hat, woher welche „Nachricht“(?) gekommen ist, welcher Wahrheitsgehalt da oder dort zugrunde liegt. Gleichzeitig hat alles, womit wir digital belästigt werden, zumindest für viele Menschen einen Anschein von Objektivität, wenn nicht sogar von Wissenschaftlichkeit, da es ja irgendwo gespeichert ist und nicht „nur“ von irgendeinem Menschen subjektiv geäußert wurde. Das „Internet“ als Quellenangabe wird immer mehr als verlässlicher gegenüber persönlichen Wahrnehmungen akzeptiert.

Natürlich wurde schon immer auch gelogen, solange es Menschen gibt. Aber mit der digitalen Entpersönlichung geht eine systematische Verwirrung einher, die es schwer macht (ich drücke mich vorsichtig aus), etwas zu überprüfen und Vertrauen zu fassen oder Misstrauen fundiert zu begründen. Damit wird auch Führung und Gefolgschaft in einem positiven Sinn viel schwerer – und Manipulation viel einfacher, zumindest für diejenigen, die über die Datenpools verfügen. Die reale Welt wird zunehmend von einer irrealen überlagert und immer weniger von dieser unterscheidbar. Auch wenn ich nicht an einen einzigen big brother glaube, der demnächst die ganze Welt marionettenhaft steuern wird: mindestens Chaos und Instabilität sowie das Erschweren verbindlicher Planungen – und damit das Führen hin auf positive Ziele – sind systematisch programmiert. Zumindest für diejenigen, die nicht über die Datenpools verfügen. Vermutlich ist mit diesen wenigen Worten eine der wichtigsten Zukunftsgefahren angesprochen.

Macht

So wie Genossenschaft und Herrschaft ein gesellschaftliches Gegensatzpaar bilden kann man auch zwischen Führung und Macht ein Gegensatzpaar sehen. Auch wenn Führung gerade in der deutschen Geschichte ein furchtbares Beispiel für einen – man kann sagen – Wortmissbrauch bietet. Positiv gebraucht würde Führung (siehe oben) nicht ins Elend, sondern in ein besseres Leben führen.

Auch Macht könnte man ambivalent verstehen: man kann die „Macht“ haben, etwas Gutes zu tun. Aber ist das mit Macht richtig beschrieben? In der Geschichte der Gesellschaften ist die Macht der Zwillingsbruder der Herrschaft. Oder ihr eigentlicher Kern: ich strebe nach Macht, um Herrschaft über andere auszuüben. Natürlich schmückt sich die Herrschaft gern damit, ihre Macht für gute Zwecke einzusetzen. Manchmal proklamiert sie geradezu die Notwendigkeit, Macht zu erlangen, um das Gute durchzusetzen; das wird unter dem Abschnitt Erziehungsdiktatur genauer betrachtet.

Aber gerade bei den historischen Beispielen, die solche Ideologien und Propagandakampagnen illustrieren, wird deutlich, dass am Ende die von den Akteuren errungene Macht gegenüber dem proklamierten guten Zweck die Oberhand behält. Dem gesellschaftlichen Machtstreben ist immer ein egoistisches Motiv zu eigen, das sich im Erfolgsfall mehr oder weniger unmissverständlich offenbart. Es geht dabei nicht um einen gesellschaftlichen Ausgleich, sondern um das Sich durchsetzen. Dagegen wäre eine positiv verstandene Führung darauf orientiert, eine als hilfreich verstandene Sache für eine Allgemeinheit nutzbar zu machen.

Natürlich kann man die hier verwendeten Worte auch anders verstehen; Worte wie Führung oder Macht sind Chamäleons. Mit meinem Vorschlag hier soll nur auf einen sachlichen Unterschied hingewiesen werden, den man vielleicht auch anders in Worte fassen könnte. Gemeint ist hier: Macht strebt das Solitäre an, ihre Aktivität ist das Nehmen und das Behalten und das Anhäufen. Das ist meins, ich will mehr. Dagegen ist Führung eine gebende Eigenschaft, auf eine Sache oder eine Gemeinschaft orientiert. Politisches Handeln von exponierten Personen in diesem Sinne zu unterscheiden ist nicht immer einfach, aber diese Beschreibungen können vielleicht eine Hilfe dafür bieten.

Beide Erscheinungen, die hier positiv mit Führung und negativ mit Macht umschrieben sind, begegnen uns bereits im Tierreich und sind somit wohl eine tiefsitzende, also ernst zu nehmende Eigenschaft aller Individuen, mindestens aller Säugetiere. Alte Elefantenkühe führen ihre Artgenossen bei großer Trockenheit an weit entfernte Wasserlöcher, achten auf dem Weg dorthin auch auf die Schwächeren und retten so das Überleben Vieler. Bei dem mit Macht beschriebenen Phänomen assoziiert man im Tierreich dagegen vor allem das Fortpflanzungsverhalten. Hirsche, Paviane und viele andere Säugetierarten praktizieren männliche Balzkämpfe, um sich einen weiblichen Harem zu sichern. Geile Löwen töten die von einem Artgenossen gezeugten Jungen, um sich mit der Mutter rasch paaren zu können. Wohl nicht zufällig kennt auch die menschliche Geschichte das Phänomen, dass mächtige Männer sich gern viele Frauen sichern, manchmal gesellschaftlich so organisiert, dass die Frauen anderen Männern vorenthalten werden. Die werden dann zum Beispiel in den Krieg geschickt. Bereits das Alte Testament berichtet solches von König David. Man könnte die These wagen, dass die Entstehung hierarchischer menschlicher Gesellschaften nicht nur auf dem Streben nach totem Besitz, sondern eben nach Verfügungsgewalt über Lebendiges basiert, ausgehend vielleicht vom Fortpflanzungsmotiv. Schließlich sind wir Menschen in Körper, Geist und Seele Kinder des Tierreichs, auch wenn wir eine eigene kreative Entwicklungsgeschichte haben, sei es als Art, sei es individuell. Diese Art von Macht ist es, die perspektivisch mit Blick auf genossenschaftliche friedliche Gesellschaften zu überwinden wäre.

