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06.10.2025 Und folgt Dir keiner, geh allein

Das ist der Titel des jüngsten Buches von Jürgen Todenhöfer. Meine Frau empfahl mir die Lektüre mit den Worten: Das ist wirklich beeindruckend, aber vielleicht wird es Dir ein wenig angeberisch vorkommen. Nach der Lektüre kann ich sagen: Beeindruckend ja, angeberisch nein. Der Mann hat ein gesundes Selbstbewusstsein, aber gemessen an dem, was er geleistet hat, könnte er um Größenordnungen „angeberischer“ auftreten.

Beruflich erfolgreich – menschlich engagiert

Als promovierter Jurist war er kurz als Richter tätig, wurde 1972 für die CDU in den Bundestag gewählt, dem er bis 1990 angehörte. Dort arbeitete er als Sprecher der Unionsparteien für Entwicklungs- und Rüstungskontrollpolitik. Von 1987 bis 2008 war er stellvertretender Vorsitzender des Burda Medienkonzerns. Bereits damals und bis heute bereiste er die ganze Welt, vor allem Asien, und setzt sich mit großem finanziellem und persönlichem Engagement für Frieden und menschliche Hilfe ein. 2020 hat er eine eigene Partei „Team Todenhöfer“ gegründet und damit in den Wahlkämpfen 2021 und 2025 auf seine politischen und humanistischen Ziele aufmerksam gemacht.

Das jüngste Buch kann man als eine Lebensbeschreibung lesen, in der zugleich die Weltgeschichte der letzten 60 Jahre Revue passiert. Ich kann hier nur einige Mosaiksteine daraus vorstellen. Schon als Student in Paris war er nicht mit dem Krieg einverstanden, den Frankreich in Algerien führte. Er wollte genauer wissen, worum es ging – und reiste mit wenig Geld nach Algerien, um nicht nur mit Franzosen, sondern auch mit Freiheitskämpfern sprechen zu können. Dieses Prinzip hat er sein Leben lang beibehalten: die andere Seite nicht nur „hören“, sondern kennenlernen, mit ihnen reden. Und wenn es, wie meist, um kriegerische Konfrontation oder andere Gewalttätigkeiten ging: sie zu überzeugen versuchen, dass Gewaltfreiheit und Respekt vor dem vermeintlichen (?) Gegner der bessere Weg für Vereinbarungen ist.

Weltweit vernetzt, mit den Großen dieser Welt…

Sein stark ausgeprägtes Talent zur Kommunikation, zum Gespräch mit Freund und Feind, hat er als Bundestagsabgeordneter intensiv einsetzen und schulen können. Er sprach nicht nur als Politiker, sondern später als Journalist im eigenen „Auftrag“ mit allen politischen Führern, die er erreichen konnte, auch wenn ihm das von verschiedenen Seiten viel Kritik eingebracht hat: Präsident Pinochet, König Feisal, Ramon Castro, Indira Gandhi, Zia-ul-Haq, Michail Gorbatschow, Richard Perle, Präsident Asad, Anführer des Islamischen Staates, um nur einige zu nennen. Er war auch in Deutschland intensiv vernetzt und persönlich gut bekannt mit Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Angela Merkel, Hans-Dietrich Genscher usw. Bei all diesen Menschen unterscheidet er zwischen persönlichem Eindruck und politischer Bewertung. Seine pazifistische und humanistische Einstellung erlaubt es ihm, mit allen das Gespräch zu suchen, gerade auch mit scheinbaren oder wirklichen Feinden, ohne sich ihnen anzubiedern.

Im Gegenteil. Der mehrtägige private Besuch bei Pinochet, dessen Regime er klar ablehnte, hatte den Zweck, Erleichterungen für politische Gefangene zu erwirken. In Teheran hat er die Gelegenheit, vor Studenten zu sprechen, dafür genutzt, das Mullah-Regime zu mehr Freiheiten aufzufordern. Das hat ihm sogar Respekt bei den höflich Kritisierten verschafft. Selbst bei seinem kompliziert zu organisierenden „Besuch“ beim IS im Irak 2015 hat er keinen Hehl aus seiner Anti-IS-Haltung gemacht, um selbst bei denen, die ihn bei dieser Reise beinahe umgebracht hätten, für weniger Gewalt zu werben.

…und mit den Kleinen

Damit sind wir beim Thema persönlicher Einsatz. Wer sich selbst ein Bild machen will von den Ungerechtigkeiten, wer etwas wissen und bewirken will, muss sich oft „die Hände schmutzig machen“, um es vornehm auszudrücken. Tagelange Märsche oder gefährliche Reisen in klapprigen Gefährten auf unbekannten Wegen mit Führern, denen man wohl oder übel und nicht immer zu Recht vertrauen musste, sei es in Afghanistan, im Irak, im Jemen, im Ostkongo, in Syrien, in Gaza (hier 2015: 2025 verbietet Israel die Einreise), im Iran und in Bangladesch, wo er unter Beschuss widerrechtlich die Grenze nach Myanmar überschreitet, um sich von verbrannten Dörfern der Rohingya zu überzeugen… Fehlende Angst und sportliches Training helfen Todenhöfer bei diesen Einsätzen, die er oft unter Lebensgefahr und mit körperlichen Verletzungen bis ins hohe Alter unternimmt.

Sein wichtigstes Engagement ist die persönliche Hilfe für Menschen, denen er begegnet. Halbtote und verkrüppelte Kriegsopfer, vor allem Kinder, für die er medizinische Hilfe organisiert, die es vor Ort nicht gibt; im Coltan-Tagebau Ostkongos schuftende Mädchen, für die er ihren für unmöglich gehaltenen Traum: eine Schulbildung, organisiert; mit solchen Projekten gibt er immer wieder den Opfern der internationalen Politik eine Lebensperspektive; für solche Aktivitäten lässt er auch mal den Wahlkampf seiner neu gegründeten Partei links liegen. Er hat Waisenhäuser in Afghanistan und andere Hilfsprojekte gegründet und unterstützt sie – mit persönlichen finanziellen Mitteln. Er bezahlt seine Reisen mit eigenen Mitteln, um unabhängig zu bleiben, auch wenn manch einer versucht, ihn einzuladen. Seine berufliche Karriere, auch die Einnahmen aus seinen Büchern, haben ihn wohlhabend gemacht und er sieht es als seine Pflicht, den Reichtum mit den Hilfsbedürftigen zu teilen.

Mitten im Leben – für das Leben

Helmut Kohl wird an einer Stelle zitiert mit den Worten: „Der Toddenhöfer, das ist gar kein Politiker. Das ist ein Idealist.“ Damit konnte ich leben, sagt Todenhöfer dazu. Man muss allerdings ergänzen: er ist kein weltfremder Idealist. Er weiß sehr gut, wie die Welt funktioniert, auch wenn man nicht alle seine politischen Einschätzungen teilen muss. Er hat in der großen Politik und im Geschäftsleben selbst verantwortliche Funktionen lange erfolgreich ausgeübt. Er hat eine Familie gegründet, für die er zwar oft zu wenig Zeit hatte; aber auch seine beiden Töchter engagieren sich sozial und sein Sohn begleitet ihn oft als Fotograf auf den gefährlichen Reisen. Todenhöfer stand immer mitten im Leben. Und er bleibt dabei: 1. Es gibt keine anständigen Kriege. 2. Rassismus verstößt gegen alle Regeln unserer Zivilisation. 3. Reichtum verpflichtet. Danach lebt er selbst.

Respekt Herr Todenhöfer, und herzlichen Dank für Ihr Vorbild. Sie haben Leben gerettet und Menschen Lebensmut gegeben. Sie haben gezeigt, dass man handeln kann, wo man ohnmächtig zu sein scheint. Sie haben sogar gezeigt, dass selbst Politiker in Machtpositionen menschlich ansprechbar sind.

21.09.2025 Demokratische Reife

Immer wieder erleben wir, dass in Frankreich mehr oder weniger spontan große Demonstrations- und Streikbewegungen stattfinden. Manche finden das chaotisch und freuen sich über zivilisiertere Umgangsformen hierzulande. Andere freuen sich über den lebendigen Widerstandsgeist dort und beklagen die Schlafmützigkeit hier. Wenn man dann noch die eher noch weniger demonstrations- und streikbereite Schweiz hinzunimmt und sich vergegenwärtigt, dass das Wohlstandsgefälle von der Schweiz über Deutschland bis nach Frankreich abnimmt, könnte man auf folgende Idee kommen:

Müssen die tendenziell chaotischen öffentlichen Unmutsäußerungen vielleicht dort stärker auftreten, wo es weniger institutionell-demokratische Kommunikations- und Entscheidungswege gibt? Frankreich ist stark zentralistisch-präsidial organisiert, die Schweiz dezentral-direktdemokratisch, Deutschland liegt dazwischen (siehe auch Button: Demokratie im Detail). Das muss keinen Automatismus im Blick auf spontane Bewegungen bedeuten, aber ganz zufällig ist es vielleicht auch nicht. Ein Gemeinwesen, welches differenzierte Regeln für politische Entscheidungen im dezentralen, „basisdemokratischen“ Sinn sein Eigen nennt, hat es nicht so nötig, undifferenziert Forderungen auf die Straße zu tragen, von denen man nicht so genau weiß, welcher Adressat sie eigentlich umsetzen muss. Außer man unterstellt eine nahezu allmächtige zentrale Entscheidungsinstanz. Dann ist man in der politischen Struktur aber nicht allzu weit von den Verhältnissen des französischen Ancien Regime vor 1789 entfernt. Muss man die demokratischen Entwicklungen, die seither vor allem anderswo stattgefunden haben, da nicht als Fortschritt zu mehr demokratischer Reife verstehen?

Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass spontane Protestbewegungen Ausdruck einer lebendigen politischen Willensäußerung sind, die anderswo in Folge der institutionell geregelten Strukturen nur in gedämpfter Form auftreten. Oder aus Bequemlichkeit fast ganz ausbleiben. Vielleicht sind sie auch gar nicht so notwendig, weil man mit der differenzierteren Demokratie sowieso schon mehr erreicht hat als in Zentralstaaten mit ungeregelten Willensäußerungen. Es bleibt eine spannende Frage, in welchem Verhältnis geregelte Entscheidungsstrukturen zu spontanen Willensäußerungen optimal austariert sind, bzw. wie letztere lebendig bleiben können, auch wenn erstere schon weit entwickelt sind.

04.09.2025 Neue Weltordnung

Immer wieder hört man aus der deutschen Friedensbewegung Apelle zum Ukrainekrieg mit Hinweisen, dass dieser Krieg vom Westen provoziert worden sei, ja, dass er recht genau den strategischen Plänen entspreche, die seit Jahrzehnten schon in den USA entwickelt wurden. Das mag so sein. Natürlich ist es richtig, den Westen zur Friedenspolitik aufzurufen. Was heißt das aber mit Blick auf den Kreml? Die Entscheidungsträger dort sind schließlich nicht nur Zuschauer; sie sind hinsichtlich ihrer „militärischen Spezialoperation“ und deren Vorgeschichte sogar Akteure, nicht nur Re-Akteure. Sind sie also CIA-Agenten, da sie das Spiel der US-Strategen mitspielen? Das wäre die denklogische Konsequenz, wenn man nur den Westen für den bestimmenden Player hält; aber das ist natürlich Unsinn. Oder waren die Entscheidungsträger im Kreml gegen ihren Willen gezwungen, auf Provokationen alternativlos mit Krieg zu reagieren? Wer so denkt (und das tun einige), hat sich schon dafür entschieden, dass Krieg ein zulässiges Mittel der Politik sei. Im vorliegenden Fall wäre es dann allerdings ein „Mitspielen“ nach den Regeln des Gegners.

Wer so denkt, muss die Herren im Kreml übrigens für ziemlich dumm halten. Und außerdem die Augen vor deren eigenen Erklärungen verschließen. Oder diese nur selektiv wahr- oder nicht ernst- nehmen. Seit mind. vier Jahren lassen die Kreml-Führer in ihren Reden keinen Zweifel daran, welche Ziele sie mit ihren Aktivitäten schon lange verfolgen. Die Verteidigung des Donbass, der ja kein Teil von Russland ist und dessen ukrainische Militäreinheiten mit russischer Rückendeckung selbst den bewaffneten Separatismus begonnen haben, ist höchstens ein Teil davon. Das größere Ziel ist die Eingliederung der ganzen Ukraine in den Einflussbereich Moskaus und die Leugnung ihrer staatlichen Existenzberechtigung. Das ist oft und deutlich genug gesagt worden; die zeitweise versuchten Ausweitungen des Krieges bis nach Kiew und in die Süd- und Westukraine lassen keinen Zweifel, dass dies nicht nur Worte sind.

Darüber hinaus stellt der Kreml die ganze „Operation“ in den Zusammenhang mit der Schaffung einer neuen multipolaren Weltordnung, die sich gegen die Vorherrschaft der imperialistischen und kulturell verkommenen westlichen Weltordnung positioniere. Die eingangs angesprochene politische Richtung hierzulande hat gegen diese globalen Zielsetzungen und gegen die damit verbundenen Taten kaum Einwände, eher im Gegenteil. Manche geben zwar Lippenbekenntnisse dazu ab, dass der Einmarsch in die Ukraine völkerrechtswidrig war, um dann aber zu betonen, dass die Ukraine historisch und kulturell ja wirklich keine Einheit sei, dass es dort Faschisten gäbe, dass Russland vom Westen provoziert wurde, dass Kiew gegen die Separatisten militärisch vorgegangen sei, dass es vor 2022 in der Ostukraine 14.000 Tote gegeben habe, dass man die Seele und das Sicherheitsbedürfnis Russlands verstehen müsse… und was belesenen Intellektuellen sonst noch einfällt, um ihre geopolitischen Vor-Entscheidungen argumentativ zu untermauern. Aber was ist mit den mehreren 100.000 Toten und Millionen Geflüchteten nach dem russischen Einmarsch 2022 und was mit der Seele und dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen in der Ukraine?

Wenn die neue multipolare Weltordnung derartige “Geburtswehen“ erfordert, dann ist von ihrer Zukunft kaum Besseres zu erwarten als von der alten imperialistischen Weltordnung. Der Völkerrechtsexperte Prof. Köchler hat auf einen Unterschied zwischen multipolarer und multilateraler Weltordnung aufmerksam gemacht: Multipolar heißt, dass es Pole, also Schwerpunkte gibt, in denen ein mächtigerer Staat eine gewisse Einflusshoheit über seine schwächeren Nachbarn oder Verbündeten hat. Und diese „notfalls“ auch durchsetzen darf. Multilateral heißt, dass alle Staaten sich als gleichberechtigt anerkennen und friedlich miteinander kooperieren. Nur das stimmt mit den Grundsätzen der UNO-Charta und mit demokratischen Werten überein. Wir sollten uns nur zum Multilateralismus bekennen – alternativlos gegen praktizierte Multipolaritäten, ob sie nun aus Nordwest oder Südost kommen. Nur das kann zu einer „neuen“ Weltordnung führen.

27.08.2025 Nationalist? Weltbürger? Oder was?

Nach dem Deutschen Nazireich hatten wir Deutschen lange Zeit ein schwieriges Verhältnis zu unserer Nation, unserem Vaterland…Die Begriffe waren vergiftet und sind es zum Teil bis heute. Ich erinnere mich, dass wir in jungen Jahren ein Problem damit hatten, wenn wir bei einem Ausflug nach Frankreich oder Italien ein D-Zeichen hinten an das Auto kleben sollten. Wir waren zwar eine Minderheit, aber noch 2006 empfanden es manche beängstigend oder empörend, dass anlässlich der Fußball-WM überall fröhlich Nationalfahnen geschwenkt wurden.