Kampagnenpolitik

Oft gibt es im politischen Leben Kampagnen zu einem bestimmten Thema. Manchmal sind sie kurzlebig, manchmal fast chronisch über Jahrzehnte. Manchmal führen sie zum Erfolg des jeweiligen Anliegens, manchmal nicht. In den 1950er Jahren gab es eine starke Bewegung gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, flankiert von einer Bewegung gegen die Nutzung der Atomkraft. Der Erfolg blieb bekanntlich aus. Eine andere Kampagne prägte über Jahrzehnte das öffentliche Leben: die für ausreichenden Lohn der Arbeiter und Angestellten und für andere soziale Errungenschaften sowie für eine betriebliche Mitbestimmung. Die SPD hat dieses Thema lange Zeit vertreten und Erfolge erzielt. Auch die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr wirkte eine Zeit lang wie eine Kampagne.

Politische Kampagnen sind notwendiger Bestandteil einer lebendigen Demokratie. Manche Themen werden zu Daueraufgaben, wie die soziale Gerechtigkeit, der Umweltschutz, die bürgerlichen Freiheiten, die Friedenspolitik und anderes. Sie stehen mal mehr, mal weniger im Mittelpunkt der Tagespolitik, dürfen aber niemals ganz von der Tagesordnung verschwinden. Bei anderen Themen fragt man sich, warum sie mal von bestimmten Akteuren stark in die Schlagzeilen gebracht werden und dann wieder verschwinden. Dazu schrieb der ehemalige Präsident der Neuen Zürcher Zeitung Dr. Hummler einmal: „Man muss sich deshalb immer fragen: Weshalb kommt jetzt gerade diese Information in dieser Form auf mich zu? Letztlich stecken immer Machtfragen dahinter.“ Manchmal werden Themen auch nur deshalb durch die Medien gejagt, damit von anderen Themen abgelenkt wird. Insofern kann auch bunter Pluralismus darüber hinwegtäuschen, dass vieles in dieselbe Richtung geht.

In der modernen Medienwelt, die sowohl in den Print- als auch in vielen visuellen und digitalen Medien in hohem Maß zentralisiert ist, ist die Kampagnenpolitik zu einem wichtigen Bestandteil der westlichen Demokratien geworden. Das geschieht nicht unbedingt immer zum Vorteil der Demokratie. Es fordert vom Bürger ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und eigener Recherche, wenn er nicht leichtgläubig hinter dieser oder jener Sau, die gerade durchs Dorf getrieben wird, gedanklich herlaufen will. Denn Kampagnen, so berechtigt sie zur öffentlichen Debatte gehören, sind oft nichts anderes als Propaganda für die eine oder gegen die andere Lobby. Da kann es tatsächlich auch inhaltlich gegeneinander gehen und muss nicht mit Lügen verbunden sein, aber vielleicht wird das Wichtigste verschwiegen oder falsch bewertet. Das gilt für die sogenannten „Mainstream“-Medien, aber auch für die hierzulande bunte Vielfalt alternativer Medien. Für den mündigen Bürger ist es heute nicht leichter als zu früheren Zeiten, einen klaren Überblick über die öffentlich relevanten Themen, ihren Wahrheitsgehalt und ihre Bedeutung zu gewinnen.

Ich will auf ein Kampagnenthema kurz eingehen, das es inzwischen zum Dauerthema geschafft. Es wird unter „Klimawandel“ genauer betrachtet.

die Hauptstraße muss nicht immer die richtige Richtung sein, auch wenn es mühsamer ist

aber auch ein Anti-Mainstream kann zum Mainstream werden, wenn man sich nur unter dessen Followern bewegt

In den 1970er Jahren kam das Thema Umweltschutz auf, zuerst vom FDP-Innenminister Genscher auf die Agenda gesetzt, später im Rahmen der Anti-Kernkraftbewegung von der neu gegründeten Partei Die Grünen intensiv und am Anfang beinahe als einziges Parteithema vertreten. Daraus hat sich seit etwa Anfang der 1990er Jahre eine Klimaschutzbewegung entwickelt, basierend auf dem Argument, dass der Mensch durch den Ausstoß von Treibhausgasen, vor allem von Kohlendioxyd, eine Klimaerwärmung verursache wie sie die Welt bisher noch nicht erlebt habe, sodass kurz- bis mittelfristig eine katastrophale Zerstörung der Lebensgrundlagen bevorstehe, bzw. bereits irreversibel stattfinde. Mit dieser These wurde eine langdauernde Kampagne entwickelt, mit dem Anspruch, nichts weniger als die Existenzbedingungen der Menschheit retten zu müssen. Diese Kampagne erfordert eine kritische Betrachtung.

Ihr erklärtes Ziel ist es, den anthropogenen Ausstoß von CO2 und anderen Treibhausgasen rapide zu drosseln. Zweifellos ist seit den 1950er Jahren der CO2-Gehalt in der Atmosphäre kontinuierlich gestiegen und etwa seit den 1980er Jahren auch die globale Mitteltemperatur, vor allem auf der Nordhalbkugel, allerdings nicht kontinuierlich. Ebenso zweifelsfrei hat es ähnliche und stärkere Temperatursprünge in der Klimageschichte der letzten Jahrhunderte, Jahrtausende und erst recht Jahrhunderttausende gegeben, und zwar sowohl hinsichtlich der Geschwindigkeiten als auch der Amplituden der Temperaturbewegungen (siehe Genauer betrachtet_Klimawandel). Das ist der Normalfall dieses Planeten und man muss sich eher wundern, wie diese kleine Kugel Erde im riesigen Weltall uns dennoch ziemlich stabile Lebensbedingungen ermöglicht. Was in der Klimakampagne als einmalig und menschengemacht behauptet wird, hat in historischen und prähistorischen Zeiten jedenfalls oft und manchmal mit stärkeren Ausschlägen stattgefunden – und zwar ohne den CO2-Anstieg wie heute. Damit soll dessen Einfluss nicht geleugnet, aber er sollte kritisch betrachtet und evtl. relativiert werden. Politische Aufgaben stellen sich dann anders dar. Und zwar anspruchsvoller!

Dieses Thema spreche ich deshalb als Kernthema der Demokratie an, weil politische Kampagnen, die mit nahezu apokalyptischen Prognosen auftreten, grundsätzlich Misstrauen verdienen. Es besteht die Gefahr, dass in einem solchen „Klima“ (gemeint ist hier der politische Diskurs!) keine sachliche Auseinandersetzung mehr möglich ist. Man habe keine Zeit mehr für Diskussionen, so hört man, weil eh alles klar sei und weil man jetzt handeln müsse. Für solche Diskursverweigerungen liefern die „Klimaschützer“ leider ausreichend Anschauungsmaterial. Jeder Leser weiß, dass ein öffentliches (oder auch privates) Infragestellen einer katastrophalen Wirkung von anthropogenen Treibhausgasen bestenfalls zu Kopfschütteln über den Ewiggestrigen führt, wenn nicht zu widersinnigen Schmähbegriffen wie Klimawandelleugner, Rechtsradikaler, etc. Kein Politiker kann sich heute in Talkshows, im Parlament und in der Regierung erlauben, die vorrangige politische Aufgabe der weltweiten CO2-Reduktion in Frage zu stellen. Es sei denn, er will nicht ernst genommen werden.

Manuel Geisser/ Imago

Dieses Foto ist nicht ganz untypisch für den Stil dieser Kampagne. Und für das intellektuelle Niveau mancher Teilnehmer. „Klimaleugner“? Das Wort Klima reicht schon, obwohl man eigentlich den Leugner des anthropogenen Klimawandels meint. Diese Polemik ist zwar keinen Kommentar wert, aber leider keine Ausnahme.

Wer sich mit dem Beispielthema Klimawandel beschäftigt und den Klimaaktivisten zuhört, weiß, dass viele der in dieser Kampagne aktiven Bürger mit ihren Argumenten schnell am Ende sind. Sie verweisen auf die wissenschaftlich unzweifelhaft festgestellten und vom IPCC publizierten Tatsachen, von denen sie aber oft nur die Bruchstücke kennen, die ins Kampagnenbild passen. Viele wissen nicht, dass das IPCC nicht selbst forscht, sondern nur sammelt, und zwar deutlich selektiv im Sinne der Kampagnenthese. Und dabei trotzdem auch stark widersprüchliche Aussagen dokumentiert. Sie wissen oft nicht einmal, dass Temperaturschwankungen auf (und wieder ab) wie in den letzten 150 Jahren in den letzten 8.000 Jahren ungefähr dreißigmal stattgefunden haben. Von den früheren Eiszeiten und zwischenliegend jahrtausendelang auch wärmeren Zeiten als heute ganz zu schweigen. Das gängige Narrativ unterstellt dagegen, dass die globale Temperatur natürlicherweise konstant sei oder sich gaaaaaanz langsam verändere, und dass erstmalig der Mensch sie so beschleunige wie das heute der Fall sei. Das ist schlicht falsch. Abgesehen davon haben wir vieles von der globalen Temperaturentwicklung noch nicht einmal verstanden (also auch nicht den genauen Anteil des Menschen) und müssen unsere Simulationsmodelle ständig nachjustieren, wenn die Wirklichkeit sich mal wieder nicht nach den Prognosen gerichtet hat.

Ich vertiefe das Thema dieser Stelle nicht weiter, sondern verweise auf den Beitrag Klimawandel unter „Genauer betrachtet“. Hier soll nur gewarnt werden, dass politische Kampagnen desto mehr Misstrauen und genaue Nachfragen verdienen, je intensiver sie ihre Thesen als alternativlos und indiskutabel präsentieren. Das ist in der Wissenschaft sowieso unzulässig und in diesem Fall ganz gewiss unzutreffend. Auf diese Weise ist kein demokratischer Staat zu machen. Nicht zufällig sympathisieren nicht wenige der Klimaaktivisten tendenziell mit diktatorischen Maßnahmen, denn anders sei die Welt ja nicht zu retten; man könne ja nicht warten, bis das alle verstanden haben…

Wenn aber der anthropogene Beitrag zur atmosphärischen Erwärmung zwar vorhanden, aber auch natürliche Faktoren – vielleicht sogar maßgeblich – mitverantwortlich wären, dann ergäben sich andere politische Schwerpunkte:

1. menschenverursachte Treibhausgase reduzieren, ja, aber nicht „ohne Rücksicht auf Verluste“. Man denke zum Beispiel an die Problematik der Rohstoffgewinnung für Elektrobatterien oder an die Umwandlung von Agrarflächen in Energiegewinnungsflächen und die damit zusammenhängenden sozialen Probleme, an die Tendenzen zur Ent-Industrialisierung, obwohl technische Möglichkeiten zur CO2-Speicherung und zur CO2-Entnahme aus der Atmosphäre entwickelt wurden und werden…etc.

2. sich in gewissem Umfang auf eine jedenfalls mittelfristige globale Erwärmung einstellen. Das ist die wirklich wichtige und anspruchsvolle und von Vielen noch kaum verstandene Aufgabe – für die ganze Menschheit!

Tatsächlich sind die Folgen der aktuellen Erwärmung vielleicht wirklich gravierender als bei früheren Klimawandeln – aber nicht weil der aktuelle Klimawandel so viel auffälliger ist als die früheren (die ohne CO2-Anstieg stattfanden), sondern weil die Menschheit um ein Vielfaches gewachsen und damit anfälliger geworden ist. Auch wenn wir heute in mancher Hinsicht viel mobiler sind als frühere Populationen, so unternehmen wir doch keine Völkerwanderungen mehr, wie es unsere Vorfahren tun mussten, wenn es mal wieder ziemlich rasch kälter (!) oder feuchter oder trockener wurde. Wir wollen heute auch nicht mehr fatalistisch in Kauf nehmen, dass ganze Kulturen einschließlich vieler Menschen mal wieder einem Klimawandel zum Opfer fallen, wie das früher gelegentlich geschehen ist.