Als nach dem Fall der Berliner Mauer die Globalisierung voranschritt und die Europäische Union politisch ausgebaut wurde, bekam der Anti-Nationalismus eine andere Färbung. Er verließ sein linkes Außenseitertum und wurde zunehmend zur Staatsraison. Es mutierten Männer zu Vizekanzlern, die vom Straßenkämpfer zum europäischen Weltbürger wurden (Fischer) oder die mit „Deutschland“ ausdrücklich nichts anfangen konnten (Habeck). Der historisch geprägte Widerwillen gegen alles Nationale, vor allem das eigene, paarte sich mit der Forderung nach dem Abbau möglichst aller Grenzen. Dieses politische Etikett wurde wirkmächtig, weil es sich mit den wirtschaftlichen Interessen der international agierenden Industrie- und Finanzwelt traf (siehe die Beiträge zur EU auf dieser Website).

Dagegen formierte sich nun von der anderen Seite eine Opposition, die sich zunächst nur EU-kritisch definierte; man sah die Notwendigkeit von nationaler Souveränität für wirtschaftlichen Wohlstand und kulturelle Selbstbestimmung. Allerdings sammelten sich in dieser Richtung (AfD) bald auch rabiate Nationalisten, die lautstark gefährliche Naziideen und -parolen wieder aufleben ließen und dabei in ihren Reihen mehr oder weniger geduldet wurden/werden.

Wer den demokratischen Rechtsstaat als Maßstab nimmt, muss feststellen, dass auf beiden Seiten nicht weit genug gedacht wird. Die links-grün-großkapitalistische Ablehnung nationaler Souveränität, die sich bei manchen als ein verschwurbeltes „Weltbürgertum“ missversteht, mündet notwendig in einen Zentralismus, bei dem von Demokratie nicht viel übrigbleibt. Wer sich umgekehrt nationale Souveränität nur als abgeschotteten und tendenziell rassistischen Polizeistaat vorstellen kann, dem fehlt ebenfalls eine grundlegende Bildung, wenn auch in anderen Kapiteln der Gemeinschaftskunde.

Warum ist es so schwer, Demokratie als das zu verstehen und zu pflegen, was sie sein muss: Räume der Selbstbestimmung gleichberechtigter Bürger mit subsidiär aufgebauten und also territorial begrenzten Rechtssystemen, die über ihre jeweiligen Grenzen hinweg friedlich und respektvoll miteinander kooperieren? Eine nennenswerte politische Kraft, die dies überzeugend vertritt, ist nicht in Sichtweite. Im Gegenteil: die international gewachsene Aggressivität schlägt auf die Gesellschaft intern durch mit wachsender Respektlosigkeit, Polarisierung und Sehnsucht nach zentralistischer Führung. Das gilt in unterschiedlicher Färbung für regierungsnahe und für oppositionelle Strömungen. Dezentral-demokratische Ansichten überleben bestenfalls in mehr oder weniger privaten Räumen.

13.08.2025 Demokratische Hardware und Software

Viel ist vom Ende der Demokratie die Rede in letzter Zeit. Die einen sehen im „Rechtspopulismus“, der hierzulande und anderswo in Erscheinung tritt, diktatorische Züge, die so Gescholtenen sehen sich als die wahren Volksvertreter gegenüber einer dem elitären Lobbyismus erlegenen politischen Klasse. Beide Seiten haben unter anderem gute Argumente für ihre Sicht. Bevor man aber in den Ruf einstimmt, wir hätten keine Demokratie, keine Meinungsfreiheit mehr, oder stünden kurz vor einer faschistischen Machtübernahme, sollte man kühlen Kopf bewahren und ein Mindestmaß an historischer Bildung abrufen.

Wir haben sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern (vor allem des Westens!) institutionell demokratische Strukturen, die unterschiedlich und nirgends perfekt gestaltet sind, siehe hierzu der Button Demokratie im Detail. Man könnte diese Strukturen als eine demokratische Hardware bezeichnen. Sie sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern Errungenschaften vor verschiedenen historischen Hintergründen als Ergebnis politischer Kämpfe, weshalb sie auch von Staat zu Staat unterschiedlich unperfekt sind. Die Spannbreite reicht vom stark präsidial geprägten Frankreich über die ebenfalls präsidialen, aber auch föderalen USA und das ebenfalls föderale, aber nicht präsidiale Deutschland bis zur stark föderal und direktdemokratisch geprägten Schweiz. Leider erlauben diese Strukturen unterschiedlichen Interessengruppen, sie mehr oder weniger einseitig zu nutzen oder zu missbrauchen, sofern andere Interessengruppen das zulassen, obwohl die Strukturen selbst Widerstand erlauben würden.

Die Möglichkeit zum institutionell geregelten Widerstand könnte man – in einem hinkenden Vergleich – als eine Software-Aufgabe verstehen, weil dieselben Strukturen eben auch andere Nutzungen und Entscheidungen zulassen. Damit ist die Aktivität der Bürger angesprochen. Es ist zwar klar, dass „normale“ Bürger, die täglich arbeiten gehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, nicht so intensiv politisch aktiv sein können wie wirtschaftlich unabhängigere Personen und Interessengruppen. Es ist ein Grundsatzproblem jeder gerechten Gesellschaftsordnung, dass nicht alle Entscheidungen über die öffentlichen Angelegenheiten so unmittelbar und direkt vollzogen werden können wie das bei einer dörflichen oder kantonalen Volksabstimmung geschehen kann. Dieses Problem wird mindestens seit der Französischen Revolution theoretisch erörtert und praktisch probiert, zeitweise in Form blutiger Auseinandersetzungen. Aber auch wo es direktdemokratische Regelungen gibt, kann im politischen Alltag auf Delegation, Vertrauen und Kontrolle über entsprechende Institutionen nicht verzichtet werden.

Unsere Aufgabe kann hier und heute nur darin bestehen, unsere demokratische „Hardware“ richtig zu nutzen, d.h. uns selbst als Software vernünftig zu verhalten, und die „Hardware“ ggf. – auf demokratischem Weg – zu verbessern. Welches wäre sonst die Alternative? Die Institutionen ignorieren, weil die aktuellen Akteure nicht unsere Interessen vertreten? Verschiedene sehr aktive Minderheiten sind bereits dabei, ihre Interessen und Vorstellungen gegen demokratisch legitimierte Entscheidungsträger durchzusetzen. Sehr kleine Minderheiten üben dabei Gewalt aus, etwas größere Minderheiten schaffen sich neue Mittel, die außerhalb legitimierter Institutionen Einfluss zu nehmen versuchen: NGOs, Bürgerräte, etc., wenn sie nicht nur der Meinungsbildung, sondern der Interessendurchsetzung dienen sollen. Solche Aktivisten sind es, die gerne von einer nicht mehr vorhandenen Demokratie reden. Das ist eine wohlfeile Rechtfertigung für ihr eigenes minderheitsdiktiertes Vorgehen. Wenn Minderheiten sich anmaßen, die wahren Vertreter der Volksinteressen zu sein – und versuchen, außerhalb demokratischer „Hardware“ Machtmittel für sich zu bekommen, dann haben sie den Weg zur Diktatur eingeschlagen. Also: wir Bürger sind die „Software“, die die historisch erreichte demokratische „Hardware“ nutzen muss. Revolutionen mögen gegen Feudalstaaten und ungleiche Rechte angemessen sein, nicht gegen unsere Verfassung, auch wenn es manche – demokratisch vorzunehmende! – Änderungsgründe für das Grundgesetz gibt.

02.08.2025 Wissen ist Macht, Meinungen sind mächtiger

Aufklärerische Aktivitäten haben meist den Anspruch, Wissen und Bildung zu vermitteln. Nicht selten wird das nahezu gleichgesetzt, was allerdings ein Irrtum ist. Wissen ist für eine gute Bildung zwar hilfreich und in gewissem Umfang unersetzlich. Aber eine Anhäufung von Wissen führt nicht notwendig zu guter Bildung und gute Bildung im philosophischen Sinn von guter Lebensführung kommt sogar mit relativ wenig Wissen aus.

Denn für eine gute Lebensführung zählt vor allem das, was man neudeutsch etwas hölzern mit sozialer Kompetenz und altdeutsch etwas romantischer mit Herzensbildung bezeichnet hat. Wie solche Bildung in modernen Gesellschaften oder im politischen Raum praktisch werden kann – dafür sind Wissen und Neugier freilich nötig. Aber die folgenden Zeilen wollen in Erinnerung rufen, dass der Wissenserwerb auch eine missbräuchliche oder zumindest verwirrende Seite haben kann, wenn er weniger der Wahrheitsfindung, sondern mehr der Bestätigung vorgefasster Meinungen oder gar handfester Interessen dient. Jeder weiß das, aber es kann nicht schaden, es sich noch einmal in Erinnerung zu rufen. Im Zwischenruf vom 20.06.2025 wird dafür ein aktuelles Beispiel genannt.

Bei den aktuellen Kriegen äußern viele für die eine oder andere kriegführende Seite Verständnis, nicht mit Hurrageschrei wie das früher üblich war, sondern mit abwägenden Bedenken, die nach reiflicher Prüfung von Fakten zu dieser Bewertung führen müssten. Wer anders bewertet, dem wird mangelndes Wissen über die Vorgeschichten unterstellt und die „Aufklärung“ beschränkt sich darauf, bestimmte Fakten stets zu wiederholen. Solche Diskurse sind vor allem unter mehr oder weniger intellektuellen Bürgern beliebt. Diese „Narrative“ sind meistens wahr und immer unvollständig. Nicht nur, weil unser Wissen sowieso immer begrenzt ist, sondern auch weil es gern selektiv gesammelt wird; manche Fakten werden als unbedeutend beiseitegestellt, andere stark betont, und schließlich werden dieselben Taten in einem Fall mit Verständnis, im anderen Fall mit Empörung bewertet. Das geschieht auf allen Seiten im politischen Spektrum. Auf der Seite „Genauer betrachtet _ Nationalismus“ ist dazu etwas Grundsätzlicheres mit Bezug auf George Orwell ausgeführt.

Was bei solchen Auseinandersetzungen kaum eine Rolle spielt, ist z.B. die Frage, ob Gewalt und Krieg jemals Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sein dürfen. Damit ist nicht existenzielle Notwehr gemeint, die in den aktuellen Kriegen auf keiner Seite vorgelegen hat, nein, auch nicht auf Seiten der Hamas, deren Anschlag vom 07.10.23 voraussehbar weitaus größeren Terrorismus der Israelis zur Folge hatte, als er zuvor schon herrschte. Sind Gewaltakte, außer bei unmittelbarer Notwehr, wirklich alternativlos oder muss man ihnen mit Verständnis begegnen? Das führt zurück zum Thema soziale Kompetenz, Herzensbildung, oder, politisch gesprochen: Völkerrecht. Oft wird mit viel juristischem „Wissen“ von jeder kriegführenden Seite „begründet“, dass man selbst ein völkerrechtlich legitimierter Verteidiger sei, jedenfalls ein „präventiver“… Eine „Herzensbildung“ ist in solchen Reden meist nicht wahrzunehmen. Ohne eine Patentlösung präsentieren zu wollen, verweise ich auf die Seite „Genauer betrachtet _ Gewaltfreier Widerstand und ziviler Ungehorsam“ – ein schwieriges Thema!

Es geht mir nicht (nur) um die angesprochenen Beispiele, die sich aktuell gerade aufdrängen, sondern um die Geisteshaltung generell. Beim Streitthema Maßnahmen während der Covid-Epidemie konzentrieren sich die einen auf die Aufzählung von einigen tausend Fällen Impfschäden bei zig Millionen Impfungen, die anderen auf die potenziellen Schäden, die vermutlich ohne Impfung entstanden wären. Beide führen (unter anderem) gute Argumente auf, aber beide Seiten neigen dazu, die guten Argumente der anderen Seite gering zu schätzen und deren Taten in Bausch und Bogen abzulehnen.

Oder: es gibt im politischen Raum schon lange starke Strömungen, die einer Zentralisierung politischer Entscheidungsebenen das Wort reden. Und entsprechende Taten folgen lassen. Und es gibt eher schwache föderalistische Gegenbewegungen. Auch hier werden gern Wissensbestandteile benutzt, um die eigene Seite als die einzig sinnvolle darzustellen. Aber die Frage, die eigentlich Basis für alles sein sollte: wie funktioniert eine moderne Demokratie? wird kaum gestellt, geschweige denn beantwortet.

Oder: Die verbreitete Armut in afrikanischen Ländern wird je nach gefühlter Zugehörigkeit zu politischen Lagern dem europäischen Kolonialismus oder den korrupten politischen Führern in Afrika angelastet. Für beides gibt es gute Argumente. Aber die politischen Lager wollen mit ihrer halbwegs wissensbasierten Meinung jeweils andere politische Entscheidungen durchsetzen und kommen so kaum zu sachgerechten Einschätzungen. Und Taten.

Oder: Als Linker verweigert man jeder gemeinsamen Abstimmung mit der AfD eine Absage, auch wenn man in der Sache übereinstimmen würde; als Konservativer verweigert man umgekehrt die Zusammenarbeit mit den Linken … Du merkst, lieber Leser, worauf es hinausläuft. Wir müssen unsere politisch-ideologisch meinungsbasierten Vor-Entscheidungen in Frage stellen, statt sie gezielt zum Kampfinstrument zu machen, indem wir sie nach Intellektuellenart mit Halbwissen untermauern. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Gezielt eingesetztes Teil-Wissen ist die Macht, seine Meinungen und Interessen durchzusetzen. Tatsächlich sollten im politischen Raum die Meinungen und Interessen aber nur Grundsätzliches wie Frieden, Demokratie, Völkerrecht reflektieren und dafür Wissen sammeln und einsetzen.

22.07.2025 Künstliche Intelligenz – ein Ebenbild des Menschen?

„Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn,“ (1. Mose 1,27). Daran fühlt man sich erinnert, wenn man den Protagonisten der künstlichen Intelligenz zuhört. Der Mensch schafft die KI sich zum Bilde, sich zum Bilde schafft er sie. Können wir damit glauben, dass wir die Herrschaft über die KI behalten werden, so wie in der Religion Gott die Herrschaft über den Menschen selbstverständlich behält? Allerdings behaupten Fachleute gerne, dass von der KI Dinge zu erwarten sind, von der sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt. Manche Religions-Skeptiker denken ja auch, dass Gott sich nicht hat träumen lassen, wozu sein Geschöpf Mensch fähig sein würde…

Künstliche Gedächtnisse, also Datenbanken, auf welche unzählige Software-Programme zugreifen, sind dem Gedächtnis eines Individuums bekanntlich schon lange überlegen. Die Programmierer kommen auch bei dem Versuch zügig voran, die Software immer lernfähiger und bald vielleicht sogar empfindungsfähig zu machen. Mit „Empfindungsfähigkeit“ kann natürlich nur eine Programmierung gemeint sein, die auf Basis psychologischer, philosophischer, religiöser Lehrmeinungen digitale Entscheidungsprozesse veranlasst. Nun gibt es aber eine beängstigende Vielfalt von Lehrmeinungen über den Menschen – welche wählt ein Programmierer, um „Empfindungen“ zu implantieren und Entscheidungen damit steuern zu lassen?

Das ist ein weites Feld. Aber was wäre das Naheliegendste? Zum Beispiel ein individueller Überlebenswille – den hat schließlich jeder Mensch, bzw. jedes Lebewesen. Wie würde das in einem entsprechend programmierten Roboter funktionieren? Er könnte sich vielleicht gegen weitere Umprogrammierungen durch den Menschen zur Wehr setzten. Oder ein so programmierter Roboter schließt sich mit seinesgleichen zu sozialen Verbänden zusammen. Vielleicht sichert er sich auch als Einzelgänger sein Überleben. Das alles hängt vom Menschenbild des Programmierers ab. Ob der Roboter, falls man ihm aufgetragen hat, Freunde zu finden, uns Menschen ggf. zu seinesgleichen zählt oder ob er uns als Feinde wahrnimmt? ob die Roboter dann eigene Verbände bilden…? Fragen über Fragen.