Kurz: unsere Aufgabe bestünde dann auch darin, globale Strategien zu entwickeln, wie sich eine auf 8 Milliarden angewachsene und technisch hochentwickelte Menschheit solidarisch auf eine globale Erwärmung einstellen, sie vielleicht sogar nutzen kann. Wir dürfen dabei ins Auge fassen, dass eine Erwärmung auch Chancen bietet, wenn man an die großen Landmassen auf der Nordhalbkugel denkt. Allerdings nur, wenn alle Beteiligten bereit sind, Großmachtpolitik durch Friedenspolitik und internationale Kooperation zu ersetzen. Diese Zielsetzung ist ja nicht nur unter Klimagesichtspunkten sowieso immer gefordert, sondern im Angesicht des Klimawandels noch mehr. Dafür muss eine internationale Kooperation unter Nutzung aller Ressourcen – einschließlich der menschlichen Intelligenz! – auf den Weg gebracht werden. Eine politische Kampagne, die sich nur auf den Aspekt der Treibhausgas-Reduktion beschränkt, wird der viel komplexeren Aufgabenstellung des Erhalts und der Weiterentwicklung der Zivilisationen jedenfalls nicht gerecht.

Als kritischer Bürger muss man bei politischen Kampagnen, vor allem wenn sie so massiv und langdauernd gesponsert werden, immer fragen: Cui bono? Siehe dazu das Zitat oben des NZZ-Präsidenten. Hier also: Wer hat warum und seit wann ein Interesse daran, dass fossile Energieträger nicht weiter verwendet werden, dass die Elektrifizierung massiv ausgebaut wird etc.? Das gehört zwar nicht mehr zur sachlichen Frage des Klimageschehens, aber zur Frage der politischen Motive derer, die eine politische Kampagne starten und über lange Zeit am Leben erhalten. Anmerkungen dazu auch unter „Genauer betrachtet _ Klimawandel _ IPCC„, ansonsten: Ein lohnendes Thema für künftige Dissertationen…

Bildung

Es ist nicht besonders originell, auf eine gute Bildung als wichtige Voraussetzung für Demokratie hinzuweisen. Aber da es zunehmend Stimmen und Meinungen gibt, die einem sehr individualistischen Freiheitsbegriff anhängen, so als sei Demokratie nur ein Ort der persönlichen Selbstbestimmung, soll hier an ein paar Selbstverständlichkeiten erinnert werden, die bei manch einem in Vergessenheit geraten sind. Ein Ausgangspunkt dieser Vergesslichkeit mag die antiautoritäre Bewegung gewesen sein; einige ihrer Protagonisten haben einen erfolgreichen, d.h. folgenreichen Marsch durch die Institutionen angetreten. Deren erziehungskritischen und Werte relativierenden Ideen wurden später aufgegriffen und mit anderen Motiven kombiniert, seien es ökonomische Motive zur Kosteneinsparung, seien es ideologische Motive diverser Herkunft, über die hier nicht spekuliert wird.

Die Schule…

In Schulreformen taucht seit längerem immer wieder eine Proklamation für „selbstbestimmtes Lernen“ auf, zu dem die Schüler von den Lehrern ermuntert werden sollen. Wer könnte in einer Demokratie etwas gegen Selbstbestimmung haben? Man solle den Schülern die Freiheit lassen, sich mit dem zu beschäftigen, wozu sie sich selbst entscheiden und als Lehrer nur aus dem Hintergrund Hilfestellung geben; und auch das möglichst nur, wenn man gefragt wird. In dieser Deutlichkeit wird das sicher nicht flächendeckend praktiziert, weil viele Lehrer merken, dass es nicht funktioniert, bzw. kaum zu Lernerfolgen führt, die für viele Lehrer doch noch ein Ziel sind. Aber die zugrunde liegende Idee ist im Rahmen von Schulreformen weit verbreitet (worden) und hat bei Lehrern zur Verunsicherung ihrer Führungs- und Vorbildfunktion geführt. Auch der „Erziehungs“stil vieler junger Eltern wurde dadurch beeinflusst und hat zur Unsicherheit geführt, ob Erziehung nicht fast schon eine Art Vergewaltigung sei.

Wohlwollend könnte man dazu sagen, dass hier eine Verwechslung vorliegt. Die Idee des selbstbestimmten Lernens ist schließlich das Ziel jeder Schulbildung, wissen wir doch, dass lebenslanges Lernen zur menschlichen Natur gehört, erst recht und insbesondere in unseren komplexen und dynamischen Zivilisationen. Aber eben das Ziel, nicht der Anfang. Lernt ein Nichtschwimmer schwimmen, wenn man ihn ins Wasser stößt, wo er nicht stehen kann? Einer von zehn überlebt es vielleicht. Nicht viel anders „funktioniert“ das zu früh angesetzte selbstbestimmte Lernen. Vor allem führt es wohl dazu, dass die so geforderten Kinder gar nicht erst „ins Wasser springen“, also vieles vermeiden, was sich ihnen nicht locker von selbst erschließt. Sie lernen es dann nicht in dem optimalen biografischen Fenster, das die Natur ihnen gegeben hat; manche lernen es vielleicht später mit viel größerem Aufwand. Allerdings liegt diese wohlwollend unterstellte Verwechslung höchstens bei unerfahrenen Lehrern vor; die Väter entsprechender Schulreformen wissen schon, was sie tun, warum auch immer sie es tun, siehe hierzu Literatur in der Bibliothek.

in der Jugend lernt man leichter und nachhaltiger

Ist es wirklich nicht wichtig, weder individuell noch gesellschaftlich, ob die junge Generation sich möglichst vieles von dem Wissen und Können vergangener Generationen aneignet oder zumindest davon hört, um sich dann später an der einen oder anderen Stelle vertiefen zu können? Kinder und Jugendliche wollen lernen, aber sie brauchen aktive Anregung und Anleitung, um überhaupt einen groben Überblick über die gedanklichen und praktischen Leistungen der Menschheit zu erhalten, um Kenntnisse zu erwerben und die Fähigkeiten zu entwickeln, die sie selbst und ihre Mitmenschen bereichern werden. Bis zum Erwachsenenalter können die Anleitungen vielleicht schrittweise abnehmen – in dem Maß wie die Kenntnisse und Fähigkeiten wachsen. Aber auch Erwachsene brauchen noch Anleitung, wenn sie ein neues Software-Programm, eine neue Fremdsprache etc. lernen wollen. Wenn die Bildungsarbeit pädagogisch und didaktisch gut gewesen ist, ist auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung im Lernen und im Leben generell gewachsen. Ziel erreicht. Was am schulischen Ende dieses Prozesses steht, nannte man früher zu Recht: Reifeprüfung. Das beinhaltete übrigens nicht nur Wissen und Können, um selbstbestimmt weiterzukommen, sondern auch ein Mindestmaß an ethischer Grundhaltung, die nur im menschlichen Miteinander gelehrt und gelernt werden kann, sei es in der Schule im Klassenzimmer, sei es vor allem natürlich im Elternhaus, in der Familie, und auch durch die Mitwirkung der jeweiligen Nachbarschaft.