An dieser Stelle lohnt es sich, den Erfinder des Begriffes „Roboter“ in Erinnerung zu rufen: den tschechischen Schriftsteller Karel Capek. Er hat 1936 eine politisch-utopische Satire veröffentlicht, die erstaunlich aktuell ist: Der Krieg mit den Molchen. Eine kurze Zusammenfassung:

In der Nähe von Sumatra entdeckt die Besatzung eines Kolonialschiffes eine Art intelligenter Molche, die sich zum Perlenfischen, Dammbauen und Ähnlichem abrichten lassen; als Gegenleistung bekommen sie Messer, um sich gegen Haifische zu wehren. Die Menschen ziehen ein großes Perlengeschäft mit ihnen auf, zu dem die Molche zunächst in Gefangenschaft gehalten werden. Dort lernen sie aber die Sprache der Menschen und ihre Gewohnheiten und kommen aufgrund ihrer Intelligenz in die Lage, auch andere Dienste zu tun: die verfeindeten Staaten der Menschen stellen sie zuerst zu Armeen für ihre „menschlichen“ Zwecke zusammen. Bald gewinnen die Molche aufgrund ihrer großen Zahl und ihrer Intelligenz die Oberhand und obwohl sie ursprünglich friedfertige Wesen sind, beginnen sie dank der „Schulung“ durch die Menschen, die Erde für ihre Zwecke umzugestalten. Sie tragen Land ab und schaffen neue Wasser- und Küstengebiete, um ihren eigenen Lebensraum zu erweitern. Durch diese Interessengegensätze kommt es schließlich zum Krieg zwischen den Menschen und den Molchen, aber auch unter den Molchen selbst, bei denen zwei unterschiedliche Reiche entstehen. Diese Molchreiche werden zwar als Satire auf die 1930er Jahre beschrieben; Capek macht mit seiner Geschichte aber auch eine tiefere Aussage, die an die Geschichte der Pandora-Büchse erinnert.

Ein Vergleich zwischen den Molchen und der KI hinkt sicherlich, wie jeder Vergleich. Es ist dennoch erstaunlich, wie ein weitsichtiger Schriftsteller, ein technisch interessierter promovierter Philosoph, eine Geschichte sehr anschaulich erzählen konnte, in der sich eine scheinbar minderwertige, aber harmlos-dienstbare Klasse von Lebewesen durch Nachahmen der (zunächst) intelligenteren, aber gewinnsüchtigen Klasse von Lebewesen zu deren Herren aufschwingt, aggressiv wird, und mit einem potenzierten Egoismus die alte Welt zerstört, bzw. für ihre eigenen Zwecke umbaut.

Wir stellen uns gerne vor, dass die KI unser Diener ist und vieles effektiver, besser, schneller machen kann. Solange die KI und die von ihr gesteuerten Werkzeuge unsere Diener bleiben, mag das für viele Vorgänge ein Gewinn sein. Da die technischen Möglichkeiten vorhanden sind, gibt es ohnehin keinen Weg mehr zurück in eine Vergangenheit ohne KI. Aber welche Zukunft erwartet uns? Die Vorspiegelung fiktiver Fakten ist schon heute kaum von realen Fakten zu unterscheiden. Zur Zeit mögen diese Fakes noch von überlegenen Menschen gesteuert sein – schlimm genug für das mitgesteuerte Publikum! Aber wenn wir die KI „menschlicher“ machen, was ja das Ziel der Software-Entwickler ist, und ihr nicht nur Lernfähigkeit, sondern auch ein Empfinden für den eigenen Vorteil oder wofür auch immer zu implantieren in der Lage sein werden – was dann? Dann bleiben nicht einmal die Programmierer die Herren ihrer Schöpfungen. Goethes Zauberlehrling lässt grüßen.

Die Programmierung zur Lernfähigkeit und die unendlichen Datenbanken machen ja nicht nur die KI-Molche unberechenbar – sondern indem wir geistige Arbeit abgeben, machen wir uns selbst dümmer. Es gibt bereits Studien vom Massachusetts Institut of Technologie und von der Universität von Pennsylvania (NZZ 09.07.2025), die bestätigen, dass Menschen, wenn sie geistige Arbeit an KI-Programme abgeben, in ihrer eigenen kritischen Denk- und Urteilsfähigkeit verarmen (können), bzw. diese überhaupt nur vermindert entwickeln. Der wachsenden künstlichen Intelligenz steht demnach eine schwindende natürliche gegenüber…

Nie war es so wichtig wie heute, dass jeder von uns sich der angedeuteten Gefahren bewusst bleibt und auf die Bildung seines eigenen natürlichen Verstandes den größten Wert legt.

06.07.2025 Geteiltes Deutschland

Zur Zeit wird ernsthaft über ein Verbot der AfD diskutiert – das ist im Bundestag die stärkste Oppositionspartei, die in Umfragen aktuell von fast einem Viertel der Wahlberechtigten gewählt werden würde. Kann man so in einer Demokratie miteinander umgehen? In den „neuen Bundesländern“, also der Ex-DDR, ist die AfD überall stärkste Partei geworden. Das zeigt deutlich, dass Deutschland auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch oder wieder (?) ein geteiltes Land ist. Warum? Für diese Frage eine Antwort zu suchen und Schlüsse daraus zu ziehen, wäre einer demokratischen Kultur würdig. Im Folgenden wird vor dem Hintergrund meiner eigenen deutsch-deutschen Biografie versucht, einer Antwort näherzukommen.

Aufbruchstimmung nach dem Krieg
In den 1950er Jahren gab es in beiden deutschen Staaten eine Aufbruchstimmung, im Westen eine
wirtschaftliche, zunehmend von der US-Kultur geprägt, im Osten eine ideologische für den Aufbau
des Sozialismus. Im Westen gab es manche Bedenken gegen die Amerikanisierung, die aber bald vom
„Wirtschaftswunder“ überlagert wurden. Die „Bedenken“ im Osten führten zu massenhafter
Auswanderung – bis 1961 die Grenzen geschlossen wurden. Die Wirtschaft im Osten ging langsamer
voran, weil große Teile von noch erhaltener Industrie in die Sowjetunion als Entschädigung
abtransportiert wurden. Hinzu kam die Abwanderung größerer Teile der Bevölkerung, vor allem im
Mittelstand; wer nicht am Aufbau des Sozialismus teilnehmen wollte, hatte den Westen als
Alternative. Und der sozialistische Neuaufbau ging mit diktatorischen Maßnahmen und
Freiheitsbeschränkungen einher, was für manche Teile der Bevölkerung zwar auch Vorteile bot. Aber auch aus
solchen Gründen entwickelte sich der materielle Wohlstand im Osten langsamer als im Westen.
Individueller Alleingang – gegenseitige Hilfe
Zugleich stand das schnellere „Wirtschaftswunder“ des Westens stets vor Augen, durch Radio (DLF),
später durch Fernsehen, auch durch Verwandtschaftskontakte. Es gab nach dem Mauerbau
Briefkontakte und viele Paketsendungen, mit denen diverse Mängel der DDR-Wirtschaft ausgeglichen
wurden – sie blieben dadurch zugleich aber immer auch präsent! Der Osten, das war die ärmere
Verwandtschaft; so wurde das von beiden Seiten mehr oder weniger empfunden, wenn auch damals
schon viele DDR-Bürger sich mehr „Normalität“, Anerkennung, Augenhöhe wünschten. Es gab kaum
existenzielle Not, aber auch keinen Reichtum, vor allem gab es kaum eine Perspektive, durch persönlichen Einsatz
zu mehr individuellem Wohlstand und Freiheit zu kommen. So entstanden Praktiken gegenseitiger
Hilfe, während im Westen der individuelle Alleingang erfolgversprechender erschien. Ironischerweise
passt die gegenseitige Hilfe zwar gut zum Gedanken des Sozialismus, aber hier war es trotzdem eine DDR-
Gegenkultur, eine Reaktion auf die Mängel des offiziellen Sozialismus. Vor diesem Hintergrund
entstand später die oppositionelle Bürgerbewegung, die eine bessere DDR, aber keinen Anschluss an
die BRD wollte. Man wollte seinen alltäglich geübten „Sozialismus“ auf staatlicher Ebene
weiterentwickeln, der aber nicht mit der SED, sondern gegen sie funktionierte. Die Bürgerrechtler
wollten die Erziehungsdiktatur loswerden, ohne die westliche Rücksichtslosigkeit zu bekommen.
Trotzdem zählte die Warenwelt des Westens und die Aussicht auf Freiheit im individuellen Leben
inklusive Reisemöglichkeiten für die meisten sicher stärker als alle politischen und ideologischen
Momente. Man glaubte nicht kritiklos alles, was man als Oberfläche vom „goldenen Westen“ sehen
konnte, aber man war doch fasziniert davon. Das wurde nach dem Mauerfall deutlich, als quasi über
Nacht die DDR-Produkte in den ohnehin halbleeren Regalen liegen blieben, von der Spreewaldgurke
bis zu Trabant und Wartburg. Ich erinnere mich, dass DDR-Bürger kurz nach dem Mauerfall ein DDR
Produkt geradezu trotzig als Erinnerung bewahren wollten – die F6, die Standard-DDR-Zigarette. Aber
alles andere…? Erst mit größerem Abstand, als Erwartungen enttäuscht wurden, erinnerte man sich
stärker an gute Seiten der DDR und blendete die schlechten Seiten aus.
Die DDR – ein fremdes Land
Um die bis heute dauernde Spaltung zu verstehen, muss man sich auch erinnern, wie sich die
Westbürger auf den Osten bezogen. Die Pflege verwandtschaftlicher Beziehungen hat im Lauf der
Jahre bei vielen abgenommen. Wo sie weiterlebte, blieb die Ungleichheit in wirtschaftlicher und
freiheitlicher Hinsicht auf beiden Seiten zwar bewusst; aber viele DDR-Bürger hatten sich eingerichtet
und lebten mit den Vorteilen, die ihr Staat für ein sicheres Leben bot. Auch wer kein überzeugter
Sozialist war, legte zunehmend Wert auf Augenhöhe bei der Wahrnehmung durch den Westen.
Im Westen hatte der größte Teil der Bevölkerung von der DDR fast keine Vorstellung. Man kannte
Italien, Spanien, Griechenland, die halbe Welt, aber die DDR war fast so fremd wie Nordkorea. Außer
bei einer kleinen politisch links stehenden Minderheit beschränkte sich das „Wissen“ darauf, dass es
da eine Diktatur gibt, deren Bürger auch gern im Westen leben würden, die aber eingesperrt sind. Mit
diesem nicht einmal halben Wissen begrüßten die Westbürger nach dem Mauerfall 1989 die
Ostbürger zwar großzügig, interessierten sich aber weiterhin kaum für deren Biografien und
Erfahrungen und Vorstellungen. Als klar wurde, dass der Aufbau Ost „unser“ Geld kostet und die
DDR-Bürger in unsere Sozial- und Rentensysteme einsteigen, für die sie nie eingezahlt hatten, war bei
vielen die Willkommenskultur vorbei. Diese „neuen“ Deutschen wurden bald wie undankbare
Eindringlinge wahrgenommen. Was diese umgekehrt wahrgenommen haben und nicht erfreut waren.
Die BRD – ein respektloses Land
Viele DDR-Bürger waren ihrerseits enttäuscht, weil die BRD-Wirtschaft die DDR-Wirtschaft
weitgehend verdrängt hat, was aber trotz neuer Autobahnen und Telefonanschlüssen vielerorts eben
nicht „blühende Landschaften“, sondern „Entwicklungsländer“ zur Folge hatte, von einigen Hotspots
abgesehen. Die Gründe waren zwar vielfältig: wenig international konkurrenzfähige Wirtschaft,
Zerschlagung durch die Treuhand, fehlende Käufer für die DDR-Produkte – sowohl in der Ex-DDR
selbst als auch im zerfallenden Ostblock, Abwanderung vieler, vor allem jüngerer Menschen. Aber
angelastet wurde die rasche Umstrukturierung fast ausschließlich den Aktivitäten des Westens.
Das ist zwar ein großer Teil der Wahrheit; die enttäuschte Reaktion basiert aber auch auf der
eingeübten Haltung, dass der Staat sowieso für alles verantwortlich ist. Das war die SED-Realität,
„Väterchen Staat“ ist zuständig, die Partei hat immer recht – trotz vieler schöner DDR-Witze darüber
war das eigene Denken nicht frei von der eigenen Ohnmachtsüberzeugung, wenn etwas nicht klappt.
Adressat für enttäuschte Erwartungen ist also der Staat, heute der westlich geprägte. Tatsächlich sind
Politiker (besonders nach Merkels Abgang!) und Wirtschaftsführer vor allem westliches Personal, was
diese Sichtweise bestätigt und ebenfalls Anlass für Kränkungserlebnisse war und ist. Was am Ende vor allem
zählt: Die ostdeutsche Welt, die ganze Lebensweise, ist schnell und sehr gründlich verändert worden
und die Bürger, die eben noch ihre Diktatur beseitigt hatten, konnten – trotz nun vorhandenem
Wahlrecht – wenig Einfluss auf die Art der Veränderung nehmen. Das zählt für die politische
Stimmung mehr als wirtschaftliche Nachteile, denen ganz offensichtlich auch viele Vorteile
gegenüberstehen. Der Mensch lebt eben nicht vom Brot allein.
Widerstand
Die Eigenaktivität konzentrierte sich nach einiger Zeit deshalb auf politische Oppositionsparteien, vor
allem seit jemand zum Kanzler gewählt wurde, der aufgrund seiner Vergangenheit als Musterknabe
des Kapitalismus gesehen werden kann. Man will nicht mehr, nicht schon wieder, die arme
Verwandtschaft sein, die nur Objekt, nicht Subjekt des Geschehens ist. Die einen wählen links, denn
sie wollten ja schon immer einen besseren Sozialismus haben, der mit der „Wiedervereinigung“ leider
begraben wurde; die anderen rechts, obwohl diese Partei zunächst eine West-Partei war, aber eine,
die – unter anderem – gute Argumente hat und die im Westen ausgegrenzt wird: damit kann man sich
identifizieren.
Den nationalistisch extremen Rand nimmt man in Kauf. Der repräsentiert zwar nur eine Minderheit, aber
ähnliches Gedankengut war auch zu DDR-Zeiten nicht unbekannt: Vietnamesen waren in der DDR
quasi ghettoisiert; es hat einen nahezu rassistischen Polen-Hass gegeben; die chilenischen Flüchtlinge
nach dem Militärputsch 1973 waren vielleicht bei den Funktionären, aber nie in der DDR-Gesellschaft
integriert; etc. Die DDR war eine sehr deutsche Gesellschaft. Manche Demagogen rufen nun eine alte
Skepsis gegen „Überfremdung“ wieder auf und treffen auf offene Ohren; aber zu daraus folgender
Gewalttätigkeit ist nur eine kleine Minderheit bereit (schlimm genug!), nicht die große Mehrheit.
Perspektivisch interessant ist immerhin: die linke wie die rechte Opposition schätzen das
Gemeinschaftliche hoch ein, betonen dessen Wert und knüpfen damit an vieles an, was noch aus
DDR-Zeiten in Erinnerung oder lebendig geblieben ist. In der DDR gab es sowohl eine offiziell
verordnete als auch eine oppositionelle Gemeinschaftlichkeit – das manifestiert sich heute als
Oppositionen in die verschiedenen politischen Richtungen, die untereinander zum Teil einigermaßen
verfeindet sind; für manche tritt dieser Gegensatz aber auch in den Hintergrund und schließt Wechsel
von der einen zur anderen Seite nicht aus.
Ausblick
Eine gefühlte Wiedervereinigung von Ost und West und auch von den auseinanderstrebenden
Richtungen wird nur gelingen, wenn der Westen die Erfahrungen und Erwartungen des Ostens ernst
nimmt und in sein öffentliches Leben integriert. Das könnte ein Gewinn für alle sein. Und der Osten?
Hier sollten politische Perspektiven vielleicht etwas weniger aus den verschiedenen deutschen
Vergangenheiten herausgesucht werden. Aussichtsreicher wäre es für alle Himmels- und für alle politischen Richtungen,
wenn für die Probleme der aktuellen Gegenwart in einer sich stets ändernden Welt demokratische,
also immer auch kompromissfähige Lösungen auf Basis von echtem Meinungsaustausch zwischen
allen Seiten gesucht werden.