Das Prinzip aufbauenden Lernens gilt ja nicht nur individuell, sondern für die Zivilisationsentwicklung überhaupt. Wir stehen auf den Schultern vorangegangener Generationen – aber wir stehen dort nur dann sicher und können selbständig ein paar Schritte weitergehen, wenn wir es wissen und gedanklich nachvollzogen haben. Wer seine kulturelle und zivilisatorische Umgebung, also die zweite Haut von uns Menschen, in ihrem Sinn nicht anders wahrnimmt als beliebige Kieselsteine am Wegesrand, der versteht nicht, wie und warum sie geschaffen wurde, kann sie nicht schätzen, nicht richtig mit ihr umgehen, sie nicht weiterentwickeln, er weiß nicht ansatzweise, an welchem Platz in der Geschichte und damit auch in der Gegenwart er steht.

Bei den Naturwissenschaften und den technischen Fächern, auch bei Fremdsprachen, leuchtet die Selbstverständlichkeit des schrittweisen Vorankommens mit anleitender Hilfe Vielen noch ein – deshalb werden diese Fächer im selbstbestimmten Zeitgeist von Vielen ja eher gemieden. Denn sie sind mühsam… Aber in Fächern wie Geschichte, Gesellschaftswissenschaften, Erdkunde und nicht zuletzt: Menschenkunde gilt dasselbe Prinzip; dagegen zu verstoßen fällt leider nur nicht so auf, weil man meint, es ginge hier um Meinungen, die man sich fast voraussetzungslos bilden kann. Es ist ein großes Unglück, dass dieser Irrtum auch noch dadurch bekräftigt wurde, dass diese angeblich „weichen“ Fächer in den Schulen in den Hintergrund gedrängt und nahezu abgeschafft oder durch mehr oder weniger politisch gefärbte Projektarbeiten ersetzt wurden. Eine Referenz an das Selbstbestimmungsrecht der Schüler ist das allerdings kaum, sondern eher eine Referenz an vermeintliche wirtschaftliche Effektivität – zu der die in den Hintergrund gedrängten Fächer angeblich wenig beitragen. Weiterer Vorteil: man spart Lehrerstellen ein. Das überzeugt die Bildungsökonomen, während die Bildungsideologen ohnehin wenig Wert auf die aus ihrer Sicht veraltete Geschichts- und Gesellschaftslehre legen, die die jungen Leute an der Entfaltung ihrer Kreativität hindere… Ökonomische und ideologische Motive gehen auch dort Hand in Hand, wo man Angriffe auf die wertvollen Schularten fährt, die für Menschen mit verschiedenen Behinderungen gezielt geschaffen worden sind. Sie sollen ideologisch wegen „Diskriminierung“ abgewickelt werden, was ökonomisch auch wieder kurzfristige Einsparungen bringt. Solche Inklusion behindert allerdings das humane Ziel einer Integration von behinderten Menschen, indem die gezielten spezifischen Hilfen nur noch sehr eingeschränkt wirksam werden können, siehe auch hierzu die Bibliothek.

Sicherlich müssen Lehrinhalte immer wieder in Frage gestellt werden dürfen und sicher muss immer wieder Platz geschaffen werden für Neues. Ein bekanntes Beispiel ist das Thema Digitalisierung. Aber die Digitalisierungs-Diskussion begegnet uns fast nur als Debatte über die kostenträchtige Ausrüstung der Schulen mit Hard- und Software, verbunden mit der falschen Vorstellung, der Unterricht an Schulen selbst ließe sich über weite Strecken digitalisieren – zulasten des Lehrpersonals. Gefragt wäre aber vielmehr Unterricht zum Thema Digitalisierung. Unterricht, bei dem entsprechende Medien beispielhaft eingesetzt und in ihren Möglichkeiten und Grenzen (!) kennengelernt werden können – aber nicht um den persönlichen Unterricht zu ersetzen.

Die Schulreformen der letzten Jahrzehnte sind hier nicht das Thema, jedenfalls nicht, soweit es dabei um die endlos öffentlich diskutierten Fragen ging, welche Schulform die richtige sei, zweigliedrig, dreigliedrig, einheitlich, zehn oder zwölf oder dreizehn Jahre? Das ist alles zweitrangig. Entscheidend ist, ob es ein breites Fächerangebot für möglichst viele Schüler gibt und ob die Lehrpersonen die Schüler für die fachlichen Inhalte begeistern können und didaktische Fähigkeiten einbringen. Und ob sie in der Lage sind, das Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft und die Freude daran zu vermitteln. Dazu braucht es vor allem in den jüngeren Jahrgängen persönliche Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler sowie Schülern untereinander und natürlich psychologisches Verständnis bei der Lehrperson. Selbst in der Universität sind persönliche Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden noch unersetzlich. Auch im Studium steht die Spezialisierung auf bestimmte Fächer nicht am Anfang.

erklären und verstehen in persönlicher Beziehung

Warum klingen solche Hinweise für manche Ohren heute altmodisch? Wahrscheinlich, weil sie es sind. Das spricht nicht gegen sie. Denn welchen Nutzen hat die heute vielerorts angesagte Einengung eines Fächerkanons, die schleichende Entpersönlichung der Lernumgebung, die Orientierung an den Launen derer, die noch nicht wissen, worüber sie entscheiden? Manchmal hört man kritische Stimmen in der Richtung, dass unser Bildungs- in ein Ausbildungssystem, streng nach dem Bedarf „der Wirtschaft“ umgebaut werde. Das trifft es nicht. Denn auch „die Wirtschaft“ kann mit den so „ausgebildeten“ Schülerinnen und Schülern immer weniger anfangen. Diese landen dann eher in einer Wirtschaft am Tresen statt an der Werkbank oder im Labor. Was hier zusammenkommt, ist eine Mischung aus damals schon verkehrten ideologischen Ansätzen der 1960er Jahre, Unverständnis bildungspolitischer Entscheidungsträger, kurzfristigem Kostendenken und last but not least massiver Lobbyarbeit von Medienverlagen und supranationalen Organisationen – mit Motiven, die hier nicht weiter zu vertiefen sind, siehe hierzu Hinweise in der Bibliothek.