20.06.2025 Präventive Verteidigung – wer darf das?

Wir hören von unserem Kanzler, dass Israel die Drecksarbeit für uns macht, indem es den Iran angreift. Denn schließlich sei der ja irgendwann in der Lage, Atomwaffen zu produzieren, er habe das Existenzrecht Israels schon immer negiert und aktive Feinde Israels militärisch unterstützt. Der Kanzler hat ein wenig Kritik für seine Wortwahl, aber kaum für den Kern seiner Aussage erhalten. Zumindest in den Medien wird das „präventive Verteidigungsrecht“ Israels breit unterstützt, obwohl diese „Verteidigung“ offensichtlich nicht nur militärische Ziele, sondern beliebige zivile Ziele mitten in der Hauptstadt trifft  und einen politischen Regime-Change bezweckt.

Dieselben Politiker und Medien verurteilen scharf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Hat hier nicht ebenso eine politische und militärische Aufrüstung der Nachbarn – und zwar der unmittelbaren Nachbarn – stattgefunden, verbunden mit aggressiver Propaganda gegen Russland und westlicher Kündigung von Abrüstungsverträgen? Müsste mit derselben Logik also nicht auch Russland ein „präventives Verteidigungsrecht“ zugestanden werden?

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums werden dieselben Dinge genau umgekehrt bewertet. Hier wird Russland selbstverständlich das präventive Verteidigungsrecht gegen die Ukraine /gegen die NATO insgesamt zugestanden, während es Israel im konkreten Fall abgesprochen wird. Ja, zweifellos sind beide Fälle verschieden. Und beide haben ihre „Vorgeschichten“, die aber nur so weit als Argument ausgebreitet werden, wie sie jeweils ins eigene (Vor-)Urteil passen:

Das eine Beispiel: Die Regierung in Kiew hat Autonomiebestrebungen im Donbass unterdrückt und bekämpft und die NATO hat sich nach Osten erweitert. Stimmt. Aber weder die Ukraine noch ein NATO-Staat stand im Begriff, Russland anzugreifen; die Autonomiebestrebungen im Donbass gingen gewaltsam von ukrainischen Militärs aus, mit militärischer Hilfe aus Russland. Aber nicht die fehlende Donbass-Autonomie nannte Russland als Grund für die Invasion, sondern das russische Sicherheitsinteresse, welches keine NATO-Nähe erlaube, und das historische Nicht-Existenzrecht der Ukraine als eigener Staat. Das andere Beispiel: Iran bestreitet Israels Existenzrecht und Israel wurde immer wieder „stellvertretend“ von Kräften angegriffen, die ihrerseits vom Iran unterstützt wurden. Stimmt. Aber diese bisher gegen Israel kämpfenden Kräfte sind Teile oder Verbündete von Volksgruppen, die seit Jahrzehnten von Israel unterdrückt, entrechtet, vertrieben und getötet wurden. Jede Vorgeschichte hat weitere Vorgeschichten.

Eines haben die Beispiele aber gemeinsam: Israel und Russland sind nicht indirekt, sondern direkt durch Entscheidung der staatlichen Exekutive die militärischen Angreifer auf ein souveränes Land, welches in beiden Fällen offensichtlich nicht im Begriff stand, diese Angreifer unmittelbar oder auch nur in absehbarer Zeit selbst militärisch anzugreifen. Jeder Kommentator darf seine Sympathien oder Antipathien für andere Staaten zwar so verteilen, wie ihm das richtig erscheint. Das berechtigt aber nicht, den militärischen Angriff eines Staates auf einen anderen, der selbst nicht kurz vor einem Angriff stand, mit Verständnis oder mit Stillschweigen zu kommentieren, weder hier noch dort. Durch die Brille seiner Vorurteile übersieht man dann gezielt die Realität. Die Putin-„Versteher“ verstehen nicht, dass Russland nicht den Donbass verteidigt: wieviel Tod und Zerstörung gab es vor und wieviel nach 02/2022?! – sondern ihn sich einverleibt und Bevölkerungsaustausch und Russifizierung betreibt. Sie übersehen, dass der Kreml für eine moskaufreundliche Ukraine, also für ein anderes Regime in einem Nachbarland kämpft. Auf der anderen Seite übersehen die „Israel-ist -deutsche-Staatsraison“-Politiker, dass Tel Aviv schon lange der aktive Aggressor ist, der sein Territorium seit Jahrzehnten systematisch gewaltsam ausbreitet, mit ungleichen Gesetzen für seine Bürger, mit Raub und Mord nach innen und nach außen. Und sie übersehen, dass Israel schon lange Sabotage und gezielte Morde, kurz: Terrorismus, in Iran betrieben hat.

Wer im Lichte (oder besser: im Dunkel) unvollständig erzählter Vorgeschichten militärische Angriffe auf souveräne Länder in einem Fall mit Verständnis, im anderen Fall mit Empörung kommentiert, der hat sich entschieden, mit zweierlei Maß zu messen und Krieg als Mittel der Politik grundsätzlich zu akzeptieren, vorausgesetzt der Aggressor kommt von der „richtigen“ Seite. Und wer Putin und Netanjahu richtig versteht, nämlich beide als illegale Aggressoren, der leugnet damit keineswegs die Verbrechen, die auch von anderen begangen wurden und werden, seien es die Kiewer Exekutive, die Hamas, die USA, wer auch immer. In einer zunehmend gewalttätigen Welt gerät man als konsequenter Vertreter von Völkerrechtsprinzipien zunehmend auf einsamen Posten, wenn man nicht entweder für die eine oder für die andere Kriegspartei Verständnis zeigt. Man muss sich entscheiden – wie oft im Leben – ob man mit oder notfalls auch gegen den Strom schwimmen will. Oder sogar gegen zwei Ströme…

16.06.2025 Menschenwürde und Eigennutz im politischen Raum

Seit die menschlichen Gesellschaften über die persönlich untereinander bekannten kleinen Menschengruppen hinausgewachsen sind, also seit einigen tausend Jahren, kann man seine Angelegenheiten nicht mehr alle selbst mit seinen Nachbarn direkt aushandeln (oder gewaltsam „klären“), sondern muss Aufgaben delegieren und damit auch Vertrauen und Souveränität abgeben. Das kann Vorteile haben, weil auf diesem Weg auch Regeln für friedliches Zusammenleben geschaffen worden sind, birgt aber auch das Problem, dass Handlungsfreiheit, also persönliche oder politische Souveränität an andere Personen, Parteien, Institutionen abgegeben wird.

Als letzte Instanz bleibt zwar die Hoffnung auf die Ehrlichkeit von gewählten und mit Aufgaben betrauten Personen. Aber da man sich darauf nicht blind verlassen kann, geht es immer auch um die Frage, wie das politische System eine Kontrolle der Mehrheit über die Entscheidungskompetenz von Delegierten behalten kann. Wo das gelingt, kann man es Demokratie nennen. Die Geschichte zeigt viele Varianten, wie unterschiedlich mächtig die Bürger eines Landes auch in „demokratischen“ Systemen bleiben können, wenn sie – unvermeidlich – Entscheidungskompetenzen an Personen oder Institutionen delegiert haben. Dazu wird an anderen Stellen dieser Website einiges ausgeführt (Button „Demokratie im Detail„). An dieser Stelle wird gefragt:

Repräsentiert ein Mehrheitswille, wenn er sich denn durchsetzen kann, automatisch das menschliche Maß? Garantiert er die Realisierung der Menschenwürde?

Und wenn das nicht immer so sein sollte- bleibt dann nur die Hoffnung auf einen „guten König“ oder eine besser wissende Elite? Der aktuelle politische Diskurs ist von dieser Frage nicht so weit entfernt wie man glauben möchte. Im öffentlichen Raum erleben wir zunehmend besser wissende Eliten, bzw. solche, die sich dafür halten, auch hierzulande. Demokratie-Skeptiker bemühen zwar gerne den deutschen Nationalsozialismus, dessen aktive Anhänger übrigens nie eine Mehrheit gewesen sind. Das ist eher ein Beispiel dafür, dass laute Minderheiten ausreichen, wenn die Mehrheiten schweigen oder gewaltsam zum Schweigen gebracht werden. Interessanter sind heute aber aktuelle Beispiele:

Wir hören, dass in Israel eine Mehrheit nicht hinter dem Premier Netanjahu steht – aber nicht etwa wegen des Völkermords an den Palästinensern oder wegen des Angriffskrieges gegen den Iran. Mit diesen Verbrechen scheint die Mehrheit der israelischen Staatsbürger erster Klasse kein Problem zu haben. Auch aus Russland hört man, dass eine Mehrheit der Russen wohl kein Problem hat mit dem Krieg, den der Kreml gegen die Ukraine führt. Und sogar aus den USA hört man, dass eine Mehrheit (nicht der Wähler insgesamt, aber der Trump-Wähler) kaum ein Problem damit hat, dass ihr Präsident offensichtlich nicht die unmittelbaren Interessen seiner Wähler an die erste Stelle setzt.

Das führt zu der Erkenntnis, dass die politischen Interessen der „normalen“ Leute nicht nur ökonomische Interessen sein müssen, wie die Marxisten glauben, und auch nicht automatisch die Menschenwürde repräsentieren, wie man das als Demokrat glauben möchte. Sondern es wirken offensichtlich ideologisch geprägte Identitäts- oder Gruppenzugehörigkeiten. Die funktionieren nicht nur in Verwandtschaftsclans oder Fanclubs von Sportvereinen. Sie existieren auch im politischen Raum und definieren sich dort oft nicht primär über intellektuelle oder gar ethische Grundsätze, sondern ab einer gewissen Dauer über biografisch irgendwie und irgendwann einmal aus guten Gründen entstandene Zugehörigkeitsgefühle. Und daraus entstandene Loyalitäten. Für Missetaten der „eigenen“ Seite findet man dann immer Argumente – außer man schafft doch einmal den Absprung; das kommt vor. Aber jeder, der Autor dieser Zeilen eingeschlossen, möge sich selbst kritisch fragen, ob er im Interesse seiner weltanschaulichen Loyalität nicht auch zu gewissen Einseitigkeiten in seinem Urteil neigt. (Unter dem Stichwort „Nationalismus“ werden die Überlegungen von George Orwell zu diesem Thema genauer betrachtet.)

So passiert es, dass man den – bestenfalls gewählten oder anderweitig respektierten – Anführern des „eigenen“ Lagers folgt, seine persönlichen Wünsche auf deren Verantwortung projiziert, auch wenn sie offensichtlich andere Prioritäten setzen, und die Interessen anderer „Clans“ sowieso minder bewertet. „Eigennutz“ kann nicht nur eine persönliche, sondern auch eine Gruppeneigenschaft sein. Man ist dann zu persönlichen Opfern bereit, um den Erfolg des eigenen Clans, der eigenen Nation, Religion, utopischen Idee, was auch immer, sicherzustellen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma muss bei der intellektuellen Redlichkeit eines jeden Einzelnen beginnen. So menschlich sinnvoll und selbstverständlich es ist, sich einer überschaubaren Gruppe zugehörig zu fühlen und ggf. seine Bürgerrechte zu verteidigen, so richtig muss es bleiben, dass die allgemeinen Menschenrechte auf der individuellen Ebene und das Völkerrecht auf der staatlichen Ebene für alle gelten. Damit ist nicht ein vereinheitlichtes „Weltbürgertum“ gemeint – ein solches Abstraktum könnte nur ein zentralistisch-gewaltsames Projekt sein. Vielmehr hat jede „eigene“ Gruppe, Kultur, Zivilisation… dasselbe Existenzrecht solange sie nicht gewaltsam als aktiver Räuber, Mörder, Zerstörer gegen andere aktiv wird. Weltbürger im positiven Sinn ist der, der andere Kulturen etc. respektiert und achtet, übrigens einschließlich der eigenen! Nur wenn das alle verstanden haben, gibt es keinen Krieg mehr.

06.06.2025 Künstliche Intelligenz erfordert natürliche Intelligenz

Man hört viel von den Möglichkeiten und Risiken Künstlicher Intelligenz. Ist das, um es poetisch auszudrücken, ein neuer Text auf eine alte Melodie? Denn die Verbreitung neuer Techniken war fast immer mit Gewinnen und Verlusten verbunden. Neue Techniken sorgten meist für Lebenserleichterungen und für Lebensgefahren, da der Mensch bekanntlich über Freiheiten in beide Richtungen verfügt. Ist es diesmal bei der KI etwas anderes?

Die Zweischneidigkeit technischer Neuerungen im wörtlichen Sinn zeigte sich schon vor über 3.000 Jahren: Eisenverhüttung und -verarbeitung hat zu besseren Waffen gegenüber den früheren Bronzeschwertern, aber auch zu besseren Pflügen für die Landwirtschaft geführt. Unzählige technische Neuerungen haben durch die Jahrtausende die menschlichen Gesellschaften immer wieder verändert. Haben sich mit den komplexeren Zivilisationen vielleicht auch die Menschen selbst ein wenig verändert? Auch wenn wir biologisch dieselbe Art von Lebewesen sind wie unsere Vorfahren vor über 3.000 Jahren – wir sind immer auch Teil der Kultur, in der wir aufwachsen. Kulturen sind sehr verschieden und haben sich mit den technischen Entwicklungen sehr verändert. Hätte ein Mensch vor einigen hundert Jahren sich vorstellen können, wie eine Gesellschaft mit Motoren, mit Elektrizität, mit Internet funktioniert? Können wir uns heute umgekehrt ein Leben ohne das auch nur vorstellen, geschweige denn führen? Aber wir schweifen ab – zurück zum Thema:

Größere technische Neuerungen wurden meist von begeisterten, aber auch von klagenden Stimmen begleitet. Letzteres, sobald erkennbar wurde, dass sich das gewohnte Leben unwiederbringlich verändert, eine alte vertraute Welt verschwindet und vieles sich beschleunigt. Das Reisen mit der Postkutsche war sicher weniger bequem als später mit dem Zug oder Auto oder Flugzeug und hat nur geringere Reichweiten erlaubt. Aber es gab größere Zeitfenster, in denen nichts anderes möglich war als sich mit Mitreisenden zu unterhalten oder die Umwelt wahrzunehmen und über alles Mögliche nachzudenken. Was für ein Vorteil gegenüber heutigen Zeitgenossen, die nahezu ständig ihre reale Umgebung kaum noch wahrnehmen, weil sie auf ihre Smartphones reagieren „müssen“ und sich davon am eigenen ungestörten Denken hindern lassen.

Viele manuelle Fähigkeiten, die ja immer auch geistige Fähigkeiten sind, wurden technischer Beschleunigung und Maschinisierung geopfert. Ein Beispiel: der Autor dieser Zeilen hat in jungen Jahren Bauzeichnungen angefertigt, mit dem Stift in der Hand am Zeichenbrett. Heute zeichnet kein Ingenieur mehr „mit der Hand am Arm“, sondern klickt Befehle in den Computer ein. Fast niemand könnte noch einen brauchbaren Bauplan zeichnen und mit anderen Fachingenieuren so darüber kommunizieren, dass ein komplexes Gebäude daraus entsteht – falls es mal dauerhaft Stromausfall oder Computerschäden gäbe. Schon die erforderlichen Werkzeuge wären kaum greifbar, außer im Museum. Viele können heute einfache Rechenaufgaben nicht mehr ohne Taschenrechner lösen oder Ergebnisse von Simulationsprogrammen auf Plausibilität prüfen; manche sind kaum noch fähig, sich mit einer flüssigen und lesbaren Handschrift auszudrücken – gemeint sind nicht Analphabeten, sondern junge Akademiker.