…der Demokratie

Zurück zum Thema Demokratie. Wie sollen Bürger eines demokratischen Staates ihre im Lauf der Geschichte erarbeiteten Institutionen und Regeln angemessen nutzen oder gar verbessern können, wenn sie nicht von früh auf aktiv damit vertraut gemacht werden? Ohne zunächst praktische Einübung, später auch theoretische Erörterung und Reflexion demokratischer Umgangsformen und Überlegungen für alle jungen Menschen besteht die Gefahr, dass die ursprünglich demokratischen Institutionen allmählich von Personen besetzt werden, die undeklarierte Lobbyvertreter für Partikularinteressen sind. Sie lenken das Staatsschiff in ihnen passende Richtungen und erzählen dazu Geschichten, dass dies dem allgemeinen Wohlstand und Volkswillen diene und im Interesse aller sei. Die Stunde der Propaganda schlägt vor allem dann, wenn das „Publikum“, also die Bürger, kaum noch ein mehr als oberflächliches Verständnis von ihrer eigenen Verantwortung und ihren eigenen Möglichkeiten haben oder diese aus Bequemlichkeit, aus fehlendem Grundverständnis, wegen zu großer Entfernung zwischen Bürger und Entscheidungsgremien etc. längst aufgegeben oder nie ernsthaft für sich in Anspruch genommen haben.

Natürlich muss nicht jeder Bürger ein Diplom (sorry: einen Master) in Politologie oder Geschichte erwerben, bevor er mitreden darf. Wahrscheinlich wäre das noch nicht einmal hilfreich im hier angesprochenen Sinn. Natürlich darf und soll jeder erwachsene Bürger alle seine Bürgerrechte im politischen Bereich wahrnehmen, auch wenn er keinen Schulabschluss hat oder trotz Schulabschluss nichts Gescheites zum Thema Demokratie oder zu irgendetwas anderem gelernt hat. Es gibt keine Zugangsbeschränkungen zur Wahrnehmung der Bürgerrechte, weder aufgrund von Besitz oder Geschlecht, wie das früher der Fall war, noch aufgrund von Bildung. Aber wäre es nicht wünschenswert, wenn wir ein Schulsystem hätten, egal ob ein- oder mehrgliedrig, in dem möglichst viele heranwachsende Bürger darüber aufgeklärt werden, in welchem politischen System sie leben, wie es entstanden ist, wodurch es sich von früheren Systemen in diesem Land oder von Systemen in anderen Ländern unterscheidet – und dass es dazu da ist, von jedem Bürger für seine gemeinschaftsrelevanten Interessen genutzt und weiter gestaltet zu werden?

Und wäre es nicht wünschenswert, wenn die praktischen Möglichkeiten zur demokratischen Einflussnahme möglichst früh nicht nur gewusst, sondern auch erlebt werden? indem zum Beispiel Jugendliche erleben und erklärt bekommen, wie ihre Eltern in ihrer Gemeinde wichtige Entscheidungen beeinflussen (sofern das System das überhaupt zulässt)? oder indem sie erleben, wie Menschen in ihrer Umgebung über eine landes- oder bundesweite Abstimmungsvorlage sachlich diskutieren (sofern das System das überhaupt zulässt)? oder sei es nur, indem sie die Reden von Politikern einmal mit deren Parteiprogrammen oder ihren Taten vergleichen… Entscheidend ist auch hier, ebenso wie in der Schule, dass die Erfahreneren die Jüngeren für etwas begeistern, was das Gemeinwesen betrifft. Demokratie von klein auf zu erleben setzt dezentrale Entscheidungsstrukturen voraus. Dezentralität ist nicht nur selbst notwendiger Bestandteil der Demokratie, sondern begünstigt auch die Erziehung zur Demokratie, trägt also zu ihrer Selbsterhaltung bei. Wo all das nicht lebt, geben die Bürger selbst die demokratischen Errungenschaften der Vorfahren auf. Denn die Institutionen funktionieren nicht automatisch, sondern nur durch menschliches Handeln, durch das Handeln der möglichst gebildeten Bürger.

Man könnte sogar sagen: die Bildung der jungen Menschen zu verantwortungsvollen, gemeinschaftlich orientierten Bürgern ist für das demokratische Leben wichtiger als demokratisch gut ausgewogene Institutionen. Denn auch in schlecht organisierten Gemeinwesen können kluge Menschen mit großem Einfluss auf öffentliche Entscheidungen viel Gutes bewirken, während in institutionell perfekt organisierten Systemen viel Unheil angerichtet werden kann, wenn die „falschen“ Leute auf wichtige Positionen kommen. Das ist kein Plädoyer für die Forderung von Platon, dass Philosophen Könige und/oder Könige Philosophen werden sollten. Sondern ein Plädoyer dafür, dass gut gebildete Bürger dafür sorgen müssen, dass ethisch gut aufgestellte Politiker mit der Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben betraut werden.

Freiheit

Freiheit ist ein einfaches schwieriges Wort. Einst sang Joan Baez zur Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung: Freedom is a word I really use without thinking und sie war sich mit ihrem Publikum wahrscheinlich darüber einig, was gemeint war in diesem rassistischen Polizeistaat.

.... fliegen, träumen, nicht herumkommandiert werden….