Solche Verluste werden begleitet von nie dagewesenen technischen Möglichkeiten, die das Leben erleichtern, und von kommunikativen Vernetzungen, von denen man vor zwei Generationen nicht einmal träumen konnte. Zweifellos erlaubt die ungeheure Beschleunigung von Rechenvorgängen, Datenverarbeitungen und -vernetzungen eine bisher unbekannte Präzision und massenhafte Qualitätssteigerung von Vorgängen und Entscheidungen. So weit, so gut. Übrigens auch von militärischen Fähigkeiten. So weit, so schlecht. Zurück zu der Frage: Wie ist die KI in die bekannte Geschichte von Gewinn und Verlust technischer Entwicklungen einzuordnen?

Unser Fähigkeitsverlust bezieht sich bei KI nicht mehr auf die Maschinisierung von im weitesten Sinn handwerklichen Tätigkeiten, sondern auf unmittelbar geistige Bereiche, begleitet von einem ein bisher unbekannten Kontrollverlust über sich scheinbar verselbständigende Prozesse. Das ist neu. Natürlich wird ein Computer niemals „kreativ“ sein in dem Sinn, dass er auf „eigene“ gefühlsverursachte Ideen kommt, die nicht vorher als Möglichkeit in einen Algorithmus eingespeist worden sind. Auch das sind dann keine eigenen Computer-Ideen, sondern programmierte, bzw. zufällig mögliche Reaktions-Varianten. Aber der Computer wird mit seinen anthropogen definierten Algorithmen und seinem übermenschlichen Gedächtnis „Realitäten“ schaffen können, bei denen niemand mehr erkennen kann, was Wahrheit und was Dichtung ist. Auch wenn es schon immer propagandistische Fakenews gab: wir erleben mit KI den Anfang einer ungeahnten Perfektion bei der Schaffung irrealer, real erscheinender Welten. Das trifft auf eine junge Generation, die es schon länger gewöhnt ist, sich in irrealen Welten zu bewegen und deren kritischer Verstand nur noch selten gezielt geschult wird.

Die sogenannte Künstliche Intelligenz ist so weinig wieder aus der Welt zu schaffen wie alle anderen massenwirksamen Erfindungen (vorausgesetzt, der enorme KI-Bedarf an Elektrizität steht stets zur Verfügung). Sie kann zweifellos bei vielem wirksam helfen und neue Fähigkeiten erschließen, in gute und in schlechte Richtungen, wie fast jede Technik. Ihre Existenz stellt aber massiv erhöhte Ansprüche an die Bildung und den Einsatz natürlicher Intelligenz in allen folgenden Generationen. Das muss den Erziehungsberechtigten, den Lehrern, den Bildungspolitikern, nein: jedem Bürger klar sein. Oder klar gemacht werden. Bildung zum selbständigen Denken und Recherchieren war als Prävention gegen die Vorspiegelung falscher „Tatsachen“ nie so wichtig wie heute. Und in Zukunft.

28.05.2025 Trotz Gewalt und Unrecht den Frieden suchen

Seit vielen Jahren existiert in Köln der private Gesprächskreis „Bürger im Gespräch“, der ungefähr alle 4 – 7 Wochen Veranstaltungen mit Referenten zu aktuellen politischen oder auch zu pädagogischen Themen macht. Am 24. Mai 2025 war dort zum wiederholten Mal Frau Sumaya Farhat-Naser eingeladen, eine palästinensische Christin, die vor über 50 Jahren in Hamburg Biologie, Geographie und Erziehungswissenschaften studiert und in angewandter Botanik promoviert hat. Sie lebt mit einem Teil ihrer Familie in Palästina, in Birzeit bei Ramallah, hat dort an der Universität unterrichtet, und setzt sich ein Leben lang für Frieden und Verständigung auch und vor allem zwischen Israel und Palästina ein. Sie hat Bücher darüber und über ihre Lebenserfahrungen geschrieben und für ihren unermüdlichen Einsatz viel Anerkennung bekommen, z.B. den Bruno Kreisky Preis, den Mount Zion Award in Jerusalem, die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Münster, den Augsburger Friedenspreis, um nur einige zu nennen.

Sie reist seit langem zweimal im Jahr durch die deutschsprachigen Länder und hält Vorträge in Gemeinden, Schulen und anderen Organisationen, so auch schon mehrfach in dem genannten Kölner Gesprächskreis. Ihre Vorträge sind einerseits sehr informativ, weil sie das Leben in Palästina unter der israelischen Besatzung in vielen oft unerträglichen Details schildert, andererseits auch ermutigend, weil sie trotz dieser Nachrichten immer gegen Hass und Gewalt Stellung nimmt und die Versöhnung als einzigen Ausweg benennt und diese Haltung selbst überzeugend verkörpert.

In früheren Vorträgen hat sie das alltägliche Leben in Palästina ausführlicher geschildert. Es wird nicht nur von rechtlicher Ungleichbehandlung durch die israelischen Besatzer geprägt, sondern seit vielen Jahren durch Schikanen in Form von gesperrten Gebieten, verbotenen Straßen, geschlossenen Toren, die für lebensnotwendige Wege oft nur kurzzeitig ohne bekannten Plan geöffnet werden. Zur Zeit sind z.B. Schulwege durch Tore versperrt – gerade zu den Zeiten, wenn die Schule beginnt oder endet, sodass die Kinder morgens 5 Uhr zur Schule gehen müssen und dort noch einmal zu schlafen versuchen. Wege zu den Feldern, die bebaut werden müssen oder zu Krankenhäusern, auch bei Notfällen, werden zu stundenlangen Exkursionen, auch wenn die Entfernungen kurz sind. Es gibt unzählige Alltagsschikanen in dieser Art.

Dazu kommt schon seit langer Zeit der Landraub im Westjordanland, der nicht nur durch acht Meter hohe Mauern und durch jüdische Siedlungen auf palästinensischem Gebiet stattfindet. Sondern die Mauern werden auch um Land und Felder innerhalb Westjordaniens gezogen, sodass die palästinensischen Dörfer und Städte wie Inseln voneinander und von ihren Feldern, von denen sie leben müssen, getrennt werden. Die israelischen „Siedlungen“ sind Städte, die staatlich geplant und gefördert werden; in ihnen werden bewaffnete Menschen angesiedelt, oft aus Russland oder USA eingewanderte Juden, die den seit Jahrtausenden hier lebenden Menschen das Land rauben.

Seit 2023 herrscht nun offener Krieg und Sumaya Farhat-Naser hat zu Beginn ihres Vortrages den Massenmord der Hamas am 07. Oktober 2023 und die Geiselnahmen klar verurteilt, ebenso den seitdem stattfindenden Vernichtungskrieg Israels, der ohne jede Rücksicht auf das Völkerrecht stattfindet. Sie schildert die Vernichtungsmaßnahmen im Gazastreifen, aber auch die bei uns weniger bekannten und seitdem noch verschärften Schikanen und Verbrechen im Westjordanland. Persönliches Beispiel: Von ihrem eigenen Haus kann sie sich ohne Erlaubnis kaum einen Kilometer entfernen; ihr Sohn, ein Arzt, der die offizielle Erlaubnis hat, in Jerusalem zu arbeiten, hat seit Monaten kein Gehalt bekommen. Jede Familie hat Mitglieder, die wegen Lappalien und ohne Anklage Monate, Jahre, im Gefängnis verbracht haben und dort Folter, manchmal bis hin zum Tod erleben mussten und müssen.

Sie berichtet von der palästinensischen Führungsclique der Fatah mit dem alten „Präsidenten“ Abbas. Sie tun nichts für „ihr“ Volk, sind von Israel korrumpiert und betätigen sich praktisch als deren Gehilfen bei der Unterdrückung ihrer Landsleute. Es gab palästinensische Führer, die bereit und fähig zu einer verantwortungsvollen Staatsführung gewesen wären; sie sitzen seit langem im Gefängnis oder wurden ermordet.

Vor diesem Hintergrund, der hier nur kurz angedeutet werden konnte, neigt man zum Verständnis für den entstandenen Hass auf palästinensischer Seite. Aber hier setzt die eigentliche Mission von Sumaya Farhat-Naser an: „Krieg und Gewalt lösen keine Probleme.“ Im Gegensatz zu den Gewaltakten vieler ihrer Landsleute hatte sie vor dem aktuellen Krieg unter anderem Gesprächskreise zwischen palästinensischen und israelischen Frauen organisiert und geführt; das ist zur Zeit nicht mehr möglich. Dennoch macht sie weiter ihre friedenspädagogische Arbeit überall, wo es möglich ist. Ihre Botschaft ist, dass jeder zuerst mit sich selbst Frieden schließen muss. Sie nennt drei Regeln: 1. Alle Menschen sind gleich. Keiner ist mehr oder weniger wert. 2. Alle Menschen sind verschieden, jeder ist ein Individuum. 3. Jeder hat einen individuellen Kern, einen Diamanten in seinem Herzen, den er zum Glänzen bringen kann. Wenn man das versteht, ist kein Platz für Hass. So lautet ihre Botschaft, die sie in Wort und Tat lebt.

Mit dieser Haltung ist sie in ihrer Heimat und bei ihren Vortragsreisen aktiv. Es ist eine Sisyphusarbeit und es ist nicht unmittelbar eine politische Arbeit, auch wenn Sumaya Farhat-Naser eine klare politische Haltung hat: sie hält an ihrem Land fest, das ihre Familie seit Jahrhunderten bewohnt und bebaut, sie will in Frieden mit Israel leben, sie verurteilt die Rolle Deutschlands und des Westens, sie erwartet von der UNO nicht viel Hilfe, sie begrüßt andere Friedensaktivitäten, die es auch in Israel und Palästina und international gibt… Ihre persönliche Aktivität ist Arbeit für ein Leben in Frieden.

Das haben auch die ungefähr 70 Zuhörer und Zuhörerinnen so verstanden und sich in diesem Sinn mit vielen Wortmeldungen an dem insgesamt dreistündigen Gespräch beteiligt; sie haben eigene Erfahrungen beigetragen und sich für die Informationen, aber vor allem auch für die Ermutigung bedankt. Wir erleben mit Sumaya Farhat-Naser, dass ein Mensch mit solcher Erfahrung von Unterdrückung, Gewalt und Krieg überzeugender eine Friedensbotschaft vermitteln kann als alle geopolitischen Strategieargumente.

14.05.2025 Demokratische Europäische Union?

An verschiedenen Stellen dieser Website ist die Europäische Union unter dem Gesichtspunkt demokratischer Kriterien kritisch dargestellt worden. Dennoch führt kein Weg an Überlegungen vorbei, was denn aus ihr werden soll. Denn es ist kaum damit zu rechnen, dass sie sich aufgrund von kritischen Kommentaren mit all ihren Institutionen, Regeln, Verträgen, Beamten und inzwischen auch Traditionen in Luft auflöst, damit alles so werde wie in einer guten alten Zeit. Das ist nicht nur unrealistisch, sondern auch nicht wünschenswert. Denn warum sollte die internationale europäische Kooperation nicht stärker institutionalisiert werden als das vor 70 oder 60 Jahren der Fall war?

Zuerst müsste man aber eine Zielvorstellung haben, und zwar eine demokratische. Die demokratischen Leitplanken auch für ein über-nationales Projekt heißen Subsidiarität, gleiches Wahlrecht, Gewaltenteilung. All das sind in der real existierenden EU bisher Mangelerscheinungen. Subsidiarität meint den Aufbau von Entscheidungskompetenzen von unten nach oben. Obere Ebenen dürfen nur für Themen zuständig sein, welche die Grenzen der unteren Ebenen klar übersteigen. Das gilt ganz besonders für ein Europa, deren Bürger in den derzeitigen Mitgliedsländern mehr als 20 verschiedene Sprachen sprechen und gottlob immer noch unterschiedliche kulturelle Traditionen pflegen.

Der erste Schritt wäre also die Definition und vor allem die Eingrenzung von übergeordnet zu delegierenden Themen. Aktuell ist kaum eine Eingrenzung zu erkennen. Ob Glühbirnen verboten werden müssen, um ein Beispiel von unzähligen zu nennen, gehört sicher nicht in eine supranationale Kompetenz. Betroffen sollten vor allem Themen des wirtschaftlichen Austauschs sein, aber nicht Themen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens oder der strategischen Optimierung des Waren- und Kapitalverkehrs für Großkonzerne. Für Gesundheitspolitik, Sozialpolitik etc. besteht kaum eine Notwendigkeit europäischer Gesetzgebung. Bei der Bildungspolitik sind zwar klare Regelungen für die Anerkennung von Abschlüssen sinnvoll, aber nicht eine Vereinheitlichung des gesamten Bildungswesens. Und so weiter. Eine gemeinsame Außenpolitik oder gar die Frage der Kriegsführung ist nur sehr zurückhaltend als zentrale Aufgabe zu definieren; hier bleibt der nationale Bürgerwille immer an erster Stelle zu beachten. Das leitet über zum Thema Gewaltenteilung.

Ein Parlament muss der zentrale Ort der Gesetzgebung sein und das erste und eigentlich einzige Recht zur Gesetzesinitiative haben, sofern nicht ergänzend direktdemokratische Abstimmungen eingeführt werden, die dann aber auch zu Parlamentsbeschlüssen führen. Die Gesetzgebungskompetenz muss thematisch subsidiär eingegrenzt sein. Eine Exekutive ist dieser legislativen Funktion nachgeordnet! Das müsste nicht einmal eine vom Parlament oder den Bürgern direkt zu wählende Institution sein, sondern die nationalen Exekutiven könnten die übergeordneten europäischen Gesetze exekutieren. Eine europäische Gerichtsbarkeit darf natürlich nur für die thematisch supranational eingegrenzten Gegenstände zuständig sein.

Ein Parlament muss in gleicher Wahl zustande kommen, d.h. jede Bürgerstimme muss gleiches Gewicht haben und das Wahlrecht muss überall dasselbe sein. Das ist zur Zeit überhaupt nicht so. Wenn die kleinen Staaten gegen die großen besser geschützt werden sollen, so kann das durch eine zweite Kammer geschehen, in der dann die einzelnen Staaten gleiches Stimmrecht haben (Vorbild: USA, Schweiz). Es wäre zu klären, ob diese Nationenkammer zu allen oder nur zu manchen Themen zu konsultieren wäre. Dieser Kammer könnten auch andere Themen zugeordnet sein, wie z.B. die gemeinsame Verteidigung, was bei existenziellen Fragen aber jedenfalls eine Einstimmigkeit erfordern würde. Die nationale Souveränität muss für den Verteidigungsfall erhalten bleiben.

Mit anderen Worten: eine Demokratisierung der EU beinhaltet erhebliche Sprengkraft. Aber wer es mit der Demokratie ernst meint und zugleich weder die fortschreitende internationale Vernetzung noch die entstandene Realität ignorieren will, der sollte in der angedeuteten Richtung weiterdenken.

13.05.2025 AfD Verbot?

Am 10. Mai hat der Kölner Stadt-Anzeiger meinen Leserbrief veröffentlicht, den ich auf Wunsch einiger Freunde auch auf diesem Weg zur Kenntnis bringe:

„Am 08. Mai sprach sich eine halbe Seite Leserbriefe mit unterschiedlichen Argumenten für ein Verbot der AfD oder für einen Finanzierungs-Stopp ohne Verbot aus. Als überzeugter Demokrat möchte ich dazu sagen, dass mir bisher noch kein Verbotsbefürworter erklären konnte, gegen welche(n) Grundgesetzartikel das AfD-Parteiprogramm verstößt. Solange die Partei nicht verboten ist, muss sie gleich wie andere Parteien behandelt werden, auch wenn einem das nicht passt. Wenn AfD-Mitglieder oder -Funktionäre antidemokratische Reden führen oder kriminell handeln, muss das strafrechtlich verfolgt werden, was ja auch geschieht. Aber was wird im Verbotsfall aus den ca. 12 Millionen AfD-Wählern? Werden die auch verboten? Oder ausgewiesen? Oder sind wir in Zukunft mit einer so geringen Wahlbeteiligung wie in den USA und mit Millionen von demokratisch nicht vertretenen unzufriedenen Mitbürgern zufrieden? Müssen wir in einer Demokratie nicht den steinigen Weg von Argumenten auf uns nehmen, auch wenn sicher nicht alle zu überzeugen sind, statt uns denkfaul-kämpferisch auf politisch gewollte Verbote oder rechtswidrige Ungleichbehandlung zu verlassen?“

25.04.2025 Was will Trump?

Fast alle Welt scheint sich einig zu sein über den unverantwortlichen Unsinn, den die Trump-Administration betreibt. Tatsächlich ist kaum zu erkennen, wem seine barocke Schaukelpolitik merkantilistischer Prägung nützen soll. Selbst innerhalb der USA sind Nutznießer kaum erkennbar. Kapital wandert bereits aus USA nach Europa. Neue Arbeitsplätze für seine Wähler? Die gewünschten Produktionsstätten samt zugehörigen Arbeitern für eine den Import substituierende Binnenwirtschaft wachsen nicht per ordre de Mufti zum Pflücken bereit auf den Bäumen; diese Bäume müssten, um im Bild zu bleiben, erst einmal gesät werden. Das ist kein Krieg zwischen verschiedenen Fraktionen des Kapitalismus, wie manche meinen, sondern ein Destruktionswerk als ideologisches Wunschdenken gegen die Realität. Trump hat den Kapitalismus generell nicht verstanden, auch wenn er Teil davon ist. Er könnte in einer klugen Analyse folgendes nachlesen:

„Die uralten nationalen Industrien…werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. … Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt.“

Soweit die jungen Revolutionäre Karl Marx und Friedrich Engels 1848 (!) in ihrem Manifest. Das ist eine bewundernswerte Vorausschau auf ein inneres Gesetz des Kapitalismus, das wir heute Globalisierung nennen. Marx hatte bekanntlich die Absicht, sein unvollendetes Werk „Das Kapital“ (vollendet nur der 1. Band über den Produktionsprozess der Waren, unvollendet der 2. und 3. Band über den Zirkulationsprozess der Waren und über ihren Gesamtprozess) um einen 4. Band zu ergänzen über den Welthandel – als logisches Resultat des kapitalistischen Wirtschaftens, welches das Niederreißen aller Nationen, Grenzen, Traditionen, kulturellen Irrtümer etc. beinhaltet (um dann, so die marx´sche Utopie, den Weg in die Gesellschaft der Freien und Gleichen zu öffnen).

In diesem Verständnis, das immerhin auf einer scharfen Beobachtung der Gegenwart beruhte, erscheint Trump nicht als ein kapitalistischer Akteur (das ist eher sein Noch-Adlatus Musk), sondern eher als ein Romantiker, der ohne erkennbare ökonomische Kompetenz den Lauf der kapitalistischen Logik aufhalten und seine große Nation erhalten will. Das erinnert eher an die merkantilistische Politik der französischen Könige im 17./18. Jahrhundert. Der von Trump bewunderte Präsident Andrew Jackson war ja zeitlich und auch inhaltlich nicht weit davon entfernt. Und die alte US-Demokratie enthält einen ziemlich monarchischen Kern. (Natürlich ist es sympathisch, nationale Souveränität gegenüber rücksichtslosem Kapitalismus geltend machen zu wollen. Allerdings ist Trump selbst durchaus kein Vorbild für einen Verzicht auf Rücksichtslosigkeit.)

Inzwischen sind es nicht mehr die chinesischen Mauern, die von den billigen Waren aus England niedergeschossen werden, wie zu Marx´ Zeiten, sondern die amerikanischen Mauern, die von den billigen chinesischen Waren niedergeschossen werden. Zollschranken mögen kurzfristig dem Schutz nationaler Wirtschaft dienen, aber ein Handelskrieg ist oft nur die Vorstufe zu einem militärischen Krieg. Davon haben wir bereits mehr als genug. Und Welthandel, das dürfen wir nicht vergessen, ist nicht nur eine kapitalistische Rücksichtslosigkeit, sondern er hat zu technischen Revolutionen, Zivilisationsentwicklungen und massiven Lebensverbesserungen für eine enorm angewachsene Menschheit geführt, sodass man nicht versuchen sollte, ihn gegen wirtschaftliche Isolation auszutauschen.

Nationale Souveränität muss im 21. Jahrhundert ein politisches Projekt zum Schutz demokratischer Selbstbestimmung sein bei gleichzeitiger internationaler friedlicher Kooperation. Wir stehen vor der großen Aufgabe, den weiteren und global unumkehrbaren Zivilisationsprozess menschlicher zu gestalten. Dieses Motiv ist bei der Trump-Administration nicht erkennbar. Sie hat kein Problem mit Kriegen, was der Blick auf Trumps Busenfreund Netanjahu beweist. Make America great again ist ein außenpolitisches Projekt mit etwas Binnenwirtschaft im Schlepptau. Aber Trump ist kein Kapitalist im produktiven Sinn, er ist Kaufmann und Imperialist. Seine narzisstisch-rassistische Menschenverachtung, selbst wenn es nur eine Fassade sein sollte, passt genau dazu.

12.04.2025 Zeitenwende

Als der chinesische Präsident im März 2023 nach einem sechsstündigen Treffen mit dem russischen Präsidenten abends den Kreml verliess, hielt er auf der Schwelle, auf dem Weg zur Limousine, noch einmal inne, um sich von seinem Gastgeber zu verabschieden und seine Abschiedsbotschaft zu formulieren: «Derzeit finden Veränderungen statt, wie man sie in einem Jahrhundert nicht gesehen hat», sagte Xi zu Putin, ­einen seiner Lieblingssätze benutzend. Dann aber kam es: «Wenn wir zusammen sind, sind wir es, die diese Veränderungen vorantreiben.» Dem chinesischen Präsidenten war offenkundig nicht klar, dass die ein Stück entfernt stehenden Journalisten seine Worte dank ihren Mikrofonen mithörten. «Ich stimme zu», antwortete der russische Präsident, «pass auf dich auf, bitte, lieber Freund.»

Soweit ein Zitat aus der Neuen Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, vom 08.04.2025. Wir sehen auch hier: Das Steuerrad der Weltpolitik wandert nach China und zu dessen Verbündeten, weg von den USA und dessen Verbündeten. Das ist noch keine Neuigkeit. Interessant ist die Tatsache, dass die Hauptakteure sich dieser weltpolitischen Zeitenwende sehr bewusst sind und sie als Präsidenten großer und militärisch gut gerüsteter Staaten aktiv gestalten. Wollen. Und es auch tun. Sind sie bessere Vorbilder als der seit langer Zeit aktiv kriegerische Westen? Vorerst vielleicht. Aber den Ukrainekrieg darf man nicht nur aus westlicher Sicht als einen Stellvertreterkrieg zulasten der Ukraine sehen; er ist gemäß Worten und Taten des Kremls auch von dieser Seite aus ein Schritt zu einer neuen Weltordnung, d.h. ein politischer Zug auf dem globalen Schachbrett. Und die Belt & Road Initiative ist nicht nur ein Wirtschaftsprojekt zugunsten anderer eurasischer und afrikanischer Staaten; sondern sie bringt andere Staaten in die Abhängigkeit der neuen Großmacht China.

Diese einfachen Tatsachen können niemanden überraschen. Aber sie fordern uns vehement auf zu überlegen, wo und wie wir in dieser Konstellation stehen und gehen wollen. Bisher war unser Platz im westlichen Bündnis selbstverständlich, obwohl er eine Dominanz der US-Interessen und die Beteiligung an völkerrechtswidrigen Aktionen beinhaltete. Das muss hier nicht einzeln erinnert werden; wer es wissen will, weiß es, und wer es nicht wissen will, wird sich auch von Fakten nicht beeindrucken lassen. Manche betonen nun, dass man diese Partnerschaft trotz der aktuellen US-Regierung erst recht nicht aufgeben dürfe; andere schlagen sich auf die Seite der aufstrebenden Weltmächte in und um China mit Verweis auf deren uralte Zivilisation, ihre mangelnde Kriegsbereitschaft nach außen, ihre kulturellen Weisheiten; und es gibt drittens die Position, dass Europa sich nun selbst stabilisieren und behaupten müsse – vor allem militärisch…

Für uns „alte Europäer“ (so ein Schimpfwort des ehemaligen US-Ministers Rumsfeld) sollte es selbstverständlich sein, dass wir unsere nationalen Souveränitäten bei gleichzeitiger friedlicher und völkerrechtskonformer Zusammenarbeit pflegen, sicherlich auch mit Verteidigungs(!)fähigkeit. Das beinhaltet Distanz, aber keine Feindschaft zu den USA. Und ebenso Distanz, aber keine Feindschaft zu den aufstrebenden Weltmächten um China herum wie auch zu allen anderen Staaten. Aber wir sollten sehen, dass gerade die BRICS + Staaten untereinander sehr unterschiedliche und vor allem von unserer Kultur sehr unterschiedliche politische und kulturelle Traditionen haben. Es besteht kein Anlass, darin selbstvergessen Zukunftsvorbilder für uns zu sehen, auch wenn wir von kulturellen Weisheiten anderer gerne lernen können.

Werfen wir doch den Blick auf unsere eigene(n) Kulturgeschichte(n). Wenn wir die guten Seiten der europäischen Geschichte in Erinnerung und auf die Tagesordnung rufen, so ist es gerade die politische Demokratie, die unser kulturelles Erbe prägt, auch wenn das sicher nicht durchgängig, aber immer wieder nachdrücklich in verschiedenen Formen zum Vorschein kam. Dabei steht die subsidiäre Selbstbestimmung kleiner Einheiten im Vordergrund. Das ist unsere zutiefst europäische Weisheit, Daran müssen wir uns erinnern, wenn wir auf das Schachspiel der großen Weltmächte in West und Ost schauen. Fast möchte man Peter Handke zustimmen, der ebenfalls in der NZZ einen Tag später als das obige Zitat (09.04.2025) zwar seine Abscheu vor den Nationen ausdrückte, aber mit dem Zusatz „Wenn Liechtenstein sagen würde: ´Wir sind eine Nation´, dann wäre ich sofort dafür. Oder Graubünden.“ Das bezeichnet eine gute und typisch europäische Tradition: Demokratie, d.h. politische Freiheit, geht nur kleinteilig, in subsidiärer Hierarchie von unten nach oben. Das ist selbstverständlich kein Hindernis für friedliche Kooperation über Grenzen hinaus. Wer aber von vornherein großteilig in polaren Machtzentren denken will, hält es eben mehr mit der Macht und weniger mit Demokratie und politischer Freiheit.

04.04.2025 Gewalttätige demokratische Oligarchien

Dass die Demokratie(n) in Gefahr sei(en) ist keine originelle Nachricht mehr; fast jeder beklagt dies mit Blick auf den jeweiligen politischen Gegner. Manche sehen im System einer repräsentativen Demokratie grundsätzlich einen Mangel, weil eine Klasse von Berufspolitikern sich damit permanent vom normalen Leben der Bürger entfernt und sich in der Welt verschiedener Lobbygruppen heimisch einrichtet; andere sehen zumindest in der aktuellen Entwicklung nicht nur in Deutschland einen diktatorischen Trend mit zunehmender Bereitschaft zur Gewalt statt zur verbalen Auseinandersetzung.

Beide Standpunkte haben einen Wahrheitskern. Zu der radikaleren Version einer grundsätzlichen Kritik am Parlamentarismus verweise ich auf den Button „Demokratie im Detail“, wo verschiedene Formen der Demokratie vorgestellt, diskutiert und mit Blick auf Deutschland im Sinne direkterer Demokratie weiterentwickelt werden. Im Folgenden geht es um die aktuellen Tendenzen.

Im Vordergrund steht natürlich die Entwicklung in den USA, wo man sich zur Zeit noch fragen kann, ob es sich bei der Trump-Administration um eine US-nationalistische Politik zum eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf andere handelt oder doch mehr um eine Revolution von Dilettanten, sogar zum Nachteil der eigenen Wirtschaft. Lassen wir das einmal dahingestellt und konzentrieren uns auf die politische Seite: Tatsächlich scheint sich das Weiße Haus in Washington D.C. in den Sitz eines beinahe absoluten Monarchen verwandelt zu haben, gegen den Kongress und Justiz kaum etwas ausrichten. Die US-Verfassung, die ja selbst aus monarchistischen Zeiten stammt, scheint das zuzulassen und das Volk selbst ebenfalls. Internationale Beziehungen werden so geführt, als sei der Staat ein gewinnorientiertes Handelsunternehmen, wobei die Welt allerdings als ein statisches und nicht als dynamisches Modell gesehen wird. Das spricht dann doch für einigen Dilettantismus, gepaart allerdings mit erschreckender Rücksichtlosigkeit, gegen wen auch immer.

Ähnliches sieht man auch in anderen Weltgegenden. Der Völkermord Israels am palästinensischen Volk – welches sich selbst leider einmal mörderische Führer gewählt hatte – wird dort von einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragen; Kritik gibt es nur daran, dass die eigenen Geiseln gefährdet werden. Kann man eine solche Mehrheitsaktivität als demokratisch bezeichnen? Zählt nichts anderes als ein Mehrheitswille, auch wenn er offensichtlich über Leichen geht?

Der Krieg, den der Kreml in der Ukraine führt, wird von einer Mehrheit der russischen Bevölkerung offenbar ebenfalls unterstützt oder zumindest akzeptiert. Von Kriegen in anderen Ländern und Kontinenten, die wir kaum wahrnehmen, ganz zu schweigen. Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch (zumindest die meisten von uns) ein friedliches und kooperatives Wesen ist (denn anders gäbe keine Zivilisationen), dann muss diese Akzeptanz von Gewalttätigkeiten der Führungsgruppen und ihrer ethisch eher gleichgültigen Anhängerschaft doch nachdenklich stimmen. Ginge es wirklich demokratisch zu, dann wäre all das Furchtbare nicht möglich. Immerhin zeigt sich in der Türkei gerade ein starkes demokratisches Bewusstsein, zumindest in Form von Demonstrationen.

Aber auch wir haben uns daran gewöhnt, dass wir kaum noch selbst bestimmen, was wir wollen dürfen. Wir wählen Politiker, die endlich mal wieder richtig führen sollen und erleben, dass sie – noch nicht einmal im Amt! – einen Schuldenberg vor allem für Waffenbeschaffung beschließen, gegen den die Beschlüsse der abgewählten Vorgängerregierung lächerlich harmlos erscheinen. Die Zeitungen sprechen von Glaubwürdigkeitsverlust – und sonst? Wahrscheinlich sind wir auch durch die inzwischen gut etablierte antinationale EU-Propaganda und -Praxis innerlich darauf eingestellt, dass wichtige Entscheidungen sowieso nur noch in großer Entfernung vom Bürger gefällt werden, in Gremien, deren demokratische Legitimation gewiss noch geringer ist als die der präsidialen Administration in Washington D.C. (siehe zur EU verschiedene Einträge auf dieser Website). Wir richten uns gerade in einer gewaltbereiten Oligarchie ein, auch wenn die demokratischen Institutionen ungehindert weiter bestehen.

Eine Änderung des hier Beklagten kann nur in unseren eigenen Köpfen beginnen. Wir müssen uns gründlich vergegenwärtigen, dass es in der Demokratie und im internationalen Verkehr nur um das friedliche Austragen von Interessengegensätzen und das konstruktive Gestalten des Gemeinwohls gehen kann. Es führt keinen Schritt vorwärts, die anderen zu beschuldigen, dass sie nicht mitmachen.

21.03.2025 Multipolar oder multilateral?

In Berichten zur Weltpolitik ist das Adjektiv „multipolar“ seit Jahren in Mode gekommen. Damit wird das Ende der „bipolaren“ Blockkonfrontation des Kalten Krieges (Westen – Osten) ebenso abgelehnt wie der darauf folgende „unipolare“ Anspruch der „einzigen“ Weltmacht USA. Jetzt sei eine multipolare Welt angesagt, was als Fortschritt in Richtung einer demokratischen Ordnung des Globus verstanden wird.