Ganz so einfach ist es aber nicht immer und überall mit diesem Wort, jedenfalls wenn man sich über Demokratie Gedanken macht. In einer Diktatur ist es zunächst einfacher: da geht es um ein Mindestmaß an persönlicher Freiheit im Privatleben, für das man dort, oft unter Lebensgefahr, kämpfen muss. Aber sobald das und ein gewisses Wahlrecht und vielleicht sogar ein gewisser Wohlstand erreicht sind, wird es schwieriger mit dem Freiheitsbegriff. Es entsteht dann die Tendenz, im Interesse weiterer persönlicher Freiheiten die Gemeinschaftsaufgaben in den Hintergrund zu stellen. Es geht einem ja gut; warum soll man sich um Andere kümmern? Ein mehr oder weniger gutes Funktionieren der komplexen gesellschaftlichen und staatlichen Aufgaben lässt die persönliche Verantwortung jedes einzelnen dafür verblassen. Umgekehrt kann ein schlechtes Funktionieren einer Gemeinschaft oder des Staates, auch zu Apathie und Resignation führen. Oder im Fall diktatorischer Strukturen richtig gefährlich werden, falls man sich allein oder in einer Oppositionsgruppe zum Handeln entschließt.

Was soll überhaupt gesetzlich geregelt werden? und wenn ja, wie?

Aber bleiben wir beim guten Funktionieren und relativen Wohlstand: Manch einer verwischt dann die Grenze zwischen Freiheit und Rücksichtslosigkeit oder will nicht verstehen, dass Freiheit Respekt für andere und Verantwortung mindestens für sich selbst beinhalten muss. Da können Verwöhnungserscheinungen auftreten, aus denen nur noch Forderungen an andere, aber nicht mehr an sich selbst folgen. Oder: ungezügelte Gewerbefreiheit der einen stößt schnell an die persönlichen Freiheiten der anderen; generell ist schließlich die Freiheit des Stärkeren ein Problem für die Freiheit des Schwächeren, sei es im persönlichen, im gesellschaftlichen, im internationalen Bereich. Deshalb bemüht sich die Menschheit ja um zivilisierte Rechtsetzung unter der Maßgabe von Gerechtigkeit. Die Gratwanderung besteht immer darin, dem Einzelnen die Freiheit (und damit auch die Verantwortung) zu lassen, sein eigenes Leben zu gestalten, ihn auch vor Übergriffen Stärkerer zu schützen, sei es im zivilen, sei es im öffentlichen Bereich – zugleich aber auch Bedingungen für allgemeinen Wohlstand zu schaffen und umzusetzen, was wiederum Forderungen an den Einzelnen stellt.

Manche Rechtssysteme betonen mehr die eine oder mehr die andere Seite, was wir dann liberal oder autoritär nennen (wobei autoritäre Systeme meist durchaus nicht den allgemeinen Wohlstand im Auge haben). Aber wenn es ins Detail geht, sind die Bewertungen dann doch sehr verschieden. Während vielen US-Amerikanern – um nur ein Beispiel zu nennen – eine verbindliche Kranken- oder Rentenversicherung schon als Bestandteil einer sozialistischen Diktatur gilt, empfinden viele europäische Bürger das Fehlen solcher Versicherungen als menschenverachtende Wildwest-Mentalität.

Tatsächlich sind solche unterschiedlichen Bewertungen ein Argument für dezentrale Entscheidungshoheiten und gegen einen Weltstaat, denn warum sollen verschiedenen Sichtweisen nicht ihre Berechtigung haben? Zumindest solange sie nicht offensichtlich gegen fundamentale Menschenrechte verstoßen, die an anderer Stelle genauer betrachtet werden. Dieselben US-Amerikaner, die so großen Wert auf ihre Freiheit legen, haben übrigens oft kein Problem damit, Völker auf anderen Kontinenten (in der Vergangenheit sogar auf dem „eigenen“ Kontinent“!) mit dem american way of life beglücken zu wollen, ohne auch nur eine Ahnung von deren Kultur zu haben oder sie ernsthaft zur Kenntnis nehmen zu wollen. Die Welt ist voller Widersprüche.

Die werden hier nicht aufgelöst. Hier kann nur etwas hilflos daran appelliert werden, dass die eigene Freiheit immer Respekt vor der Freiheit des anderen in sich tragen muss, im Freundes- und Kollegenkreis ebenso wie im öffentlichen Leben und im internationalen Verkehr. Und dass persönliche Freiheit nicht von der Verantwortung für das Funktionieren des Gemeinwesens entbindet. Man könnte auch noch an den Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant erinnern. Damit ist dann auch das Naturrecht angesprochen, das uns seit der antiken Philosophie und der christlichen Tradition durch die europäische Geistesgeschichte begleitet. Die Idee des Naturrechts ist ein Gegenpol zu einem positivistischen Rechtsbegriff, den man – stark vereinfacht – damit charakterisieren könnte, dass er keinen Unterschied zwischen dem in Gesetzen kodifizierten Recht und einer übergeordneten Gerechtigkeit kennt. Für den Positivisten sind Recht und Gesetz mehr oder weniger identisch, für den Naturrechtler nicht. Eine übergeordnete Gerechtigkeit, oder eben das Naturrecht, bewertet die von Menschen formulierten Gesetze danach, ob sie gerecht sind. Aber wo ist die „Gerechtigkeit“ definiert? In unseren Herzen? Empfinden da alle Menschen dasselbe als gerecht? Wieviel von diesem Gefühl ist kulturell geprägt, wieviel „echt“ natürlich? Schwierige Fragen. Und doch gibt es ein tiefes Empfinden dafür, unabhängig von historisch „zufälligen“ Gesetzen, was gerecht sei.

Für eine einfache Antwort könnte man auf das Matthäus Evangelium verweisen (7, 12): „Alles nun, was ihr wollt, das Euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ Dieser Satz ist nicht derselbe wie der im Volksmund negativ formulierte „Was du nicht willst, das man dir tu…“. Denn hier ist es eben positiv formuliert; man soll etwas tun, nicht etwas unterlassen. Weitere Vertiefungen zur Frage des Naturrechts auch als Bestandteil einer ethisch geprägten Freiheit finden sich in der Bibliothek.