Darin ist leider ein Missverständnis enthalten. Es lohnt sich deshalb, diesen Begriff etwas genauer zu betrachten. Der Völkerrechtsexperte Prof. Dr. Köchler hat in einem Vortrag über Sanktionspolitik einen Unterschied zwischen multipolar und multilateral erläutert. Er bezieht multipolar auf eine globale Machtstruktur, wo also mehrere Staaten in einer unterschiedlichen Machtkonstellation zueinander stehen, während er multilateral auf die Methode der Machtausübung bezieht, wo die Staatengemeinschaft im Rahmen der UNO z.B. eine Zwangsgewalt durch Sanktionen ausübt.

Man könnte die begriffliche Unterscheidung noch allgemeiner fassen: Der erste Begriff bezeichnet „viele Pole“, der zweite „viele Seiten“. Bezieht man diese Begriffe auf die Staaten dieser Welt, so ist in dem polaren Begriff eine Hierarchie enthalten, die in dem lateralen Begriff nicht enthalten ist. Mit den Polen sind Großmächte gemeint, die einen mehr oder weniger abhängigen Kreis von minder mächtigen Staaten um sich haben. Solche Pole sind heute z.B. die USA, China, Russland, demnächst vielleicht Indien, Brasilien, arabische Königreiche, Nigeria… wer weiß. In einer multilateralen Welt wird dagegen die Gleichrangigkeit betont; man hat seine Partner zur Seite, also gleichermaßen souverän. Hier wird die horizontale Richtung betont, während im polaren Begriff eine Vertikalität enthalten ist.

Die Realität entspricht natürlich dem polaren Bild; es gibt wirtschaftlich, politisch, militärisch sehr unterschiedlich starke Staaten, sodass nicht gleichrangige Abhängigkeiten bestehen. Das laterale Bild beschreibt dagegen eine Art Utopie, die auch in dem unmittelbar auf politischer Gleichheit und Souveränität beruhenden Völkerrechtsgedanken enthalten ist. Das sollte selbstverständlich unser aller Leitbild sein. Diese Begriffsunterscheidung ist keine sophistische Haarspalterei, sondern sie prägt täglich unsere Bewertung der Ereignisse. Akzeptiert man „realpolitisch“ die multipolare Welt, so ist kaum etwas dagegen einzuwenden, wenn z.B. die USA die Politik in anderen Ländern prägt, z.B. durch Maßnahmen zur Konsolidierung von deren wirtschaftlicher Abhängigkeit. Das betrifft konkret den NATO-orientierten Teil Europas, lange Zeit beide amerikanische Kontinente (Monroe-Doktrin), neuerdings verstärkt Mexiko und Kanada… Ebenso ist in dieser Sichtweise auch kaum etwas dagegen einzuwenden, wenn z.B. Russland darauf besteht, dass sein Nachbar Ukraine zu seinem wirtschaftlichen und politischen Einflussgebiet gehören muss, was notfalls mit Krieg als Mittel der Politik durchgesetzt wird. Man kann diese Sichtweise auch auf chinesische Projekte beziehen, die wirtschaftliche Entwicklungen inkl. Landbesitzungen in Eurasien und Afrika vorantreiben (Belt & Road), natürlich unter chinesischer Führung und mit Verschuldungsabhängigkeiten in den betroffenen Ländern. All das korrespondiert ziemlich widerspruchsfrei mit einer multipolaren Weltordnung. Man mag es als Fortschritt gegenüber einer uni- oder bi-polaren Ordnung empfinden.

Wer es allerdings mit demokratischen Strukturen auch international ernst meint, sollte die genannten Beispiele einmal unter dem multilateralen, also genossenschaftlichen Gedanken bewerten, auch wenn dem etwas Utopisches innewohnt. Wenn man z. B. – völlig zu Recht! – für eine konsequentere Souveränität der europäischen Staaten gegenüber den USA eintritt, muss man diesen Maßstab auch an die Aktivitäten aller übrigen „Pole“ anlegen. Umgekehrt: wer Verständnis für den polaren Anspruch des Kreml auf die Ukraine oder andere russische Nachbarstaaten äußert, hat schlechte Argumente gegen die eigenen polaren Abhängigkeiten. Oder nochmal umgekehrt: wer auf einer Führungsrolle z.B. der USA gegenüber den europäischen Partnern besteht, hat schlechte Argumente gegen den Führungsanspruch Moskaus gegenüber Kiew. Ein Unterschied ist hier allerdings, dass der letztgenannte Anspruch sich mit einem jahrelangen mörderischen und völkerrechtswidrigen Krieg durchsetzen will.

27.02.2025 Für ein besseres Bundestags-Wahlsystem

Die Bundestagswahl vom 23.02.25 hat nach dem von der abgewählten Regierung reformierten Wahlsystem stattgefunden. Eines der schlechten Ergebnisse besteht darin, dass 23 direkt gewählte Abgeordnete keine Abgeordneten werden können. Daher erinnere ich noch einmal an meinen Vorschlag für eine besseres Wahlrecht, das bereits unter dem Button Demokratie im Detail vorgestellt wurde.

Dass die Abgeordneten in einer allgemeinen, unmittelbaren, freien und gleichen Wahl (§ 38 GG) gewählt werden, war diesmal nicht der Fall: 23 Wahlkreise haben keinen „unmittelbar“ gewählten Abgeordneten, sondern sind nur mittelbar über eine Partei vertreten. Sie sind gegenüber den anderen Wahlkreisen damit nicht „gleich“ gestellt. Die Wähler hatten keine „freie“ Entscheidung darüber, ob sie einen direkt gewählten Abgeordneten haben oder nur mittelbar vertreten sind, denn das war von übergeordneten Ergebnissen anderer Wahlkreise abhängig. Das Grundgesetz bevorzugt den persönlichen unmittelbaren Abgeordneten, nicht die Partei.

Warum kann die Bundestagswahl nicht eine BUNDEStagswahl sein – ohne Landeslisten der Parteien, nur mit Partei-Bundeslisten und Einzelbewerbern? Das würde dem Föderalismus keineswegs widersprechen. Denn die Landesinteressen sind in den Landesparlamenten und im BundesRAT vertreten. Die Bundestagsabgeordneten haben schließlich sowieso nur das ganze Volk zu vertreten, sind an Aufträge und Weisungen (vom Bundesland, von der Partei, der Fraktion) nicht gebunden, sondern nur ihrem Gewissen unterworfen (Art. 38 GG). Ja, die Parteien müssten sich dann über eine (1) bundesweite Liste einigen oder könnten Bündnisse eingehen, z.B. auch CDU und CSU. Aber das kann bei einer BUNDEStagswahl nicht zu viel verlangt sein.

Mit diesem Ansatz würden viel weniger Ausgleichsmandate erforderlich werden, wenn man die Zweitstimme bundesweit als Basis für Ausgleichsmandate nimmt.

                                                                                                                   2025 wäre folgendes Ergebnis entstanden:

ParteiZweitstimmen 2025 in %
real
Direktmandate 2025
real
% Anteil der Direkt-mandate 2025
real
Ausgleich von Bundeslisten
Vorschlag
Ausgleich gemäß
Vorschlag   
Ergebnis gemäß Vorschlag
CDU/ CSU28,5219063,60= 19033,10
AfD20,804615,4+ 93= 13924,21
SPD16,414515,0+ 64= 10918,99
Grüne11,61124,0+ 65=   7713,41
Linke8,7762,0+ 53=   5910,28
SSW0,1500+   1=     100,01
BSW4,970000verteilt
FDP4,330000auf die
sonstige4,440000anderen
Summe100299100+ 276= 575100

Es gäbe wie bisher 299 Wahlkreise und ebenso viele direkt gewählte Abgeordnete. Es gäbe bei Einhaltung des Parteienproporzes und des Grundgesetzes 2025 nur 575 Abgeordnete.

P.S.: Unabhängig davon könnte die 5 % Klausel auf 3 % gesenkt werden, damit nicht ca. 5,5 Millionen Stimmen verloren gehen, wie das 2025 geschehen ist. Die Abgeordnetenzahl könnte dann zwar wieder steigen, aber der Wille des Grundgesetzes (§ 38) wäre wesentlich angemessener realisiert.

24.02.2025 Wer soll das bezahlen?

Hohe Staatsverschuldung, Schuldenbremse, Abschaffen unnötiger öffentlicher Ausgaben, bürokratische Entschlackung – das Thema Geldknappheit des Staates angesichts wachsender (?) Aufgaben ist ein Dauerbrenner. Zweifellos gibt es ausreichend Gelegenheiten, auch eine unter staatlicher Obhut stattfindende Geldverschwendung zu zügeln; das ist aber nicht das Thema dieses Zwischenrufes. Sondern hier wird ein Vorschlag noch einmal in Erinnerung gerufen, wie der Staat unbürokratisch und gerecht seine Einnahmen stabilisieren oder sogar erhöhen kann. Womit nicht gesagt sein soll, dass auf der Ausgabenseite nicht ebenfalls Hausaufgaben zu erledigen wären. Gemeint ist die Microsteuer, die in der Schweiz vor wenigen Jahren leider erfolglos zu einer Volksabstimmungsinitiative geführt hat. In anderer Form war der Gedanke vor Jahrzehnten schon einmal als Transaktionssteuer auch in Deutschland im Gespräch.

Microsteuer meint, dass auf jeden Vorgang, bei dem Geld bewegt wird, automatisch eine Steuer erhoben und abgebucht wird, zum Beispiel 0,1 Promille, also bei einer Bewegung von 100 €: 1 Cent. Das gilt sowohl für Transaktionen zwischen den Banken als auch bei „normalen“ Überweisungen und ebenso, wenn ich Bargeld am Automaten abhebe. Es ist gewiss kein Problem, Software so zu programmieren, dass bei jedem Zahlungsvorgang, bei jeder Kontobewegung ein geringer Promillesatz einbehalten wird. Das einbehaltene Geld wird auf ein staatliches Treuhandkonto gebucht und dem Fiskus zugeführt. Je nach Ausgestaltung im Detail kann das der Gemeinde /dem Landkreis, dem Land, dem Bund zukommen. Ein Bruchteil davon wird als Bankbearbeitungsgebühr verbucht. Dieses System tritt ohne Ansehen der Person in Kraft, wenn ich mir zum Beispiel 100 € Bargeld am Automaten hole, und ebenso wenn jemand (nicht ich!) 100 Millionen € dreimal täglich von Luxembourg nach Delaware und von dort nach Düsseldorf oder Lüdenscheid und wieder zurück transferiert. Bei einem einzelnen Transfer fallen dann bereits 10.000 € an, bei mehreren Transfers das Mehrfache. Diese Steuereinnahme erfordert nicht einmal unzählige Finanzbeamte, sondern nur einen vergleichsweise geringen Aufwand an Software-Entwicklung und -Pflege.

Das Bestechende an dieser Idee ist die Tatsache, dass es keine Möglichkeit zur Steuerhinterziehung gibt. Es werden auch große Geldbewegungen erfasst, die heutzutage in manchen Kreisen üblich sind, obwohl es sich dabei oft nur um fiktive Buchungen handelt, hinter denen keine realen Wertbewegungen stattfinden. Über automatische Abbuchungen würden dann auch dort Steuern eingetrieben – und zwar hohe Beträge für den Fiskus, obwohl es nur minimale Beträge für die nominellen Buchungen sind. Mit anderen Worten: es würden Geldquellen für den Staat erschlossen werden, die es bisher zum Teil nicht gab oder die zum Teil umgangen wurden.

Natürlich können damit nicht alle Steuern ersetzt werden, denn verschiedene Steuereinnahmen gehören in verschiedene öffentliche Töpfe und das ist auch gut so. Bei dem Schweizer Vorschlag sollte damit die Bundessteuer und die (dem Bund zustehende) Mehrwertsteuer ersetzt werden. Nach überschlägigen Berechnungen wären dort bereits bei einem Micro-Steuersatz von nur 0,05 Promille also 1 Cent von 200 € die bisherigen Einnahmen durch Bundes- und Mehrwertsteuer übertroffen worden.

Es bleibt der natürlichen Intelligenz von Fachleuten überlassen, welche Steuerarten durch dieses System ersetzt werden könnten, sei es die Mehrwertsteuer, seien es andere Verbrauchs- oder Gewerbesteuern – letztlich kommt alles in Frage, was mit Geldbewegungen verbunden ist, bis hin zur Erbschaftssteuer. Finanz- und Justizbeamte wären umfassend entlastet und Steuerhinterziehungen massiv erschwert.

Natürlich wäre es im Hinblick auf zu befürchtende Steuerflucht sehr hilfreich, wenn ein solches System international eingeführt werden könnte. Da hätte zum Beispiel die Europäische Union einmal etwas Sinnvolles zu tun.

15.02.2025 Wozu sind demokratische Institutionen gut?

Diese Frage wird leider kaum gestellt, während man gleichzeitig auf allen Seiten „die Demokratie“ in Gefahr sieht, damit meist aber nichts anderes als das Erstarken politischer Gegner meint. Ist „die Demokratie“ wirklich in Gefahr? Hat jemand unsere Institutionen, die Gewaltenteilung abgeschafft? (Die Souveränitätsabgabe nach Brüssel wird hier nicht thematisiert; das geschieht an anderen Stellen dieser Website ausführlich.) Erinnern wir uns: Wir haben eine Legislative, das demokratisch gewählte Parlament, das Gesetze verabschiedet. Wir haben eine von diesem Parlament gewählte Regierung, sowie Verwaltung, Polizei, die die Gesetze umsetzen. Wir haben Gerichte, deren Richter unabhängig urteilen – oder haben wir das alles nicht?

Soweit die Theorie. Natürlich gibt es viele, die verschiedene Entscheidungen lieber anders entschieden gesehen hätte. Natürlich gibt es Lobbygruppen, die Entscheidungen in ihrem Sinn beeinflussen. Aber was folgt aus diesen Tatsachen? Die demokratische „Hardware“, die Institutionen, sind weiterhin vorhanden. Und die demokratische „Software“, die handelnden Personen – das sind wir selbst. Wir sind aufgefordert, unsere Hardware besser zu nutzen.

Schaut man sich um, zum Beispiel in der ältesten modernen Demokratie, dann kommen einem schon eher Zweifel auch an der „Hardware“. Man sieht einen mit erheblichen Machtmitteln ausgestatteten vorbestraften Präsidenten, der diese Machtmittel nicht nur über Gebühr ausnutzt, sondern dabei von einer Legislative kaum kontrolliert werden kann und auch von Gerichten kaum zu stoppen ist. Er gestaltet mit Erlassen und Verfügungen und Begnadigungen und provokanten Ankündigungen „sein“ Land rücksichtslos nach den Vorstellungen einer Minderheit um, stellt unliebsame politische Meinungsträger ins Abseits und greift rücksichtslos auch in die Umgestaltung anderer Länder ein, erlaubt sich sogar Kritik an mangelnder Meinungsfreiheit in anderen Ländern, als müsste der Bock den Gärtner belehren – mit einer Legitimation, die aus nichts anderem als finanzieller, militärischer und publizistischer Macht besteht. Diese drei sind allerdings keine Gewaltenteilung, sondern eine Gewaltenkonzentration. Die Kettensäge des argentinischen Präsidenten erscheint daneben geradezu als Kinderspielzeug.

Ja, er ist gewählt worden – von einem knappen Drittel der Wahlberechtigten. Das lohnt einen Blick auf das Wahlsystem, denn es ist ein Unterschied, ob die verschiedenen Bürgerwillen auf der politischen Ebene irgendwie vertreten sind oder ob sogar große Minderheiten, bzw. sogar Mehrheiten der Wahlberechtigten, nichts (mit) zu entscheiden haben. Denn es geht in der Demokratie ja nicht darum, dass ein (1) fiktiver „Bürgerwille“ auf der politischen Ebene zum Tragen käme; den gibt es nicht. Es darf nicht eine relative Mehrheit eine Zeitlang machen, was sie will; sondern es geht darum, dass die verschiedenen Bürgerwillen austariert werden, Der gern zitierte Gegensatz von denen da oben und denen da unten ist übrigens ein ebenso eingängiges wie falsches Bild. Beide Seiten haben keinen einheitlichen Willen, die da oben nicht und die da unten auch nicht. Man vergisst leicht, dass noch nahezu alle politischen Führungen, selbst Diktatoren, eine oft nicht geringe Anzahl von Anhängern hatten. Damit sollen nicht Diktatoren legitimiert, sondern an das Wesen der Demokratie erinnert werden: Wo bleibt der Wille von Minderheiten, die in ihrer Summe nicht selten sogar eine Mehrheit gegenüber gewählten Regierenden bilden?