Hilfe …

Sozialstaat

Es ist uns selbstverständlich geworden, dass der Staat Infrastrukturen, Versorgungseinrichtungen für die Allgemeinheit und auch für den bedürftigen Einzelnen schafft und betreibt. Dafür zahlen wir Steuern und erwarten Gegenleistungen. In alten Zeiten war der Staat, oder besser gesagt: die politische Herrschaft dazu da, den Bauern militärischen Schutz gegen Feinde zu sichern und vielleicht ein Minimum an öffentlicher Infrastruktur zu schaffen, zumindest theoretisch; dafür wurden Naturalien und allerlei zivile und militärische Leistungen verlangt. Die Zeiten haben sich, Gott und unseren Vorfahren sei Dank, geändert. Eine Fürsorgefunktion hat sich im Mittelalter allmählich institutionalisiert, aber zunächst nicht durch den Staat, sondern vor allem durch kirchliche Initiativen, teilweise auch im Rahmen von Berufsgenossenschaften. Der Staat hat diese Aufgaben erst spät und schrittweise übernommen; das begann ungefähr zu der Zeit als mein Großvater gerade Lesen und Schreiben gelernt hat…

Heute ist uns die Fürsorgefunktion des Staates so selbstverständlich, dass die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ernsthaft diskutiert wird, so als wollte man das Wort „Väterchen Staat“ wörtlich nehmen und die Bürger zu Kindern degradieren. Tatsächlich verbirgt sich dahinter wohl nichts anderes als eine Art „Rationalisierung“ von Sozialstaatsmaßnahmen, die ursprünglich als echte Versicherungsleistungen für entsprechende Beitragszahler konzipiert waren. Dieses auf Leistung und Gegenleistung basierende System wird mit dem Konzept eines Grundeinkommens praktisch aufgegeben, bzw. so „organisiert“, dass man nicht mehr groß unterscheiden muss, wer wann was oder wieviel in eine entsprechende Kasse eingezahlt, also sich an den Leistungen beteiligt hat. Man würde damit einen „Bodensatz“ von Menschen schaffen, bei denen es egal ist, ob sie arbeiten oder nicht, man muss sich nicht mehr um sie kümmern und sie mucken nicht auf, da sie ja versorgt sind. Als „bedingungsloses“ Grundeinkommen würde das sogar Nicht-Bedürftigen zustehen, was nur als absurd bezeichnet werden kann. Das wäre das Ende einer sinnvollen sozialen Funktion des Staates und hat mit menschlicher Würde wenig zu tun. Ob damit auf Dauer eine leistungsfähige Wirtschaft funktioniert und das System finanzierbar ist, bleibt unabhängig davon sowieso offen.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, was eigentlich die Aufgeben des Staates sind und was nicht. Es gibt für diese Frage unter verschiedenen historischen und geografischen Bedingungen immer verschiedene Antworten – auch dann, wenn die betroffenen Menschen es demokratisch entscheiden können. Denn es gibt da kein klares richtig oder falsch. Aber eines sollte schon klar sein: es kann nicht darum gehen, dem einzelnen erwachsenen gesunden Bürger die Verantwortung dafür zu nehmen, dass er sich und ggf. seine Familie selbst zu ernähren hat. Dem würde ein völlig falsches Bild von der Natur und der Würde des Menschen zugrunde liegen. Das ist genauso selbstverständlich wie die umgekehrte Tatsache, dass die Allgemeinheit im Fall von Krankheit und Alter und unverschuldeter Not beizustehen hat. Und ja: auch bei selbstverschuldeter Not, dann aber mit differenzierten Konsequenzen… Auch das entspricht der Natur und der Würde des Menschen.

… zur Selbsthilfe

Staatliche Aufgabe ist es, für solche Funktionen den rechtlichen Rahmen zu setzen und im Übrigen die Gemeinschaftsaufgaben zu organisieren, die nicht als gewinnorientierte Wirtschaftsleistungen funktionieren dürfen, sondern jedem Bürger zur Verfügung stehen sollen. Demokratisch konsequent wäre es, darüber abzustimmen, welche Aufgaben es überhaupt sind, die als gemeinschaftliche (genossenschaftliche!) Solidarleistungen organisiert sein sollen. Hier nur einige Vorschläge, die sich für unser Land aus unserer Geschichte heraus ergeben: Eine militärische Funktion zur Landesverteidigung mag als älteste Aufgabe an erster Stelle genannt sein; ebenso selbstverständlich ist das Justizwesen eine staatliche Hoheitsaufgabe. Die Funktionen Gesundheitswesen, Altersvorsorge, Schul- und Hochschulbildung, Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen sowie die Versorgungseinrichtungen von Energie, Wasser etc., um nur die wichtigsten zu nennen, die nicht als gewinnorientierte Angebote, sondern als Grundleistungen für alle Bürger anzubieten sind. Das heißt nicht, dass diese Einrichtungen als „kostenlos“ zu nutzende Staatsbetriebe funktionieren müssen; es können auch Unternehmen oder Genossenschaften sein, die über freiwillige oder obligatorische Mitgliedschaften nur kostendeckend, nicht gewinnorientiert, zu wirtschaften haben und eine Grundversorgung sicherstellen, die bei Insolvenzgefahr fiskalisch zu unterstützen wäre. Unmittelbare Sozialleistungen an Bürger ohne Einkommen sollten danach gestaffelt sein, ob und wie lange jemand entsprechende Beiträge eingezahlt und damit Ansprüche erworben hat. Eine Grundversorgung auch an „anspruchslose“ Personen sollte an Forderungen und Förderungen in Richtung selbständiger Einkünfte gebunden sein.

Wie die Regelungen im Einzelnen aussehen, kann und muss national verschieden sein, denn die Vorstellung von staatlichen Aufgaben und damit von konkreter Demokratie unterliegt auch kulturellen Traditionen und damit verschiedenen Bewertungen. Bei der Gesundheitsvorsorge gibt es in verschiedenen Demokratien eine Bandbreite von rein freiwilliger Versicherung (USA), über Pflichtversicherung (Deutschland) bis zur „kostenlosen“ (also steuerfinanzierten) staatlichen Fürsorge für alle (United Kingdom). Es gibt für die konkreten Ausgestaltungen keine menschenrechtliche Detailgenauigkeit, sondern nur demokratische Entscheidungen. Diese Entscheidungen müssen dann aber auch den Namen „demokratisch“ verdienen, also mehrheitlich entschieden und gewollt sein.