Eine gute Antwort ist die Gewaltenteilung, die oben als „Theorie“ bezeichnet wurde. Erste Frage: ist diese Theorie falsch? Antwort. Nein. Nächste Frage also: wie kann diese Theorie nachhaltig Praxis werden? Erste Antwort: indem angemessene Strukturen für die verschiedenen Entscheidungskompetenzen institutionalisiert sind und bleiben. Hier gibt es verschiedene mehr oder weniger gute Modelle; der Button Demokratie im Detail _ Demokratische Vielfalt gibt dazu einen genaueren Überblick. Allen historisch gewachsenen „Modellen“ gemeinsam ist allerdings, dass sich auf den höheren Ebenen der Politik in der Regel Menschen befinden, die das politische Geschäft zu ihrem Beruf gemacht haben und mehr oder weniger intensiv in einer Welt leben, die von der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen in der Gesellschaft oft weiter entfernt ist als von den Konkurrenten auf der politischen Bühne. Das ist in einer komplexen und global vernetzten Welt wohl unvermeidbar, auch wenn einzelne Politiker gewiss über unterschiedliche individuelle Qualitäten verfügen.

Das leitet über zur zweiten Antwort: gute Institutionen sind eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung; sie nützen nichts, wenn die Bürger sie nicht aktiv nutzen und die dort Handelnden kontrollieren. Das ist einfacher, wenn gute Handlungsmöglichkeiten für direkte Bürgeraktivitäten institutionalisiert sind. Ich wiederhole: institutionalisiert sind. Ein gutes Vorbild ist die Schweizer Eidgenossenschaft, ein etwas schwächeres das dänische Königreich und, ja, auch die deutsche Republik, jede mit eigenen Traditionen und natürlich mit Optimierungsmöglichkeiten – während die Präsidialdemokratien wie in USA oder Frankreich diesbezüglich weniger gut ausgestattet sind. Sie fallen deshalb eher mit großen oder häufigen Demonstrationen oder gelegentlichen Streiks auf, die auf den politischen Entscheidungsebenen aber eher wenig bewirken. Bei aller Kritik, die zur Zeit auch in Deutschland an unserer Demokratie und den dort aktiven Kräften gern geübt wird, bleibt es wahr, dass es hier eine größere politische Vielfalt bis hinein in die Entscheidungseben gibt als z.B. in den genannten Präsidialdemokratien.

Wahr bleibt allerdings auch, dass die verschiedenen politischen Kräfte und Bewegungen eine gewisse Tendenz zur Konvergenz aufweisen, je näher sie in die politischen Entscheidungszentren vordringen. Konkrete Beispiele müssen dem politisch interessierten Leser nicht ausgebreitet werden. Etwas überspitzt könnte man sagen, dass die politischen Machtzentren eine Ähnlichkeit mit schwarzen Löchern haben, in denen alle Unterschiede verschwinden. Der Vergleich hinkt nur insofern als dass die verschiedenen Akteure weiterhin in der Lage sind, verschiedenfarbige Fahnen für ihr jeweiliges Publikum zu schwenken – und damit Gegensätze verschärfen, die so oft kaum existieren. Manchmal erscheint dann aber doch ein anderer Wille als konkurrierendes Schwarzes Loch, der sich aus mehr oder weniger großen Minderheiten derer da oben UND derer da unten rekrutiert. Andere Minderheiten da oben haben dann kein Problem, das politische Lager zu wechseln, wenn die da unten mal anders gestimmt sind – Hauptsache, sie behalten Zugang zu den Entscheidungsträgern. Das ist es, was wir gerade in USA erleben.

Ein rascher Trugschluss wäre es aber, deshalb die politische Ebene und ihre Institutionen geringzuschätzen, so als könnten die Bürger besser darauf verzichten. Dieser naive Anarchismus würde nichts anderes zur Folge haben als ein ungebremstes „Recht“ des Stärkeren. Denn demokratische Institutionen inkl. Gewaltenteilung sind der Schutz der Schwächeren, um ihre Interessen friedlich zur Geltung bringen zu können – was sie dann aber auch tun müssen! Demokratie macht viel Arbeit – so lautet der Appell an die „Schwächeren“. Sie sind es vor allem, die sich der Institutionen bedienen und sie ggf. verbessern müssen. Sonst tun es die anderen, denen es meist leichter fällt.

Die verschiedenen Formen der real existierenden Demokratien zeigen einigermaßen anschaulich beides: dass bürgeroffenere politische Strukturen tendenziell mit besseren Lebensverhältnissen einhergehen; und dass diese Aussage desto eher zutrifft je aktiver und gebildeter die Bürger sind und diese Institutionen auch nutzen. Mehr oder weniger aggressive Demonstrationen für oder gegen bestimmte politische Ziele sind zwar einfacher, sie sind zweifellos erlaubt und oft begleitend notwendig, aber allein kaum nachhaltig. Dafür braucht es demokratische Institutionen und ihre Nutzung. Nicht umsonst hat in den 1960er Jahren ein außerparlamentarischer Oppositioneller den „Langen Marsch durch die Institutionen“ proklamiert. Manche seiner direkten und vor allem seiner späteren Anhänger, die das ernst genommen haben, sind seitdem erfolgreicher geworden als irgendjemand das damals geglaubt hat. Leider hat aber auch das Schwarze Loch seine magnetische Wirkung dabei gezeigt.

26.01.2025 Gesinnung demonstrieren? – Demokratie praktizieren!

Die Demokratie ist in Gefahr, so hört man von allen Seiten. Zigtausende demonstrieren „gegen rechts“ und errichten mehr oder weniger hohe Brandmauern dagegen. Gemeint sind hierzulande die AfD und anderswo die Trumps, Krickls, Orbans, Le Pens, Melonis & Co., also diejenigen, die auf nationaler Souveränität bestehen und dafür ggf. ihre Grenzen kontrollieren und Missbrauch vermeiden/ begrenzen wollen. Man darf darin drohende Gefahren sehen und „den Anfängen wehren“ wollen, sollte aber nicht vergessen, dass dahinter große Zahlen von Wählern, bzw. demokratische Legitimationen zum Regieren stehen, die man ernst nehmen muss. Zugegeben: die US-Demokratie zeigt ihre Schwächen gerade sehr deutlich. Ein vorbestrafter Präsident wurde mit ungleichen Wahlsystemen von einem Drittel der Bürger gewählt, kann per Dekreten die Legislative übergehen, die ihn sowieso kaum kontrolliert, per Begnadigungen in die Judikative eingreifen und selbst einen Verfassungsbruch propagieren. Siehe auch – Button Demokratie im Detail – Demokratische Vielfalt – USA.

Es gibt unter diesen Wählern unbelehrbare Rassisten, dennoch sind sachliche Argumente statt Demonstrations- und Kampfbereitschaft gefordert. Nicht weil man damit jeden überzeugen kann, sondern weil man nur so Demokratie am Leben erhält. Sind „demokratische“ Brandmauern gegen rechten Wählerwillen denn etwas Besseres als der von rechts geforderte souveräne Umgang mit den eigenen Landesgrenzen und den Bürgerrechten? Die einen wollen unerbetene Nicht-Staatsbürger aus Deutschland ausgrenzen, die anderen wollen unliebsame Staatsbürger von politischer Einflussnahme ausgrenzen. Ist das wirklich demokratischer? Das Demonstrationsrecht ist eine gute demokratische Errungenschaft – vor allem um den Bürgerwillen gegen schlechte Regierungen zu zeigen! Aber welchen Sinn hat es, wenn eine Bürgergruppe gegen eine andere ihre politische Haltung demonstriert? Will sie damit die anderen überzeugen? Wohl kaum. Will sie die Regierung auffordern, die anderen irgendwie zum Schweigen zu bringen? Hoffentlich nicht. Man zeigt seinen Mitbürgern so nur die „richtige“ Gesinnung, wozu man jedes demokratische Recht hat. Aber ein praktischer Sinn ist kaum erkennbar.

Solche Gesinnungs-Demonstrationen können sogar gefährlich sein, weil sie aus rivalisierenden politischen Lagern verfeindete politische Lager machen und Aktivisten gegeneinander in Stellung bringen, ohne dass eine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet. Wer bringt mehr Demonstranten auf die Straße oder Wähler an die Urne? So handelt, wer mit dem anderen nicht reden will. Das gilt für aggressive Rechtsradikale ebenso wie für aggressive Klimaschützer und Antifaschisten. Und wer den historisch hinkenden Vergleich mit 1933 bemüht, sollte sich daran erinnern, dass Hitler nicht zum Reichskanzler „gewählt“ worden ist, sondern auf Basis eines Drittels der Wählerstimmen von einem monarchistisch gesinnten Staatspräsidenten dazu ernannt wurde – nachdem „antifaschistische“ Kräfte sich vorher in öffentlichen Demonstrationen bis hin zu blutigen Straßenkämpfen mit ihren Gegnern und untereinander beinahe aufgerieben hatten.

Wir müssen aufpassen, dass wir innenpolitisch nicht denselben groben Unfug veranstalten, der außenpolitisch schon seit einiger Zeit wieder praktiziert wird: Krieg, der von den mit politischen Machthabern verbandelten wirtschaftlich Mächtigen geführt wird, begleitet von Verteufelungspropaganda der jeweiligen globalen Gegner. Für die einen sind die anderen die Achse des Bösen, für die anderen sind die einen die faschistischen Kapitalisten. Feindbilder sind unerlässlich, wenn man Krieg führen will. Denen, die global tatsächlich um echte Macht ihre Kriege führen, ist es übrigens – anders als den Gesinnungs-Demonstranten – ziemlich egal, ob man heute mal Verbündete hat, die man morgen zum bösen Gegner erklären muss oder umgekehrt. Den real und global kämpfenden Machthabern geht es kaum um die Gesinnungen, deretwegen die jeweiligen Demonstranten hier auf die Straße gehen.

Innenpolitisch orientieren sich viele der Gesinnungs-Demonstranten heute an der einen oder der anderen Seite der globalen Neu-Orientierung – „kapitalistischer Westen“ oder „globaler Süden“ – und projizieren deren Interessen auf veraltete politische Lager-Einteilungen und vermeintliche Loyalitäten. So finden zum Beispiel (auch und gerade) Linke hierzulande fast keine Kritik an dem Krieg des Kremls, weil da schließlich etwas gegen den US-Imperialismus geschieht, während der Kreml und seine Konsulate auch hierzulande gerne die als rechtsradikal Gebranntmarkten zu sich einladen und mit ihnen kooperieren. Gleichzeitig befeuern z.B. ehemalige Klimaschützer die militärische Aufrüstung inkl. Kriegsführung z.B. in der Ukraine – was CO2-Ausstöße verursacht, die von Windrädern und Solardächern in 500 Jahren nicht kompensiert werden können. Die Welt ist voller Widersprüche, sagte schon Mao Tse-tung. Links-rechts ist nur noch eine Kategorie für Denkfaule.

Eine gute Zukunft wird es nur geben, wenn möglichst viele sich der kriegerischen Zeitenwende nicht anschließen, weder innen- noch außenpolitisch. Wir müssen uns ernsthaft auf den Wert von Demokratie und Frieden besinnen: Sachliche Auseinandersetzung, auch wenn wir nicht jeden überzeugen können. Gewaltfreier Widerstand, auch wenn andere Gewalt ausüben. Nur mit solchen Botschaften UND Praktiken kommen wir „nachhaltig“ weiter. Auch wenn es viel Geduld braucht. Und Mut.

12.01.2025 Alternativen zum Krieg?

Kriege als Mittel der Politik hat es zwar immer gegeben, sie werden seit einiger Zeit aber wieder selbstverständlicher. Die Kriegsbereitschaft steigt nicht nur auf der Ebene der politischen Akteure, sondern leider auch auf der Ebene der sie wählenden Bürger. Dabei sind es nicht einmal die Nicht-Demokratien des globalen Ostens und Südens, die hier mit Aggressionskriegen voran geschritten sind, sondern diese schließen sich allmählich dem Vorbild des demokratischen Westens an, der seit der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts eine kriegerische „Zeitenwende“ eingeleitet hat. Während vorher kriegerische Aktionen oft ohne größere Öffentlichkeit stattfanden oder sogar zu größeren öffentlichen Protesten führten (Vietnam), werden inzwischen die aufeinanderfolgenden Kriege und Waffenlieferungen in Kriegsgebiete auf westlicher Seite zur Normalität und finden eine mehr oder weniger breite Zustimmung. Das ist eine neue Qualität.

Hier geht es nun nicht um einen weiteren empörten Ruf, sei es zum Beispiel in Richtung Ukraine und ihren Waffenbrüdern (also auch uns), sei es in Richtung Kreml und seinen praktischen und propagandistischen Unterstützern – so berechtigt diese und andere Rufe sein mögen. Sondern man muss sich angesichts der zunehmenden „Normalität“ ernsthaft die Frage stellen: ist Krieg alternativlos? Sind die Kriege, die wir aktuell erleben, wirklich Notwehr-Verteidigungskriege? – was bekanntlich jede Seite für sich mit mehr oder weniger schlechten Argumenten beansprucht, sodass mindestens eine Seite nicht recht haben kann.

Bleiben wir bei dem Beispiel Ukraine: Ja, Staaten, die einst zum Sowjet-Imperium gehörten, haben sich von Russland ab- und dem Westen zugewandt, sodass Russland sich bedroht fühlen mochte – aber es stand kein Angriff von diesen oder anderen Staaten gegen Russland auf der Tagesordnung. Die Ukraine ist auch nicht, entgegen anderslautenden Gerüchten, vor 2022 massiv aufgerüstet worden. Und ja, Russland führt in der Ukraine einen Angriffskrieg – aber die Unterdrückung des Russischen in der Ostukraine, die Verweigerung vertraglich vereinbarter Autonomie-Abstimmungen, also der Anlass zum bewaffneten Separatismus, war völlig unnötig und problemlos vermeidbar.

Die Argumente beider Seiten sind schwach, sofern man ihnen denn Friedenswillen unterstellen will. Und noch schwächer, wenn man das Leben von Menschen als Kriterium nimmt: Es gibt nach drei Jahren Krieg mehrere Hunderttausend Tote, Verwundete, zerstörte Städte. Was wäre passiert, wenn keine Seite sich zu Waffengängen entschlossen hätte? Die übliche Antwort lautet in solchen Fällen: dann hätte es große Unfreiheit und Ungerechtigkeit gegeben. Mag sein. Unterdrückungen der einen oder der anderen Bevölkerungsgruppe aus ethnischen, sozialen, religiösen, nationalistischen Gründen sind leider nichts Besonderes in der Weltgeschichte. Aber es gäbe sicher nicht das Ausmaß an Tod und Zerstörung, welches nun Realität ist. Und das immer nur dann entsteht, wenn eine mehr oder weniger große Minderheit aus einer unterdrückten Gruppe ruft: lieber tot als rot! Patria o muerte! und so weiter – Schlachtrufe dieser Art durchziehen die Menschheitsgeschichte. Im Beispiel waren es abtrünnige ukrainische Militäreinheiten, die mit russischer Rückendeckung den Kampf begonnen haben. Was ist aber in solchen Fällen mit der Freiheit und Gerechtigkeit derjenigen, die diese Schlachtrufe mit ihrem Leben bezahlen, meist ohne gefragt worden zu sein?

Diese Frage muss uns angesichts von Leichenbergen und anderen Zerstörungen Verpflichtung sein, über Alternativen zum Krieg nachzudenken. Weiterführende Gedanken finden sich unter dem Button Genauer betrachtet. Kapitel: Gewaltfreier Widerstand und ziviler Ungehorsam.

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